Hirnforschers Traum vom Gedankenlesen

Seite 2: Was ist also ein Gedanke?

Kommen wir zum Schluss. Ohne zu wissen, was ein Gedanke ist, kann man wohl kaum sinnvoll vom Gedankenlesen sprechen. Westliche Psychologie und Hirnforschung haben hier eine Erkenntnislücke. Inwiefern östliche Ansätze die bekannten Probleme lösen können, muss an anderer Stelle diskutiert werden.

Es erscheint aber plausibel, dass speziell ausgebildete Versuchspersonen ihre psychischen Vorgänge besser registrieren und aufrechterhalten können als andere Menschen. Die Psychologie ging auch einmal diesen Weg, verließ ihn aber im 20. Jahrhundert.

Und die Philosophie? Hirnforscher polemisieren mitunter, Philosophen würden seit Jahrhunderten über wichtige Themen diskutieren - beispielsweise, was Bewusstsein ist -, ohne zum Ergebnis zu kommen. Ich würde eher sagen: Sie sind zu vielen Ergebnissen gekommen.

So beginnt beispielsweise der Eintrag "Gedanke" des maßgeblichen Historischen Wörterbuchs der Philosophie mit dem Satz: "Der auf das Verbum 'denken' verweisende deutsche Ausdruck 'Gedanke' war und ist auch in seinem philosophischen Gebrauch vieldeutig."

Schon klar, dass Hirnforscher mit philosophischer Vieldeutigkeit wenig anfangen können. Der Eintrag über "denken", auf den hier verwiesen wird, macht schlappe 150.000 Zeichen (also rund 75 Buchseiten) aus, mit Ansätzen von der Antike bis heute. Da sollte man von den fünf Seiten, auf denen Haynes und Eckoldt beantworten wollen, was ein Gedanke ist, nicht zu viel erwarten.

Ich setze mich ohnehin dafür ein, verdinglichende (in Fachsprache: reifizierende) Begriffe wie "Geist", "Seele" oder eben auch "Gedanke" zu vermeiden (Das kleine Einmaleins des Leib-Seele-Problems). Ich würde die Frage daher umformulieren: Was ist Denken? Das beschreibt einen Prozess, einen Vorgang. Und meine vorläufige Antwort wäre:

Es gibt Systeme mit Wahrnehmungsvorgängen. Richte ich jetzt beispielsweise meinen Blick nach draußen, dann erscheinen weiße, blaue, grüne und rote Flächen in meiner Wahrnehmung. Das Erkennen als "weiß", "blau" usw. und als "Fläche" sind Denkvorgänge, geprägt durch meine gelernte Sprache. Diese Flächen werden - oft automatisch, doch nicht zwangsweise - ausdifferenziert zu Wolken, Häuserwänden, Himmel, Bäumen, Dächern; auch das sind Denkvorgänge.

Mit bewusster Steuerung könnte ich dies weiter ausdifferenzieren zu beispielsweise Laub- oder Nadelbäumen, Buchen oder Kiefern, und so weiter. Diese Wahrnehmungen könnte ich auch anhand gelernter Kriterien beurteilen, etwa als klein/groß, schön/hässlich, jung/alt, und so weiter; alles Denkvorgänge.

Denkvorgänge strukturieren

Denken scheint mir damit stark sprachlich geprägt und kulturell erlernt. In einer anderen Umgebung, anderen Kultur, anderen Zeit hätte ich wahrscheinlich andere Denkvorgänge. Von der Beschreibung des Denkens im Lexikon der Neurowissenschaft finde ich mich dann auch teilweise bestätigt:

Unter Denken faßt(!) man eine große Klasse von strukturbildenden Vorgängen zusammen, in denen Information erkannt, erschlossen oder neu gebildet wird. Diese Prozesse sind rational gesteuert und (im allgemeinen) emotional fundiert. Eine zentrale Frage in der Erforschung des Denkens ist, woher die Strukturbildung in den Denkverläufen kommt.

Lexikon der Neurowissenschaft

Denken ist also mehr als nur Wahrnehmung: Es sind Vorgänge, die Strukturen bilden, wie ich es mit den Farben, Formen, Mauern, Dächern und so weiter angedeutet habe. Was "rationale Steuerung" und "emotionale Fundierung" sein sollen, lasse ich hier außen vor. Das scheint mir hier auch nicht maßgeblich.

Echtes Gedankenlesen?

Aus Fairness den Hirnforschern gegenüber sei zum Abschluss eingeräumt: Vielleicht beruhen unsere Denkvorgänge auf einer Art Musterkennung im Gehirn. Doch wer "erkennt" die Muster? Gibt es eine zentrale Stelle oder ist es eine Eigenschaft des Systems als Ganzem? Dieses Wie spielt auf der phänomenalen Ebene des Subjekts allerdings keine Rolle, sondern nur bei der Erklärung aus der Außenperspektive.

Wenn ich damit noch einmal an Searles Chinesisches Zimmer zurückdenke, dann eröffnet sich noch eine andere Interpretationsmöglichkeit: Stellen wir uns eine leichtere Variante vor, in der die Person die Schriftzeichen in eine Sprache übersetzt, die sie beherrscht. Nach hinreichend vielen Übersetzungen könnte sie irgendwann eben doch anfangen, Chinesisch zu verstehen. Wenn wir unsere erste Sprache lernen, dann gleichen wir ja auch Wahrnehmungen mit Begriffen (wie "grün", "Baum", "Buche") ab essentiell.

Wenn ich damit noch einmal an Searles Chinesisches Zimmer zurückdenke, dann eröffnet sich noch eine andere Interpretationsmöglichkeit: Wenn der Mensch im Innern nämlich oft genug die Zeichen übersetzt hat, dann beginnt er irgendwann eben doch, diese zu verstehen. Voraussetzung scheint mir dafür aber zu sein, dass er wenigstens die Zielsprache kennt. Und wenn wir unsere erste Sprache lernen, dann gleichen wir ja auch Wahrnehmungen mit Begriffen (wie "grün", "Baum", "Buche") ab.

So gedacht könnte echtes wissenschaftliches Gedankenlesen eines Tages funktionieren: Wenn ein System in hinreichend vielen Gedankenmustern von vielen Situationen und Personen die richtigen Objekte identifiziert und diese an seine eigene Sprache oder seine eigenen Wahrnehmungen dieser Objekte koppelt, dann versteht es die Bedeutung dieser Muster wirklich. Dann wäre es aber, streng genommen, nicht der Hirnforscher, der Gedanken liest, sondern sein Computer.

Aber auch das würde einen Leib-Seele-Dualismus, denken wir an den vorherigen Teil zurück, weder beweisen noch widerlegen. Inwiefern das funktionieren könnte, wenn die Person im Chinesischen Zimmer ganze Fragen nach der Anleitung des Computers in der Fremdsprache beantwortet, lasse ich offen. Das müssen wir hier aber auch nicht beantworten.

Im nächsten Teil beschäftigen wir uns mit Mythen um die Willensfreiheit.

Hinweis: Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.