Hartz IV für Anfänger

Kommentar: Die Reformvorschläge der SPD gehen an der Lebensrealität vorbei

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SPD, FDP, Grüne und Linke wollen das Sozialsystem reformieren; die CDU findet indes, dass vor allem Eigenverantwortung gefragt ist. Dabei fällt immer wieder auf, dass diese Überlegungen weit an der Lebensrealität vorbei gehen.

Die Zahl der Sozialleistungen ist groß; die Zahl der Bundes- und Landesministerien, die dafür zuständig sind, ist ebenso riesig. Die wichtigsten Leistungen sind: Kindergeld, Wohngeld, Krankengeld, Bafög Arbeitslosengeld I, Arbeitslosengeld II, volle/halbe Erwerbsminderungsrente, Sozialgeld und Sozialhilfe, Rente, Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.

Die Leistungen

Kurz erklärt: Das Kindergeld wird wohl wie auch das Krankengeld jeder kennen, das Wohngeld sollte jeder kennen - es ist eine staatliche Leistung die man bis zu einer bestimmten Einkommenshöhe als Zuschuss zur Miete erhält; ob ein Anspruch besteht, hängt vor allem davon ab, wo man wohnt, denn jede Kommune ist einer Mietstufe zugeordnet - je nach Mietstufe kann bei gleichem Einkommen ein Wohngeldanspruch bestehen oder auch nicht.

ALG II, Sozialgeld, Sozialhilfe und Grundsicherung haben indes das Ziel, in bestimmten Lebenslagen das Existenzminimum abzudecken: Das ALG II ist für Erwerbsfähige da; das Sozialgeld erhalten Personen, die nicht erwerbsfähig sind, also beispielsweise Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren; als erwerbsfähig gilt man, wenn man mehr als drei Stunden am Tag arbeiten kann.

Grundsicherung bekommt, wer das Rentenalter erreicht hat oder dauerhaft erwerbsgemindert ist, und die Sozialhilfe soll dann einspringen, wenn keine andere der vorgenannten Leistungen in Frage kommt. Der Höhe nach sind die Leistungen ähnlich; Unterschiede gibt es bei den Zuständigkeiten, den Antragsverfahren, den Mitwirkungspflichten der Leistungsbezieher und auch bei der Einkommensanrechnung.

Das Wohngeld darf nicht mit den Kosten der Unterkunft (KdU) beim ALG II, dem Sozialgeld, der Sozialhilfe oder der Grundsicherung verwechselt werden: Das Wohngeld ist ein Zuschuss zur Miete, der nie die volle Mietbelastung erreicht. Im ALG II soll hingegen der gesamte sogenannte "persönliche Bedarf" abgedeckt werden.

Man kann auch nicht gleichzeitig Wohngeld und eine andere dieser Leistungen beziehen: Werden Kosten der Unterkunft ganz oder teilweise von den sogenannten Sozialleistungsträgern übernommen, ist man vom Wohngeld ausgeschlossen.

Der geregelte Gang - früher

Aufgebaut wurden diese Leistungen in einer Zeit, in der Menschen geboren wurden, zur Schule gingen, eine Ausbildung absolvierten/studierten, eine Wohnung fanden, einen Arbeitsplatz fanden, das Leben also einen irgendwie geregelten Gang nahm.

Die staatlichen Leistungen sollten bestimmte Ziele erreichen oder ein Stolpern verhindern, wenn der Trott aus dem Tritt geriet: Das Kindergeld sollte Menschen dazu bringen, Familien zu gründen; das Bafög sollte dafür sorgen, dass auch Menschen mit geringen Einkommen studieren oder eine Ausbildung absolvieren können. Und das Wohngeld sollte jenen, die dann wenig verdienten, dabei helfen, die Wohnkosten bezahlbar zu halten.

Und wer dann krank wurde, der sollte Krankengeld erhalten, für bis zu 78 Wochen, und dann eine volle oder halbe Erwerbsminderungsrente erhalten, und bis in die Nuller-Jahre hinein gab es auch noch die gesetzliche Berufsunfähigkeitsrente. Diejenigen unter den Arbeitslosen oder Arbeitsunfähigen, bei denen das nicht der Fall ist, sollten Sozialhilfe erhalten, und dann später in die Grundsicherung im Alter rutschen.

Ob das funktionierte oder nicht, ist eine Frage, die die historisch veranlagten unter den Politikern je nach Parteibuch völlig unterschiedlich beantworten.

Jetzt: Ein extrem kompliziertes System

Sicher ist jedoch, dass das Sozialsystem, so wie es ist, heute nicht mehr funktioniert: Die Vielzahl der zuständigen Träger, der Bundes- und Landesministerien lässt leicht vergessen, dass es sich um extrem kompliziertes System handelt, das kaum noch jemand durchschaut: So mancher lebt von viel zu wenig Geld, weil ihm gar nicht bewusst ist, dass Ansprüche bestehen.

Es ist aber auch ein System, dass in seiner derzeitigen Form Fragen aufwirft. Ein Beispiel: Vor einigen Jahren wurde die gesetzliche Berufsunfähigkeitsrente abgeschafft; stattdessen sollten sich die Menschen privat absichern. Seitdem wandern Scharen von Versicherungsvertretern durchs Land und verkaufen Berufsunfähigkeitsversicherungen, für ziemlich viel Geld; für das es im Ernstfall dann vielleicht 1.000 oder 1.500 Euro an Berufsunfähigkeitsrente gibt, von der Sozialversicherungsabgaben und unter Umständen auch Steuern abgehen.

Je nach persönlicher Situation entspricht in diesen Fällen die zu erwartende Rente ungefähr dem, was an staatlichen Leistungen zu erwarten wäre; unter Umständen erhält man auch einen bestimmten Betrag an Sozialleistungen zusätzlich zur BU-Rente.

Einmal abgesehen davon dass sich ein Großteil der Bevölkerung ohnehin die üppigen Preise, die für diese Versicherungen aufgerufen werden, nicht leisten kann, denn wo soll man, je nach Beruf 100, vielleicht auch 200 Euro im Monat hernehmen, zumal man auch noch für die Rente und für den Pflegefall vorsorgen soll; wie gesagt: Einmal abgesehen von der Finanzierbarkeit stellt sich die Frage, ob es in Ordnung ist, dass Menschen sich stattdessen dafür entscheiden, im Ernstfall eben den Weg ins Sozialsystem anzutreten, wenn die zu erwartenden Leistungen gleich hoch sind, mit dem Unterschied, dass die Versicherung viel Geld kostet.

Doch das ist nicht das einzige Problem.

Die Zeiten, in denen Kindergeld, Bafög und Wohngeld die Leistungen der Massen waren, ALG I und Krankengeld den Notfall abdeckten, und die Sozialhilfe nur für den absoluten Ernstfall da waren, sind längst vergangen.

Die enormen Mieten

Heute besteht eine Situation, in denen der Gedanke an das ALG II, an die Grundsicherung viel zu schnell aufkommt, und schuld daran sind nicht unbedingt allein schlecht bezahlte Jobs oder eine mangelnde Qualifizierung, sondern auch die enormen Mieten, die vielerorts verlangt werden. Selbst auf dem Papier gut Verdienende kann es sehr schnell treffen.

Beispiel: Eine Person, verheiratet, zwei Kinder, acht und zehn Jahre alt, wohnt mit Familie in München. Die Familie zahlt 1.350 Euro Kaltmiete einschließlich der kalten Nebenkosten, hinzu kommen 150 Euro Heizkosten. Das Bruttogehalt liegt bei 5.000 Euro; netto erhält die Person 3410,23 Euro ausgezahlt. Hinzu kommen 384 Euro Kindergeld. Das Einkommen der Familie liegt also insgesamt bei 3794,23 Euro.

Nun erkrankt die Person, und erhält nach sechs Wochen Lohnfortzahlung das gesetzliche Krankengeld. Ausgezahlt werden 2.698,50 Euro, mit Kindergeld beträgt das Familieneinkommen nun 3.082,50 Euro.

Wird die Person hingegen arbeitslos, beträgt das ALG I nur 2176,20 Euro. Zusammen mit dem Kindergeld hat die Familie 2560,20 Euro zur Verfügung. Und bereits hier besteht in München ein Wohngeldanspruch von 34 Euro, während das in Duisburg beispielsweise nicht der Fall wäre.

Der persönliche sozialrechtliche Bedarf, also das, was in München für die Bemessung des ALG II heran gezogen wird, liegt bei 1.318 Euro für den Lebensunterhalt zuzüglich der Kosten der Unterkunft: In den ersten sechs Monaten werden sie in voller Höhe anerkannt, danach nur noch in Höhe dessen, was für die Kommune als Höchstsatz der angemessenen KdU festgesetzt worden ist. In München sind das bei einer vierköpfigen Familie 1172 Euro zuzüglich der Heizkosten.

Der Bedarf der Familie liegt also in den ersten sechs Monaten bei 2.818 Euro; danach werden 2.640 Euro als Bedarf anerkannt. Da Krankengeld und Kindergeld, wie übrigens auch ALG I, voll auf die Leistungen angerechnet wird, würden also sechs Monate lang 257,80 Euro ausgezahlt; danach würden die Leistungen auf 79,80 Euro im Monat abgesenkt.

Nun ist es natürlich so, dass die Familie in diesem Beispiel immer noch wenigstens eine gewisse finanzielle Luft hat, auch wenn sie recht dünn geworden ist, und man wahrscheinlich auch eine Reihe von Kredit- und Versicherungsverträgen am Laufen hat.

Man sieht an diesem Beispiel aber auch: Selbst bei einem solchen Bruttoeinkommen ist es in einer solchen Stadt bereits völlig egal, ob das ALG I zwölf Monate oder zwölf Jahre lang gezahlt wird, denn die Familie hat, allein wegen der Miete, ein Einkommen unter Hartz IV-Niveau.

Noch sehr viel eindeutiger ist an Orten wie diesen die Lage derjenigen, die im Job weniger verdienen, gar Geringverdiener sind: In München hat ein Alleinstehender mit einem Nettogehalt von gut 1.500 Euro einen ALG II-Anspruch von um die 50 Euro, während die Leistung - das Wohngeld -, die eigentlich extra für solche Fälle gemacht wurde, verpufft: Es besteht kein Anspruch.

Man kann diese Rechenbeispiele so lange weiterführen, bis einer heult, und tatsächlich wird man auch Fälle finden, in denen Menschen von einer Verlängerung des Bezugszeitraumes im ALG I profitieren, doch in den allermeisten Fällen werden es nicht die Geringverdiener sein, denn unterhalb eines Bruttogehaltes von 2.000 Euro bewegt man sich beim ALG I in einem Bereich, in dem es schwer bis unmöglich wird, die laufenden Ausgaben zu begleichen.