"Heute gilt Schönheit kaum noch als Geschenk der Natur, sondern als eine Leistung"

Seite 2: "Die siegreichen Topmodels sind keine moralischen Vorbilder, sondern Zicken"

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Was unterscheidet unsere Castingshowköniginnen von heute von den Hopfen- und Weinköniginnen vergangener Zeiten? Spielen sie eine größere Rolle als Leitbild? Oder eher eine kleinere?

Rebekka Reinhard: Die Siegerinnen von "Germany’s Topmodel" und Co. erreichen via TV natürlich deutlich mehr Fans - überwiegend pubertierende Mädchen auf der Suche nach rolemodels. Die so genannten Topmodels sind ein Symptom unserer narzisstischen Kultur, in der der Schein das Sein, die Geste den Geist, die Form den Inhalt immer mehr verdrängt.

Die siegreichen Topmodels sind keine moralischen Vorbilder, sondern Zicken. Sie lehren ihre Fans, dass der Sinn des Lebens darin bestehe, das eigene Ich permanent und penetrant in den Mittelpunkt zu rücken, es erst zur Marke und dann zum Bestseller zu machen. Und das sehr erfolgreich. "Berühmt werden" ist der Berufswunsch vieler Teenies, die ahnen, dass ihnen unsere Gesellschaft außer dem Dreiklang aus Narzissmus, Konsumismus und Nihilismus nicht mehr viel zu bieten hat.

Gesäß-Fixierung und Porno-Ästhetik

Zu Zeiten des Mini-Rocks galten lange Beine als schön, heute ist es der Hintern. Können Sie uns die aktuelle Fixierung erklären?

Rebekka Reinhard: Die Gesäß-Fixierung passt zum Siegeszug der Porno-Ästhetik in einer Zeit, in der sich praktisch alles um Arbeit, Leistung und Bilanzen dreht. Eine Zeit, die keine Zeit mehr hat für echte Erotik. Wer durch den Beruf schon völlig ausgepowert ist, braucht keine Inspiration mehr, ihn verlangt es nach sofortiger Stimulation, nach vorfabrizierten Effekten. In meinem Buch definiere ich die pornographische Schönheit als eine Addition von Körperteilen, die in keinerlei Zusammenhang mit dem Wesen ihres Trägers steht.

Daniela Katzenberger, nicht Marilyn Monroe, ist die Heldin der Porno-Kitsch-Kultur. In dieser Kultur zählt die "schöne Seele" wenig. Welche Frau traut sich schon, ihre Reize unter Verschluss zu halten, wenn es von überall her schallt: "Seid tough, seid laut und zeigt, was ihr habt! Zeigt her eure Hinterteile und Brazilian Waxings!"

Frauen hatten schon im 19. und 20. Jahrhundert unter einem strengen Schönheitsdiktat zu darben, Männer konnten damals bisweilen als "Typen" durchgehen. Sind diese Tage mit dem Sixpack-Ideal gezählt?

Rebekka Reinhard: Männer sehen sich jedenfalls mehr und mehr gezwungen, neben ihrer perfekten, beruflich erfolgreichen und attraktiven Partnerin eine gute Figur zu machen. Ein Typ, der seinen Bauch als birnenförmige Ausstülpung vor sich her trägt, ist kein "Typ" mehr, sondern ein "Loser". Die zunehmende ökonomische Unabhängigkeit der Frau und das erstarkte weibliche Ego haben viele Männer in eine mehr oder weniger ausgeprägte Identitätskrise getrieben. Viele versuchen, diese Krise mit modischen Accessoires zu kompensieren, indem sie sich zum Beispiel einen Vollbart wachsen lassen. Dieser Bart ist aber natürlich nur das Zitat einer Männlichkeit, die es so nicht mehr gibt.

Immer mehr Männer sind inzwischen genauso um ihr Äußeres besorgt wie die Frauen. Wer weiß, vielleicht wird bald der modisch-durchtrainierte Mann die schöne Frau in den Schatten stellen? Dann wird es irgendwann im Menschenreich so zu gehen wie im Tierreich, wo es ja stets das Männchen ist, das mit prächtigen Federkleidern und luxuriösen Fellen imponiert. Wo gilt: Sie hat die Wahl, und er hat schön zu sein.

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