"Heute die Richter, morgen Du"
Polen: Proteste gegen ein "Maulkorb"-Gesetz, das sich gegen Richter wendet
Unter dem Motto "Heute die Richter, morgen Du" haben am Mittwochabend in über 100 polnischen Städten die Menschen gegen die Repressionen protestiert, die bald Richter via eines neuen Gesetzes treffen wird. Gleichzeitig warnt das Oberste Gericht in Warschau vor einem möglichen "Polexit".
Die außerparlamentarische Opposition "Komitee zur Verteidigung der Demokratie" (KOD) und juristische Vereinigungen hatten dazu aufgerufen. Sehr viele waren es nicht. Mehrere Tausend sollen vor dem Sejm gestanden haben, so Presseberichte. Zu Beginn der Demonstration um 18 Uhr schienen es nur Hunderte gewesen zu sein.
Dass so wenige kommen, frustrierte zwei Rentner, Stanislaw (75) und seine Bekannte Anna (63), die seit der ersten gewonnen Wahl der Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) 2015 bei den Protesten dabei sind. "Erst bedrängen sie die Richter, dann werden die Medien übernommen und irgendwann geht es uns an den Kragen", meint der pensionierte Ingenieur mit der EU-Fahne. Bald werde es nur eine Partei geben, und eine Art neuer Kriegszustand wie 1981.
Der Grund der Besorgnis - Abgeordnete der Regierungspartei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) haben am vergangenen Donnerstag einen Gesetzesentwurf im Sejm vorgeschlagen, der als "Gegengift" zu einer Empfehlung des Europäischen Gerichts gilt. So soll das "Infragestellen der Position eines anderen Richters und seiner Berufung" mit Berufsverbot belegen werden.
Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg forderte im November das Oberste Gericht in Warschau auf, eine ihr untergeordnete Disziplinarkammer und den Landesrichterrat auf deren Unabhängigkeit zu überprüfen.
Viele Richter des Obersten Gerichts gelten noch als relativ regierungsunabhängig - würden die entsprechenden Novellen in Kraft treten, könnten sie die Besetzung des Landesrichterrats und der Disziplinarkammer nicht mehr in Frage stellen, ohne dabei ihr Amt zu verlieren. Beide wichtige Institutionen sind mittels fragwürdiger Reformen mit PiS-konformen Juristen bestückt worden.
Zudem soll in Zukunft ein politisches Engagement von Richtern bestraft werden. Das Gesetz wurde von der gesamten Opposition am Donnerstag nicht gestoppt, da sich zu wenige Abgeordnete der Linken und der Bürgerplattform eingefunden hatten, was bezeichnend für den müden Modus der Regierungsgegner ist.
Es wird nun von einer Kommission begutachtet, danach kann es vom Senat abgelehnt werden, wo die Opposition die Mehrheit hat. Dies bedeutet jedoch allein eine Verzögerung von 30 Tagen. Auch ist die liberalere Fraktion namens "Verständigung" innerhalb der PiS, die eigentlich eine eigene Partei ist, war anfangs mit der Schärfe des Gesetzes nicht einverstanden. Doch vermutlich wird das Gesetz dann Ende Januar, Anfang Februar in Kraft treten.
Oberstes Gericht lässt sich nicht einschüchtern
"Auf längere Sicht bedeuten die Maßnahmen ein Verlassen der EU", warnte das Oberste Gericht, das sich nicht einschüchtern ließ und am Dienstag eine 42-seitige pointierte Kritik an der neuen Gesetzesnovelle publizierte.
Die nationalkonservative Partei unter ihrem Chef Jaroslaw Kaczynski regiert seit Herbst 2015 und will nun nach ihrer Wiederwahl in diesem Oktober den Umbau des Rechtsstaat vorantreiben - und befindet sich dabei seit Jahren im Zwist mit Instruktionen der EU. So wurde bereits im Januar 2016 von der EU-Kommission das erste Rechtsstaatlichkeitsverfahren eingeleitet, da das Verfassungsgericht in seiner Kompetenz beschnitten wurde.
Im Dezember trat Artikel 7 des EU-Vertrages in Kraft, der bei "schwerwiegender und anhaltender Verletzung" von Werten wie Demokratie und Rechtsstaatlichkeit greifen soll. Doch für einen Stimmenentzug als letzte Konsequenz des Verfahrens wird Einstimmigkeit der Mitglieder verlangt. Hier wird wohl das ebenfalls autoritär geführte Ungarn nicht mitziehen.
Sicher ist - der Ton wird nach der gewonnenen Parlamentswahl wieder aggressiver. So sprach Staatspräsident Andrzej Duda von "postkommunistischen Gebräuchen" bei den älteren Richtern. Die Rechtskonservativen argumentieren, dass viele Richter, die vor der Wende vereidigt wurden, weitere Anhänger des alten Systems seien und gegen die "gewöhnlichen Polen" agierten.
Auch Premierminister Mateusz Morawiecki nahm den 38. Jahrestag des blutigen Streikbruchs bei der Zeche Wujek in Kattowitz (Katowice) zum Anlass, indem er den Richtern von damals vorwarf, alles getan zu haben, dass die Verantwortlichen nicht verurteilt worden seien. Die polnische Miliz erschoss dort nach Verhängung des Kriegsrechts am 16. Dezember 1981 neun streikende Arbeiter, dies gilt als das größte Vergehen der kommunistischen Führung in den 1980er Jahren gegen die freie Gewerkschaft Solidarnosc.
Aber auch die andere Seite zeigt sich kämpferisch, so twitterte der ehemalige Vorsitzende des Europäischen Rates, Donald Tusk: "Überall dort, wo die Macht sich gegen die unabhängige Richterschaft wendet, geht es im Prinzip nur um das eine - dass die Machthaber straflos stehlen können."
Tusk warf den Polen bei seinem Besuch in Polen Apathie, Verzweiflung, Eskapismus und Mutlosigkeit vor. Es hätten zehnmal mehr Menschen protestieren müssen, um als Protest ernst genommen zu werden. Während in Warschau die Demonstration vor dem Sejm stattfand, wurde in den weiteren Städten vor Gerichten demonstriert. Der Mitorganisator KOD in Misskredit geraten, da dieser seine Alimente nicht gezahlt sowie Vereinsgelder veruntreut haben soll.
"Die Polen werden belogen"
Zumindest in der Hauptstadt waren darum wieder die üblichen Verdächtigen unterwegs, die Generation 60 plus, zumeist Akademiker, die die Repressionen des Staates in den 1980er Jahren aus eigener Anschauung kennt und teils in der Solidarnosc engagiert war. So auch zwei Frauen, die Stofftaschen mit dem Aufdruck "Verfassung" umgehängt haben. Frau Joanna ist neben der Entmachtung der Justiz über das Belügen der Polen durch den Staatssender TVP empört.
Dessen Abendnachrichten ignorierten den Protest vorerst. Problematisch ist, dass der Streit um die Richter einen tieferen Einblick in die Mechanismen des Justizorgane verlangt, der vielen Bürgern in Polen vermutlich zu abstrakt erscheint. Die PiS und die ihr nahestehenden Medien, haben bislang auch erfolgreich die Richter als "arrogante Kaste" geschmäht. "Die Gerichte sind nicht für uns Richter, ihr verteidigt euch selbst", meinte die Richterin Anna Korwin-Piotrowska vor dem Sejm zu den Gleichgesinnten.
Zögerliche Opposition
Je zögerlicher die Opposition agiert, um so entschlossener wird wohl die PiS ihre Justizreform vorantreiben. Allerdings gibt es noch eine Hürde zu nehmen - im Frühjahr stehen die Präsidentschaftswahlen an. Dabei ist es nicht sicher, ob Amtsinhaber Andrzej Duda, der der PiS entstammt, gegen die Herausforderin Malgorzota Kidawa Blonska gewinnen wird. Diese könnte dann Kraft ihres Amtes viele zweifelhafte Gesetzesnovellen mit einem Veto belegen.
Grundsätzlich werden die Wahlen im Zentrum gewonnen, gleichzeitig darf die Rechtsaußengruppe Konföderation, die es in den Sejm geschafft hat und mit kernigen Sprüchen von Rechtsaußen Konkurrenz macht, nicht zu viel Wind in den Segeln bekommen. Der große Stratege Jaroslaw Kaczynski wird sich so wohl für einen Mittelweg entscheiden.
Derzeit überprüft die EU-Kommission erneut, ob der juristische Maulkorb, den die PiS den Richtern verpassen will, gegen EU-Recht verstoße. Doch auf diese Institution hört man in Warschau weit weniger als auf den Europäischen Gerichtshof.