Handbuch für die perfekte Kunst

Shopping Windows I, Künstlerportrait Harwood/Scotoma.org - Abfall_Worte Ihr Gewicht und ihre Häufigkeit in Londons städtischem Müll

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Londoner Künstler Graham Harwood erreichte internationale Beachtung erstmals mit "Rehearsal of Memory", eine Installation und CD-ROM, die in Zusammenarbeit mit Insaßen des Hochsicherheits-Krankenhauses Ashworth in Liverpool im Jahr 1995 produziert wurde. Die Arbeit zeigt exemplarisch Harwoods Stärken, die in den folgenden Jahren in verschiedenen Arbeiten zur Geltung kommen sollten: eine innige Kenntnis der digitalen Werkzeuge für Bildbearbeitung und Interaktionsdesign und die Fähigkeit, schwierige Themen, die von der Gesellschaft am liebsten in eine dunkle Ecke gestellt und vergessen würden, in den Blickpunkt zu rücken. Harwood zwingt das Publikum, sich vor seine eigenen Vorurteile gestellt zu sehen. Zwar zutiefst eingebettet in Computerkultur, gehen seine Arbeiten über deren Themen-Horizont stets hinaus.

Graham Harwood bei der Eröffnung von Harwood de Mongrel Tate"

In London geboren und aufgewachsen, lebt Graham Harwood mit Frau, Kind und Hund (englischer Terrier) in einem Reihenhaus in Süd-London. Im Gespräch pflegt Harwood gerne seinen irischen ebenso wie seinen Working Class Background hervorzuheben. Neben der künstlerischen Arbeit lässt es Harwood nicht an sozialem Engagement fehlen. Jahrelang unterrichtete er bei Artec, eine Nord-Londoner Institution zur Ausbildung von Computer-Fertigkeiten für Problemkinder aus benachteiligten Gesellschafts-Gruppen. Nach seinem Ausstieg bei Artec arbeitete Harwood in letzter Zeit vor allem mit der Gruppe Mongrel. Die sich in ihrer Selbstdarstellung als Street Art Kollektiv bezeichnende Gruppe arbeitete gezielt in Hochhaus-Trabantensiedlungen in London, Amsterdam und Frankreich mit sogenannten Problemkids an Workshops, die ihnen helfen sollen, ihr Interesse an kreativen Dingen zu entwickeln und Computerfertigkeiten zu gewinnen. Damit das Empowerment, d.h. die Schaffung eigener Werke nicht allzulange dauert, entwickelten Mongrel eine Software namens "Linker", mit der ihre Schüler schnell und einfach kleine interaktive Präsentationen in Bild und Ton herstellen können.

Als Einzelkünstler unter dem Namen Harwood (ohne Vorname) sowie dem Label Scotoma.org arbeitend, beschäftigt er sich gerne mit Steckenpferden klassischer Hochkultur. So kam kürzlich die altehrwürdige Tate Gallery in den Genuss eines Harwood De Mongrel Re-Designs ihrer Web-Site, die sich als Schatten-Site hinter der offiziellen Website öffnete und gleichzeitig auch so etwas wie eine Schatten-Geschichte der Tate Gallery erzählte. (siehe auch Netzkunst bei Tate Britain)

CD-ROM-Cover von "Rehearsal of Memory

Harwoods Beschäftigung mit Geschichte endet aber nicht in Ausstellungen und Büchern. Manchmal verwandelt er sich in die virtuelle Wiedergeburt von William Blake - das zu Lebzeiten wenig anerkannte Dichter- und Malergenie - und verunsichert Mailinglisten mit halluzinierenden Ausflügen in die Halbwelt von Kings Cross.

Ein weiteres Mailinglisten-Pseudonym Harwoods nennt sich Frau Dr. Debra Tafnus, die Leiterin des Instituts für Post Predictive Computing. Frau Tafnus diskutiert vor allem auf wissenschaftlichen Listen zu mathematischen Themen mit. Harwood nutzt solche Rollenspiele scheinbar, um seine Konzepte in die Wirklichkeit auszudehnen, die Theorie zu testen, bevor sie in einer anderen Praxis umgesetzt wird.

Im Gespräch präzisierte Harwood, was es mit diesem Institute for Post Predictive Computing auf sich hat. Die wichtigste Eigenschaft von Computern ist für Harwood ihre Fähigkeit, Images zu repräsentieren, wobei Images nicht "Bilder" sind, sondern jeweils ein "Bild, das wir uns von einer Sache gemacht haben". Dieses Image ist aber nicht statisch sondern algorithmisch definiert. Das "Institut" beschäftigt sich mit der Mathematik hinter diesen Algorithmen und der Künstler Harwood treibt letztere wiederum an ihre Grenzen. Angetrieben von der Frage nach der Quantifizierbarkeit des Lebens, soll das Durchspielen verschiedener Computerexperimente bewusst machen, wie sich abhängig vom Anwendungsfall unser Verständnis von Dingen verändern kann. Die selbe Mathematik, die uns im Alltag eine verlässliche Stütze ist, erscheint plötzlich wie alchemistisches Zauberwerk, wenn sie unerlaubte Beziehungen im sozialen Vorschriftsraum herstellt.

Bild aus "Waste_Words"

Ein Ergebnis der "Forschung" am Institut ist das "Manual for Perfect Art" (Handbuch für perfekte Kunst). Mit einem Schlag sind die Probleme der Kunst für immer gelöst, indem es nun möglich ist, in einem Referenztext nachzulesen, wie man diese herstellt und woran man sie bewerten kann. Auf der Basis einer von Harwood entwickelten Gleichung kann ein numerischer Wert für den Erfolg bzw. den künstlerischen Wert eines Kunstwerks berechnet werden. Der Grad der "Perfektion" eines Kunstwerks ist u.a. davon, abhängig, wie viele CPU Clock Cycles es für "völlig nutzlose" Computervorgänge verbraucht.

Das im Rahmen von "Shopping Windows I" präsentierte "Waste_Words" ist nun die erste öffentlich sichtbare Anwendung der Theorie vom perfekten Kunstwerk mit einer praktischen Arbeit. Diese ist gemäß den Forderungen im "Handbuch" in der Tat sehr aufwendig und völlig zwecklos.

Ein Abfalleimer wurde am 8.Februar 2001 um 8 Uhr morgens ausgeleert (dem 414. Jahrestag der Köpfung von Maria, Königin von Schottland). 24 Stunden später wurden alle übrig gebliebenen Gegenstände aus diesem Abfalleimer eingesammelt. Jeder Gegenstand wurde gewogen und fotografiert. Alle Worte, die sich auf all den gesammelten Objekten befanden, wurden transskribiert. Aus dieser Ansammlung von Information wurden die Häufigkeit und das Gewicht der Worte ermittelt, die jeden Tag in London weggeworfen werden.

Aus einer Anti- und Verweigerungshaltung gegenüber der Kunst mit großem K ebenso wie gegenüber dem politisch wirtschaftlichem Mainstream hat sich Harwood von den politischen Messages verabschiedet. Doch gerade die vordergründige "Sinnlosigkeit" seines Unterfangens macht es zu einer perfekten Projektionsfläche für Interpretationen und Assoziationen. Davon abgesehen sind die Scans der eingesammelten Objekte einfach schön anzusehen und die auf ihnen abgedruckten Worte erzählen eine Geschichte aus dem Paralleluniversum des Mülls und der Zahlen.

Links: Startseite Netzkunstausstellung "Shopping Windows" Index-Seite Harwood/Scotoma.org "Waste_Words" Manual for Perfect Art