Hartz IV und "Bürgergeld": Wie Sanktionen ihr angebliches Ziel verfehlen
Studie: Die Daumenschrauben des Jobcenters haben keine motivierende Wirkung. Eher schränken sie den Aktionsradius von Arbeitssuchenden ein.
Überraschend ist die Nachricht nur für Menschen, denen andere Studien zum Thema Hartz-IV-Sanktionen bisher entgangen sind: Sie verfehlen ihre Wirkung – zumindest die offiziell beabsichtigte, mehr Menschen "in Arbeit zu bringen", wie das Institut für Sozial- und Wirtschaftsforschung, INES Berlin, in der "Hartz Plus"-Studie herausfand.
Wer den Verdacht nie loswurde, dass es bei den zur Zeit ausgesetzten Sanktionen vor allem um schwarze Pädagogik geht, die darauf abzielt, dass Beschäftigte schlechte Arbeitsbedingungen akzeptieren, um bloß nicht auf Lohnersatzleistungen angewiesen zu sein, kann sich bestätigt fühlen.
Befragt wurden für die dreijährige Langzeitstudie zufällig ausgewählte Personen, die in diesem Zeitraum durchgängig oder mit Unterbrechungen Arbeitslosengeld II, im Volksmund Hartz IV bezogen. Eine Gruppe erhielt im Studienzeitraum eine Versicherung gegen Sanktionen: Finanzielle Einbußen wurden ausgeglichen. Die Kontrollgruppe erhielt keinen Ausgleich.
Eine motivierende Wirkung entfalteten Sanktionen demnach nicht. Im Gegenteil: "Die stärkste Wirkung, die von Sanktionen ausgeht, ist Einschüchterung und Stigmatisierung", erklärte nun der Verein Sanktionsfrei e. V., der die Studie in Auftrag gegeben hatte, anlässlich ihrer Veröffentlichung. "Die Menschen fühlen sich kontrolliert und bestraft. Bereits die Androhung von Sanktionen verstärkt bei den Betroffenen das Gefühl von Ausweglosigkeit und Isolation und kann sogar Krankheiten verursachen und verstärken."
All das sind keine guten Voraussetzungen, um in einem Vorstellungsgespräch Personalchefs zu überzeugen – abgesehen davon, dass vielleicht auch das Geld für die Fahrkarte fehlt, um sich am anderen Ende der Stadt vorzustellen.
Arbeitssuchende brauchen Handlungsspielräume
Um ihre Ziele realisieren und gesellschaftlich teilhaben zu können, benötigen Betroffene Handlungs- und Entscheidungsspielräume. Hier spielt der Kontakt zum Jobcenter eine entscheidende Rolle. Er ist substanziell für den Zugang zu materiellen, aber auch immateriellen Ressourcen. Dabei kommt der Art der Kommunikation eine wesentliche Bedeutung zu.
Aus: Hartz Plus – eine Studie über die Auswirkungen von Hartz-IV-Sanktionen
Klar: Freundlich, aber keineswegs schüchtern aufzutreten und den Kopf nicht hängenzulassen, gehört zu den Standardratschlägen in jedem freiwillig oder unfreiwillig absolvierten Bewerbungstraining.
Keine "erhöhte Renitenz" bei Versicherung für den Sanktionsfall
Wer dem Sanktionsdruck bisher eine motivierende Wirkung zugeschrieben hat, könnte nun fragen: Was ist, wenn die Versicherung gegen Sanktionen dazu führt, dass die Fallmanager im Jobcenter gar nicht mehr ernst genommen werden?
Die Studie legt nahe, dass "Renitenz" gegenüber den Fallmanagern eher eine Frage des Temperaments und der psychischen Verfassung ist – und dass in solchen Fällen meistens gar keine Konsequenzanalyse betrieben wird. Betroffene aus der Gruppe der "Versicherten", die einen Ausgleich für finanzielle Sanktionen erhielten, wurden nämlich im Durchschnitt nicht öfter sanktioniert als diejenigen aus der Kontrollgruppe.
Sie schienen sich also nicht mehr "herauszunehmen" – falls Versäumnisse wie verpasste Termine oder nicht erfolgte Bewerbungen nicht eher mit unfreiwilliger Antriebslosigkeit aufgrund von Depressionen zu tun haben.
Letzteres legen nämlich andere Studienergebnisse nahe. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hat bereits vor Jahren herausgefunden, dass mehr als jede dritte Person im Hartz-IV-Bezug mit psychischen Problemen kämpft – häufig sind diese Probleme demnach der Grund für den Verlust der Arbeitsstelle oder bei jungen Menschen für nicht erfolgreiche Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz.
"Hohe Erwerbsneigung": Viele Teilnehmende waren "Aufstocker"
An dieser Stelle muss allerdings erwähnt werden, dass die Teilnehmenden der Studie keineswegs alle komplett erwerbslos waren – bei den "Aufstockern" reichte es nur nicht zum Leben. Aber: Nicht alle Befragten bezogen über den gesamten Studienzeitraum Hartz IV. Manche konnten also ihre Situation verbessern, allerdings nicht infolge eines "motivierenden" Sanktionsdrucks. Mehrheitlich wird den Betroffenen keineswegs Faulheit attestiert:
Die Teilnehmenden der "Hartz Plus"-Studie bestreiten trotz hoher Erwerbsneigung ihren Lebensunterhalt überwiegend aus den Leistungen gemäß Hartz IV. Dies betrifft fast gleichermaßen etwa drei Viertel der Kontrollgruppe und der Interventionsgruppe. Insgesamt geht ein hoher Anteil der befragten Personen einer Erwerbstätigkeit nach (Ausbildung/Umschulung, geringfügige Tätigkeit z.B. Minijob). Die Erwerbsneigung bei Hartz-IV-Beziehenden ist demnach hoch, gestaltet sich allerdings prekär.
Aus: Hartz Plus – eine Studie über die Auswirkungen von Hartz-IV-Sanktionen
Den Kontakt zu ihrem Jobcenter erleben die Befragten häufiger einschränkend als unterstützend. Einzelne fühlten sich der Behörde hochgradig ausgeliefert, den Kontakt zu den Mitarbeitenden empfinden sie als Kontrolle. Sie fühlten sich unter Druck gesetzt und oft auch sozial stigmatisiert. Die "Betreuung" durch das jeweilige Jobcenter erlebten sie demnach als Stress und Bevormundung.
Auch der Gesetzentwurf von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zum Hartz-IV-Nachfolgemodell "Bürgergeld" sieht Leistungskürzungen von bis zu 30 Prozent vor, wenn gegen Auflagen der Jobcenter verstoßen wird.
Die zuständige Fachpolitikerin der SPD-Bundestagsfraktion, Annika Klose, betonte allerdings in einem Interview mit dem Parteiorgan Vorwärts, die Sanktionen beim Bürgergeld dürften nicht mehr die Unterkunftskosten betreffen und würden aufgehoben "wenn man wieder mitmacht". Außerdem fallen härtere Regelungen für unter 25-jährige weg. Aktuell sind die Sanktionen befristet bis zum 30. Juni 2023 ausgesetzt.