Hat Essen die Popmusik als Identitätsmarker ersetzt?

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Veganismus, Superfood und Distinktion

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Tyler Cowen ist einer der bekanntesten amerikanischen Ökonomen. Das liegt auch daran, dass er sich vor allem mit den Schnittstellen zwischen Wirtschaft und Kultur beschäftigt. Seine jüngste und aktuell in Blogs und Sozialen Medien viel diskutierte These ist, dass Essen die Popmusik als Identitätsmarker Nummer 1 ersetzt hat.

In den 1960er und 1970er Jahren, als die Popmusik in den USA und Europa (aber auch in Japan und vielen Teilen des Ostblocks und der Dritten Welt) vor allem in der Jugend als dominanter Identitätsmarker fungierte, waren musikalische Moden Cowen zufolge stärker als heute gesellschaftliche Ereignisse, weil sich die Popmusik damals noch nicht in so viele relativ sauber voneinander getrennte Genres, Sub-Genres und Sub-Sub-Genres aufgesplittet hatte wie heute: Im Grunde gab es damals nur E-Musik, alte U-Musik (Volksmusik, Country) und neue U-Musik (alles von Jazz über Soul bis hin zu Psychedelic Rock). Leicht verfügbar waren ohne YouTube und Spotify nur die jeweils aktuellen Werke, die jedoch (auch wegen des damals noch sehr viel wichtigeren Rundfunks) von einem größerem Bevölkerungsanteil gehört wurden. Damals kannte fast jeder die Stücke in den Charts - heute kann kaum jemand mehr eines nennen.

Verbindung mit anderen Identitätsmarkern

Diese Situation begünstigte Cowen zufolge, dass Musik sich gut mit anderen Identitätsmarkern wie Genussmittel- und Politikvorlieben oder der Haarlänge verbinden konnte, was ihren gesellschaftlichen Einfluss verstärkte und dafür sorgte, dass Stücke zu Statements gegen den Vietnamkrieg oder gegen Segregation wurden. Dass dieser Einfluss zurückgegangen ist, zeigt sich dem Ökonomen nach nicht nur am Fehlen bekannter Musikstücke zu Themen wie dem Irakkrieg oder Obamacare, sondern auch daran, dass Popmusik heute weit weniger polarisiert als früher. Seinem Eindruck nach unterscheiden sich Songs aus den 1990er Jahren sogar kaum von aktuellen, wenn man den Unterschied an dem zwischen einer Aufnahme von 1967 und einem zehn oder zwanzig Jahre davor entstandenen Stück misst.

Keinen Stillstand, sondern so viel kulturelle Innovation wie in keinem anderen Bereich (einschließlich der Informations- und Kommunikationstechnologie, der Schlafoptimierungstechnik und der Serien) sieht der Ökonom dagegen beim Essen: Die Veränderungen dort reichten vom Angebot in den Supermärkten über die in Restaurants bis hin zur Rezeption im Fernsehen, im Internet und im Smalltalk, wo der Sport weiterhin der Unterschicht vorbehalten ist. Dass Restaurants seinem Eindruck nach heute wichtigere soziale Treffpunkte sind als Orte, an denen laute Musik läuft, mag allerdings auch ein wenig dem Alter des 55-Jährigen geschuldet sein - ab 40 lässt nämlich die Fähigkeit zum Filtern von Worten aus einer Geräuschumgebung deutlich nach.

"Opiat der gebildeten Klassen"

Weil sie die Auswahl vergrößern, sieht er diese Veränderungen als positiv an - als Fortschritt. Er glaubt jedoch, dass der neue Identitätsmarker Veränderungen in anderen Bereichen eher verhindert als begünstigt, weil er satt und zufrieden macht - besonders dann, wenn er mit Wein kombiniert wird. "Essen", so Cowen, sei in diesem Sinne "das Opiat der gebildeten Klassen".