Hartz IV für Anfänger: Politiker, die nackten Menschen in die Taschen greifen
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CDU und CSU fordern mehr Eigenverantwortung von Hartz IV-Empfängern. Die kostet aber so viel, dass sie für einen Großteil der Bevölkerung nicht bezahlbar ist
Es scheint eine einfache Forderung zu sein: Mehr Eigeninitiative, mehr Eigenverantwortung müssten die Menschen in diesem Lande an den Tag legen, heißt es von Politikern der CDU und CSU. Oft konzentriert sich die Debatte dabei auf das Arbeitslosengeld II (ALG II), das unter dem Namen Hartz IV - je nachdem, wo man politisch und finanziell steht - entweder zum Synonym für diejenigen geworden ist, die sich "im sozialen Netz ausruhen", oder zum Inbegriff der staatlichen Gängelung von Armen, die in der Fachsprache "Hilfebedürftige" genannt werden.
Die Rechnung scheint im Grunde ganz einfach: Man muss diese Hilfebedürftigen fördern und fordern, dann werden sie sich schon qualifizieren, auf Jobsuche begeben und am Ende mit Brieftaschen voller Geld das System verlassen.
Wer die Grundsicherung bekommt
An dieser Stelle bietet sich ein Blick in die "Analyse der Grundsicherung für Arbeitssuchende" an, die die Agentur für Arbeit monatlich veröffentlicht; die Zahlen werden nun möglichst knapp zusammengefasst: Im September 2018 bezogen 5,96 Millionen Menschen Hartz IV.
Davon waren in diesem Monat 4,06 Millionen sogenannte erwerbsfähige Leistungsberechtigte (ELB). Darunter versteht man all jene, die sich im erwerbsfähigen Alter befinden, und von der gesundheitlichen Verfassung her einer Tätigkeit von wirtschaftlichem Wert (umgangssprachlich: Job) von mehr als drei Stunden am Tag nachgehen könnten. Aber, bevor jetzt jemand aufschreit: "Hab‘ ich‘s doch gesagt", hier noch ein paar Zahlen mehr.
Von den genannten 4,06 Millionen galten im September 2018 2,59 Millionen als nicht arbeitslos. Dazu zählten all' jene, die mehr als 15 Stunden in der Woche einem Job nachgingen (0,62 Millionen), die an einer "arbeitsmarktpolitischen Maßnahme" teilnahmen (0,55 Millionen), zur Schule gingen, studierten oder eine Ausbildung machten (0,4 Millionen), Kinder erzogen oder Angehörige pflegten (0,32 Millionen) oder arbeitsunfähig waren (0,31 Millionen).
Darüber hinaus weist die Statistik auch jene aus, die unter eine Sonderregelung für Ältere fallen (0,17 Millionen) und jene, die auf Grund von sonstigen Regelungen mit dem Sozialgesetzbuch II in Kontakt gekommen sind (0,23 Millionen).
Dazu zählen gut 80 000 Selbstständige, die aufstockende Leistungen bezogen haben, aber auch unter anderem jene, die Zuschüsse zur Kranken- und Pflegeversicherung erhielten. Einen solchen Zuschuss erhält man, wenn man allein wegen der Höhe der Beiträge hilfebedürftig werden würde.
Drei Gruppen
1,47 Millionen Menschen indes galten als arbeitslos; 64.500 davon erhielten neben dem Arbeitslosengeld aufstockende ALG II-Leistungen. Oder anders gesagt: Die 5,96 Millionen Hartz IV-Bezieher teilen sich in drei Gruppen auf: 1,47 Millionen arbeiten entweder gar nicht oder geringfügig, 1,4 Millionen gehen einer Beschäftigung von mehr als 15 Stunden in der Woche nach, verdienen aber so wenig, dass sie Leistungen nach dem SGB II in Anspruch nehmen müssen.
3,09 Millionen stehen dem Arbeitsmarkt indes nicht zur Verfügung, weil es sich dabei entweder um Kinder handelt oder um Personen, die erziehen, pflegen, alt oder krank sind oder eine Ausbildung absolvieren.
Wechselwirkungen zwischen den drei Gruppen
Zwischen den drei Gruppen gibt es Wechselwirkungen, da oft mehrere Leistungsbezieher in Bedarfsgemeinschaften (umgangssprachlich: Familie) zusammen leben: Findet ein Arbeitsloser einen Job, der ausreichend gut bezahlt ist, steigt das Einkommen eines Nicht-Arbeitslosen soweit, dass jeweils der sogenannte "persönliche Bedarf" der Familie gedeckt ist, also das, was als sozialrechtliches Existenzminimum gilt, fällt logischerweise nicht nur einer aus der Statistik heraus, sondern alle anderen, die mit ihm im Haushalt wohnen, auch.
Doch wie bereits beim vorangegangenen Text Hartz IV für Anfänger ausgeführt wurde: Mancherorts ist der persönliche Bedarf schon allein auf Grund der Kosten der Unterkunft (umgangssprachlich: Miete) so hoch, dass ein ziemlich üppiges Einkommen erzielt werden müsste, um dem Sozialgesetzbuch, dem Jobcenter, den Stapeln von sich ständig ändernden Gesetzen und Verwaltungsvorschriften und Hinweisen Lebewohl sagen zu können, es sei denn natürlich, die Leute stellen freiwillig keinen Weiterbewilligungsantrag und verzichten damit auf Geld.
Denn, um das noch einmal kurz zu erläutern: Der persönliche Bedarf berechnet sich aus den Regelsätzen zuzüglich der Miete und Nebenkostenvorauszahlungen, bis zu einer von Ort zu Ort verschiedenen Höchstgrenze. Ist das Mietniveau hoch, ist dementsprechend auch der persönliche Bedarf hoch.
Und da vom Einkommen Freibeträge abgezogen werden, ist das Einkommen, das man erzielen muss, um aus dem ALG II völlig herauszufallen, oft höher, als man denkt. In Städten wie München können bei vierköpfigen Familien Netto-Einkommen von bis zu 3.000 Euro erforderlich sein, es sei denn, man hat das Glück, eine günstige Sozialwohnung ergattert zu haben.
Anderswo ist hingegen die Miete günstig, das Angebot an Jobs aber gering, und genau an diesen Orten ballen sich jene, die in der Statistik als arbeitslos geführt werden: Im Ruhrgebiet, in Teilen Ostdeutschlands kann man die Leute fordern und fördern, sie qualifizieren bis zum vierten Meistertitel - wenn es keine Jobs gibt, dann gibt es eben auch keine Arbeit und damit auch keine schöne Statistik.
Mythen und Mieten
Wenn man sich in Jobcentern umhört, dann findet man auch niemanden, der die in der Öffentlichkeit oft verbreitete Sichtweise bestätigt, Leistungsbezieher würden nicht arbeiten, weil man nur einen Freibetrag von 100 Euro behalten darf, und für jeden weiteren Euro, den man dazu verdient, 80 Cent von den Leistungen abgezogen werden.
Das sei ein "Mythos", sagt ein Mitarbeiter eines Jobcenters im Ruhrgebiet, denn wenn man wenig in der Tasche habe, sei man für jeden Euro zusätzlich dankbar. Die Leute, die sich sagen, dass sie dann lieber gar nichts machen, die treffe man vor allem im Fernsehen.
Eine bessere Statistik gibt es aber auch nicht, wenn an den Orten, an denen es Jobs gibt, die Mieten hoch sind, denn wie gesagt: Je mehr für die Wohnung zu zahlen ist, desto schwieriger wird es, die Leute aus dem Jobcenter raus zu bekommen.
Die Forderung nach Eigenverantwortung und Eigeninitiative findet also dort ihre Grenze, wo der Staat es versäumt, die Grundlagen dafür zu schaffen, dass man überhaupt selbst aktiv werden kann. Beim Wohnungsbau hat man auf Eigenverantwortung privater Investoren gesetzt, mit dem Ergebnis, dass die Mietpreise in den Städten am Entgleisen sind.
Eigenverantwortung wird aber auch in der Politik immer wieder gefordert, wenn es um die Altersvorsorge, die Absicherung für den Pflegefall oder die Berufsunfähigkeit geht: Man möge sich doch bitteschön privat absichern, heißt es, und von Zeit zu Zeit werden dann Studien durch die Medien gereicht, denen zufolge keine Zunahme der Altersarmut droht.
Das ist eine Behauptung, bei der durchaus Zweifel angebracht sind, denn oft wird dabei nur auf die Höhe der zu erwartenden Rente geschaut, nicht aber, wie viel man dafür bekommen wird: hohe Mieten, und, bei jenen, die sich privat versichert haben, auch die Gefahr von exorbitanten Beitragsforderungen, können aus einer hoch erscheinenden Rente erbärmlich wenig werden lassen.