Heiliger Anton!
Tony Blair präsentiert sich zum Wahlkampfauftakt als gospelsingender Prediger
In den Köpfen der PR-Berater und Presse-Spin-Doktoren muss es wie eine himmlische Eingebung geklungen haben. Anstatt die britischen Parlamentswahlen vor dem Eingang zu Downing Street Nr.10 anzukündigen, wie das traditionell gemacht wurde, wählte Premierminister Tony Blair einen symbolträchtigen Ort für dieses Medienereignis - die Kapelle einer Mädchenschule im Süd-Londoner Problembezirk Southwark. Alles schien so passend als Hintergrund für die Politik, für die New Labour gerne stehen möchte. Die Schule als Symbol für Chancengleichheit und sozialen Aufstieg durch Lernen, die ethnische Zusammensetzung der Schülerinnen als Zeichen für das multikulturelle Großbritannien, der Stadtteil Southwark als eines jener innerstädtischen Problemgebiete, denen durch New-Labour-Programme zum Aufschwung verholfen werden soll. Tony Blair hatte in seiner vierjährigen Amtszeit immer wieder gegen die Zyniker und notorischen Skeptiker gewettert, deren vergifteten Seelen seine Politik der ehrlichen Anstrengung zu unterminieren versuchten. Was konnte dem ein deutlicheres Signal entgegensetzen, als Gospel-Chöre und unschuldige Mädchenherzen? So ungefähr mussten sich das die Spin-Doktoren gedacht haben. Doch dann ging alles so teuflisch daneben.
Als ich gestern in den Abendnachrichten die Aufnahmen vom Auftritt des Premierministers sah, fiel mir auf einen Schlag wieder ein, was mir an New Labour im allgemeinen und Tony Blair im besonderen immer schon sehr verdächtig gewesen war. Wie aus den Reaktionen der Presse heute ersichtlich geworden ist, muss es der breiten britischen Öffentlichkeit ähnlich gegangen sein. Quer durch die Zeitungslandschaft findet sich kaum ein verhalten positives Wort für die Show, die der Heilige Anton da geliefert hat. "Atemberaubend und zehennägelaufrollend geschmacklos", nannte es Matthew Parris, politischer Kommentator der Times. "Sogar an ihren eigenen Standards gemessen, war das eine zutiefst zynische Angelegenheit", schrieb Simon Hoggart im Guardian. Ähnliche Zitate ließen sich beliebig fortsetzen.
Was Worte nicht vermochten, sagten hier die Bilder: Tony Blair, mit dem Gesangsbuch in der Hand, ein Kreuz im Hintergrund, umringt von beuniformten Schülerinnen und die Augen wie von heiliger Inspiration nach oben verdreht. Als er dann, nachdem einige Hymnen abgesungen waren, sprach, klang es, als hätte er säckeweise Kreide gefressen. "Bescheiden", und "voller Hoffnung", aber "hungrig" werde er in den Wahlkampf gehen, intonierte Blair mit schwingenden Vokalen und einer Stimme, die um eine Oktave höher als seine normale Sprechstimme lag. Nicht nur um Wählerstimmen ginge es ihm, sondern darum, ihre Herzen und Geister zu gewinnen. Seine Hörerschaft, alle noch nicht im Wahlalter, mit Ausnahme der zahlreich vertretenen Presse, verlor alsbald das Interesse.
"Ein Haufen Lügen", will der politische Korrespondent der Times eines der Schulmädchen kommentieren gehört haben. Um das festzustellen, braucht es auch wirklich kein Doktorat in Politologie und Sozialwissenschaften, vor allem wenn man in Southwark lebt. Denn dort schieben sich die Ausläufer der City, des Finanzdistrikts, immer weiter nach Süden vor, wovon die Mieten und Preise allgemein in die Höhe getrieben werden. Unübersehbar ist dann die Demarkationslinie zwischen City, gentrifizierten Bürohäusern in stilvoll adaptierten Lofts, und den heruntergekommenen Sozialbauten, mit ihren eingeschlagenen Fensterscheiben, ausgebrannten Garagen und Lifts, die zu Todesfallen werden können, weil die verknappten Sozialbudgets keine Reparatur erlauben.
Allzulange hat New Labour die Zügel bei den öffentlichen Ausgaben allzu eng gehalten, die Politik der Tories unter John Major fortsetzend, was zu eklatanten Einsparungen bei den öffentlichen Dienstleistungen führte. Schul- und Gesundheitswesen, die New Labour zu Eckpfeilern ihrer Politik erklärt hatten, leiden unter Personalmangel, Gerätemangel und zerfallender baulicher Infrastruktur. Wahlversprechen über sinkende Schülerzahlen pro Klasse und über reduzierte Wartezeiten für Spitalsbetten im öffentlichen Gesundheitssystem wurden nachweislich nicht eingehalten. Das Transportsystem - U-Bahn und Züge - rollt auf veralteten Gleisstrukturen dem völligen Kollaps entgegen. Doch trotz verhehrender Unfälle im privatisierten Bahnwesen hält New Labour am Teil-Privatisierungskonzept für die Londoner U-Bahn fest - und das obwohl der Experte, der die New Yorker U-Bahn gerettet hat, Bob Kiley, die Privatisierungspläne für fundamental verfehlt erklärt hat.
Neben solchen offensichtlichen Versagern leistete sich New Labour eine Reihe von PR-Debakeln, die zu der weit verbreiteten Ansicht führen, dass bei dieser Regierung die Spin-Doktoren, Presse- und PR-Berater die Oberhand über die Realpolitik gewonnen haben und die Regierung versucht, durch Medienmanipulation vorzutäuschen, was sie in der realen Welt nicht erreicht hat. Sollte der gestrige Wahlkampfauftakt darauf ausgerichtet gewesen sein, diesem Image entgegenzuwirken, so hat er erst recht sein Ziel verfehlt. Dass New Labour die Partei ist, in der der Schein über dem Sein steht, hat sich mit dem predigenden Heiligen Anton nun endgültig als Binsenweisheit festgesetzt.
Dabei war es eigentlich Margaret Thatcher, die diese Politik des Spin doctoring aus den USA ins Vereinigte Königreich gebracht hat. Doch nur die Schwäche der heutigen Konservativen ist New Labours Stärke. Zu frisch ist noch die Erinnerung an die Korruption und Lethargie am Ende der langen Thatcher-Major-Ära. Und immer, wenn man versucht ist zu glauben, dass der konservative Spitzenkandidat William Hague nicht durch und durch schlecht ist, springt ein monokeltragendes Tory-Fossil aus dem Unterholz und erinnert die Wählerschaft daran, wie inakzeptabel die weit nach rechts gerutschten Tories sind. Mit wüsten Verbal-Attacken gegen Asylbewerber, das multikulturelle England und die heimtückische, böse EU, welche die Insel von Brüssel aus regieren möchte, gewinnen sie zwar Zuspruch bei der Tory-Kernwählerschaft von suburbanen Eigenheimbesitzern, doch bei allen nationalen Umfragen liegt die Partei Hagues um 15 bis 20 % zurück. Sollte Blair allerdings seine Kampagne in ähnlich messianischem Stil fortsetzen, wie er sie begonnen hat, könnten ihm die Wählerschaft aus purem Trotz zumindest eine kleine Lektion erteilen.