Henry Kissinger: "Die Ukraine soll Nato-Mitglied werden"

Die Einsamkeit eines fast 100-Jährigen? Der ehemalige US-Außenminister konzipiert das Ende des Krieges in der Ukraine. Wichtiger und umstrittener Schlüssel: Die Öffnung Europas und der internationalen Gemeinschaft gegenüber Russland.

Krieg soll nicht die Lösung für einen Konflikt zwischen Ländern sein. Daher, so lässt Henry Kissinger verstehen, war die Antwort der Nato und der USA auf die Invasion der Ukraine seiner Einschätzung nach richtig.

Doch müsse jetzt weitergedacht werden. Der Heroismus des ukrainischen Widerstands und des Widerstands der westlichen Unterstützer müsse begleitet werden von einer Vision, wie man den Krieg beenden will und einer Vorstellung davon, wie eine Friedensordnung, die Stabilität verspricht, aufgebaut werden kann.

Dazu brauche es die Wiedereingliederung Russlands in die internationale Gemeinschaft, insbesondere eine Rückkehr Russlands nach Europa.

So könnte man den ideellen Rahmen zusammenfassen, in dem der ehemalige US-Außenminister und Sicherheitsberater der US-Regierung an die Frage herangeht: Wie kann man das Ende des Krieges in der Ukraine konzipieren?

"Missverstanden"

Die fast 100 Jahre alte Politikgröße fühlt sich missverstanden. Damit setzt seine Zoom-Beitrag (bis etwa Minute 15:46) gestern Spätnachmittag auf dem World Economic Forum (WEF) in Davos ein.

Er wollte nun seine Prinzipien zur Lösung des Konflikts, die er bereits dargelegt hat, in einem Artikel des britischen Spectator (siehe: Ukraine-Krieg: Wie lautet die Friedensformel?) wie auch dem WEF gegenüber vor einem Jahr, noch einmal erhellen. Das war sein Anspruch.

Neu, und das wird in Medienreaktionen auch herausgestellt, ist seine Überzeugung, dass die Ukraine kein neutrales Land sein, sondern Nato-Mitglied werden sollte. Kissinger erklärte seinen Sinneswandel damit, dass sich seine frühere Meinung mit der Befürchtung begründete, dass die Nato-Mitgliedschaft genau den Prozess in Gang setzen würde, in den man jetzt beobachten kann.

Unter diesen Bedingungen sei die Idee einer neutralen Ukraine jetzt nicht mehr sinnvoll (im Original: "useful"), erklärte Kissinger, ohne weiter direkt zu erläutern, warum der Zug abgefahren ist, warum die Neutralität der Ukraine nicht weiter ein Verhandlungspfand sein kann.

Für ihn, den man wegen seiner Erfahrung und seines Ansatzes oft als "Realpolitiker" beschreibt, kommt es jetzt mehr darauf an, wie die Nato einen Prozess gestaltet, der die Aufnahme der Ukraine zum nun "angemessenen Ergebnis" hat, um Sicherheit zu garantieren. Dass das aus verschiedenen Gründe konkret (z.B. wegen der ungeklärten Grenzen) nicht einfach wird, wird von Kissinger nur umschrieben.

Konzept für Verhandlungen

Für den Realpolitiker zählen gerade prioritär Prinzipien und Ideen, um dem Krieg eine Verhandlungslösung als Horizont entgegenzustellen. Zu den Prinzipen, die er in Davos erneut präsentierte, gehören: Die Fortführung der Unterstützung des ukrainischen Widerstands gegen den konventionellen Krieg Russland durch die Nato und die USA, die er eigens erwähnte. Die Unterstützung solle sogar intensiviert werden, falls nötig, bis eine vorläufige Waffenstillstandsregelung sichtbar wird.

Da schwebt Kissinger dann eine Zwei-Stufen-Regelung vor. Erstens Verhandlungen für eine Waffenruhe basierend auf den Vorkriegsgrenzen, vor dem 24. Februar 2022, (gemeint, so heißt es, sei der "Frontverlauf entlang der 2014 von Russland annektierten Krim und der von prorussischen Separatisten kontrollierten Gebiete in Donezk und Luhansk".

Zweitens Friedensverhandlungen, die diese vorläufigen Abmachungen neu aushandeln.

Sollten sich Kritiker Kissingers, die in ihm einen Fürsprecher Russlands sehen, noch über das "Ukraine soll in die Nato"-Postulat gefreut haben, werden sie an diesem Punkt wohl zurück zu ihrer Distanz finden. Aushandeln läuft wahrscheinlich auf Gebietskonzessionen an Russland hinaus. Das gilt bei Unterstützern der Ukraine als unakzeptabler, unterwürfiger Kompromissfrieden.

Obendrein ist fraglich, wie die Bevölkerung in den umstrittenen Gebieten zur Ruhe kommt. Zu erwarten ist das in den spannungsgeladenen Gebieten nicht, Krieg und damit einhergehende Traumata erleichtern das Zusammenleben nicht.

In früheren Äußerungen hat Kissinger noch den "Rückgriff auf den Grundsatz der Selbstbestimmung" angesprochen. In seinem aktuellen Davos-Zoom-Statement ging er nicht auf diese Problematik ein.

Gefahr durch interne Konflikte in Russland

Als wichtigen, dringenden Punkt verweist er auf ein Prinzip und eine Möglichkeit, die Unterstützer der Ukraine gerne ausklammern. Das Prinzip heißt, dass Russland eingebunden werden muss in eine künftige große Friedensordnung und die Möglichkeit ist die der Eskalation.

Während sich manche, wie in Feuilletons etwa der SZ im letzten Jahr zu lesen, eine Schwächung Russlands bis hin zum Zerfall der russischen Föderation wünschen, sieht Kissinger darin eine große Gefahr für die internationale Sicherheit: Interne Konflikte in einem riesigen Staatsgebilde, das elf Zeitzonen umfasst und Tausende von Atomwaffen hat, könne sich keiner wünschen. Man müsse verhindern, dass sich der Krieg zu einem Krieg gegen Russland selbst werde.

Der Krieg dürfe nicht weiter eskalieren, man brauche eine Vision dafür, wie der Krieg enden und wie eine Nachkriegsordnung ("a more peacful order") aussehen soll, in der sich Europa wieder für Russland öffnen könne. Russland müsse die Möglichkeit gegeben werden, sich wieder in ein internationales System einzubringen.

"Dies mag den Nationen, die in der Nachkriegszeit über weite Strecken unter russischem Druck standen, sehr hohl erscheinen", räumt er ein.