Haymatloz

Bild: Mindjazz Pictures

Türkei: Ein Dokumentarfilm öffnet ein kaum bekanntes Kapitel des deutschen Exils zur Zeit des Nationalsozialismus

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Der Bosporus teilt sich im Kielwasser eines Passagierschiffs. Das umliegende Land verschwindet im Nebel. Wo Orient und Okzident liegen, gibt das Bild nicht preis. Es zeigt nur das Boot, das zwischen ihnen liegt. Susan Ferenz-Schwartz sitzt in diesem Boot, das zwischen zwei Welten fährt. Als Tochter des Professors Philipp Schwartz wurde sie in der Türkei geboren. Heute lebt sie in der Schweiz. Ihr Vater ist einer der verfolgten, deutsch-jüdischen Intellektuellen, die in der Türkei ein neues Zuhause fanden.

Emigranten wie Schwartz waren so zahlreich, dass "heimatlos" - die offizielle deutsche Bezeichnung ihres Status - als das Lehnwort "haymatloz" in die türkische Sprache aufgenommen wurde. Eren Önsöz gleichnamiger Dokumentarfilm erzählt die Geschichte fünf heimatloser Familien.

Deutsche Kolonie B

Das Schicksal dieser fünf Familien beginnt mit der Machtergreifung der Nazis, die die jüdischen Intellektuellen ins Exil zwang. Mustafa Kemal Atatürk, Staatsgründer der Türkei, berief sie, zusammen mit anderen Wissenschaftlern und entarteten Künstler an die türkischen Hochschulen, die er nach westlichem Modell reformierte. Er öffnete damit ein heute wenig bekanntes Kapitel des deutschen Exils zur Zeit des Nationalsozialismus.

Bild: Mindjazz Pictures

Die Türkei Atatürks stellt der Film in Propagandabildern aus ihrer Gründerzeit vor. Bilder, die die hektischen Rhythmen der Industriemaschinen, Sport- und Freizeitflächen zeigen, konterkariert der Film mit Aufnahmen der Protagonisten, die in der Beschaulichkeit der deutschen Heimat vorgestellt werden. Im bürgerlichen Heim erzählen sie von ihren Eltern, den Exilanten, die in der Türkei ein neues Zuhause fanden.

Zwischen die Erzählungen der Protagonisten drängen sich weitere Archivbilder, unterlegt vom besprochenen Text der Briefe oder Tagebucheinträge ihrer Eltern. Das Gewirr der vielen Fäden der Exposition läuft schließlich in der Türkei zusammen, die Önsöz mit ihren Protagonisten bereist. Hier treffen ihre Kindheitserinnerungen mit dem gesellschaftlichen Wandel unter der Präsidentschaft Erdogans zusammen.

Eine türkische Elegie

Haymatloz zeigt Bilder der Türkei vor dem Putschversuch und Erdogans "Säuberungen", die wie ein nostalgischer Abgesang auf eine schönere Vergangenheit wirken. Die Plätze nostalgischer Kindheitserinnerungen sind gewaltige Großbaustellen geworden. Der Taksim-Park war in der Jugend von Elisabeth Weber-Belling, der Tochter des Bildhauers Rudolf Belling, eine große, grüne Oase. Nun ist der Park eine betonüberzogene Insel, auf der nur ein winziger Klecks grün geblieben ist.

Was Belling im Film noch, sich selbst tröstend, als Symbol des Widerstands der Juni-Proteste von 2013 beschreibt, ist zur Zeit des Kinostarts längst von Erdogans Anhängern als Symbol zurückerobert worden. Die Stadt ist im ständigen Wandel und für Belling längst fremd geworden. Sie wirkt verloren im Angesicht des neuen Istanbuls, im Beton der Mega-Metropole, die sie ihre Heimat nennt.

Bild: Mindjazz Pictures

Den politischen Wandel doziert der Film in kurzen Interviews mit Studenten, Taxifahrern und der Juristin und Frauenrechtlerin Prof. Nazan Moroğlu. Themen wie die Einschränkung der Meinungsfreiheit, die Auflösung der säkularen Grundausrichtung und Rückschritte der Frauenrechte in der Türkei scheinen omnipräsent im Istanbul, das der Film zeigt.

Önsöz verlagert den Gestus ihre Erzählung sukzessive ins Didaktische. Ihre Lehrstunde über Erdogans Türkei konstruiert sie dabei weitgehend abseits ihrer Protagonisten und deren gelebter Realität. Wie ihre Vorfahren, die nur noch in der Erinnerung anderer an der Geschichte teilhaben können, werden die Protagonisten zu Zaungästen ihrer eigenen Erzählung.

Berührung mit der Heimat

Mit dem großen Bogen, den Önsöz schlägt - vom politischen Status Quo bis zu den Grundwerten der türkischen Republik unter Atatürk - trifft sie den Zahn der Zeit. Letztlich verharrt sie aber unnötig lange auf den politischen Nebenschauplätzen. Die stärksten Momente des Films sind nicht die Ausführungen junger Studenten über die Repressalien des Regimes, sondern die Berührungen der Protagonisten mit ihrer alten Heimat.

Etwa wenn Engin Bagda, der Sohn eines emigrierten jüdischen Chemikers, den Pausenhof seiner alten Schule in Ankara überquert und von einer Gruppe Kinder eingekreist wird. Die scheinen zunächst mehr am Filmteam interessiert: Während er von seinem Schulalltag erzählt, winken sie der Kamera zu. Dann kommt einer von ihnen auf die Idee, dass Bagda eine wichtige Persönlichkeit sein könnte und lässt sich eine Unterschrift des alten Mannes geben.

Bild: Mindjazz Pictures

Schon im nächsten Bild ist der verdutzte Bagda von einer Horde Kinder eingekreist, die sein Autogramm einfordert. "Aber was wollt ihr denn mit meiner Unterschrift?", fragt der verdutzte Neuprominente, während er ein Blatt nach dem anderen signiert. Die Traube aus neugierigen Kindern wächst weiter, bis Bagda schließlich die Flucht ergreift. Lachend drängelt er sich durch die kleinen Autogrammjäger, schneidet noch eine Grimasse für sie und macht sich davon. Seine Geburtsstadt Ankara hat er bis hierhin kaum wiedererkannt. Auf dem alten Schulhof scheint das wie vergessen.

Bild: Mindjazz Pictures

Es bleibt ein kurzer und versöhnlicher Moment der Heimkehr. Haymatloz ist ein Film der Trennung. Eine Elegie, die einen Riss beklagt, der sich durch zwei Gesellschaften und deren Geschichte zieht wie das Kielwasser eines Schiffs durch den Bosporus.