Hauptverdiener in der Armutsfalle

Nicht nur atypisch Beschäftigte gehören zu den Working Poor

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Dass Arbeit nicht vor Armut schützt, gilt mittlerweile als Binsenweisheit auf dem deregulierten deutschen Arbeitsmarkt. Auch wenn sie sich noch nicht überall herumgesprochen hat. Laut einer aktuellen Studie muss der Modebegriff "Working Poor" nun weit über den bereits bekannten Teil der atypisch Beschäftigten hinaus ausgedehnt werden.

Der Sozialforscher Eric Seils vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut in der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) hat errechnet, dass 2012 auch fast jeder zehnte Hauptverdiener von Armut bedroht war. Bei den Beschäftigten in der Gastronomie, im Catering und im Hotelgewerbe lag die Quote sogar bei gut 35 Prozent.

Arm trotz Vollzeitjob

Eine angelernte Gartenbauerin im Kreis Lüchow-Dannenberg verdient 10,32 Euro pro Stunde und liegt damit deutlich über dem anvisierten Mindestlohn von 8,50 Euro. Die verheiratete Alleinverdienerin ist Mutter einer 14-jährigen Sohnes, arbeitet 34,6 Stunden in der Woche und erzielt somit einen monatlichen Bruttolohn von 1.553 Euro. Abzüglich der Mietkosten bleiben ihr 1.235 Euro nebst 184 Euro Kindergeld und 36 Euro Wohngeld.

Das verfügbare Familieneinkommen beträgt summa summarum 1.455 Euro, das mit Hilfe der Grundsicherung auf 1.713 Euro aufgestockt werden dürfte. Trotzdem gibt es eine Armutslücke in Höhe von 25 Euro. Eric Seils mag es konkret und hat seine Analyse deshalb mit fünf Fallbeispielen garniert. Neben der Gartenbauerin aus Lüchow-Dannenberg schildert er die Situation einer ungelernten Café-Bedienung im westfälischen Hamm, eines Leiharbeiters aus Duisburg, eines angelernten Karosseriebauers aus Nordsachsen und einer Hotelfachfrau an der Mecklenburgischen Seenplatte. In jedem Beispiel bleiben vollzeitbeschäftigte Alleinverdiener mit Kindern sogar dann unter der Armutsschwelle (weniger als 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens), wenn sie ihren Verdienst mit Hartz-IV-Leistungen aufstocken.

Dabei geht es nicht um Personen in den sogenannten atypischen Arbeitsverhältnissen, insbesondere auch nicht um Geringverdiener, die freiwillig das Familieneinkommen aufbessern, sondern um Menschen, die unter vermeintlich ganz normalen Umständen einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen.

Die Zahlen legen nahe, dass Arbeitsarmut auch unter Familienernährern und ihren Familien ein Problem ist.

Eric Seils

Verdienstmöglichkeiten und "richtige" Branchen

"Wer in der richtigen Branche arbeitet, muss sich kaum Sorgen um Armut machen", resümiert die Axel Springer AG die Ergebnisse der Böckler-Studie. Welche Branchen "richtig" sind, könnte nunmehr in persönlichen und gesellschaftlichen Selbstfindungsprozessen erörtert werden, aber nach Lage der Dinge geht es ja vorwiegend um den schnöden Mammon.

Unter diesem Aspekt schneiden Banken und Versicherungen, die öffentliche Verwaltung, chemische Industrie und Fahrzeug- oder Maschinenbau am besten ab. Hier liegt das Armutsrisiko bei unter 3 Prozent, weil sich die durchschnittlichen Nettoeinkommen - zum Teil deutlich - jenseits der 2.000-Euro-Marke eingependelt haben.

Im Bereich "Kunst, Unterhaltung und Erholung" (Armutsgefährdungsquote: 18,8 Prozent – Nettoeinkommen: 1.820 Euro) sieht es weniger rosig aus, aber immer noch besser als im "Gastgewerbe", wo das Armutsrisiko wegen des Nettoeinkommens von 1.287 Euro bei 35,8 Prozent liegt.

Armut als Massenphänomen

Dass Seils und seine WSI-Kollegen in einem durchaus realistischen Umfeld ermittelt haben, bestätigt der Datenreport 2013, der am Dienstag in Berlin vorgestellt wurde (Datenreport 2013 entlarvt die Schönfärberei der scheidenden Bundesregierung). Danach hat sich der Anteil der armutsgefährdeten Menschen in Deutschland von 15,2 Prozent im Jahr 2007 auf 16,1 Prozent im Jahr 2011 erhöht. Die OECD warnte in ihrem Rentenbericht "Pensions at a Glance 2013" fast zeitgleich vor einer Welle der Altersarmut, die vor allem Geringverdiener erfassen dürfte.

Wer die Einkommen, ihre Verteilung und Spätfolgen sowie das entsprechende Armutsrisiko in Betracht zieht, muss die Gesamtsituation deutlich kritischer sehen als diejenigen, die nicht müde werden, Deutschlands Vorreiterrolle in der Wirtschafts- und Finanzkrise zu betonen.

Dann kann man schwerlich von einem allgemeinen Wohlstandszuwachs sprechen, wie er sich hinter den Zahlen zum genannten "Jobwunder" vermuten ließe.

Datenreport 2013

Bei näherer Betrachtung zeigt sich eine gesellschaftliche Spaltung mit vielschichtigen und tiefgreifenden Folgen, die ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr korrigiert werden können.

Die mittlere Lebenserwartung bei Geburt von Männern der niedrigen Einkommensgruppe liegt fast elf Jahre unter der von Männern der hohen Einkommensgruppe. Bei Frauen beträgt die Differenz rund acht Jahre. Auffallend ist dabei, dass sich auch zwischen den mittleren Einkommensgruppen Unterschiede zeigen, sodass von einer graduellen Abstufung der Lebenserwartung ausgegangen werden kann.

Datenreport 2013

Politische Maßnahmen

Mit 41,5 Millionen lag die Zahl der Erwerbstätigen im Jahr 2012 auf einem Rekordniveau. Das Arbeitsvolumen war allerdings um über 2 Milliarden Arbeitsstunden geringer als Anfang der 1990er und die Ungleichheit in der Einkommensverteilung hat im selben Zeitraum dramatisch zugenommen.

Unter diesen Umständen ist die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, zu dem sich die Große Koalition nach wochenlangen Verhandlungen halbwegs durchgerungen hat, kaum mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.

(Nicht nur) die WSI-Studie plädiert darüber hinaus für eine "Stabilisierung des Flächentarifvertragssystems", eine "Re-Regulierung im Bereich der prekären Beschäftigungsverhältnisse" und eine "Rücknahme der verschärften Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslose", um eine weitere Ausbreitung des boomenden Billiglohnsektors einzudämmen. Die WSI-Forscher sehen aber auch die Steuerpolitik in der Pflicht, also eben jenes Politikfeld, auf dem sich in den nächsten Jahren augenscheinlich wenig bis gar nichts bewegen wird. Vor allem beim Spitzensteuersatz, der schrittweise um bis zu 11 Prozentpunkte abgesenkt wurde, ist keine Trendwende in Sicht.

Eine Besteuerung des Vermögens erscheint dringend nötig, um eine weitere Polarisierung der Einkommens- und Vermögensverteilung zu verhindern. Das Sozialsystem federt zwar Teile der Probleme ab, (…) jedoch ist eine wachsende Anzahl von Menschen einem Armutsrisiko ausgesetzt. Dem ist mit einer Neuordnung insbesondere der familien- und kinderbezogenen Sozialleistungen zu begegnen.

WSI-Verteilungsbericht 2013

Doch das Problem reicht auch darüber noch hinaus. Michael Fischer, Referent für Gewerkschaften und Mitbestimmung in der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn, hat kürzlich versucht, die deutsche Ungleichverteilung unter dem Gesichtspunkt von Exportüberschüssen und Importdefiziten zu diskutieren und dabei interessante Ansätze zu einer neuen, qualitätsorientierten Dienstleistungspolitik entdeckt.

Komplexe Lösungsansätze sind allerdings nicht unbedingt die Spezialität der politischen Verantwortungsträger, die sich auch in diesem Wahljahr frühzeitig gegen Vereinnahmungen wappneten. Vor der Bundestagswahl legte die Nationale Armutskonferenz allen Kandidatinnen und Kandidaten eine "Erklärung zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung" vor. Der Bitte um Unterzeichnung kamen gerade einmal 174 Politiker nach. Nur jeder neunte wollte sich bei diesem Thema festlegen lassen.