Hochhaus und Briefe, Wärme und Verflüssigung, Grundlagenforschung und Krisenintervention
Zu einigen Paradigmenwechseln nach dem WTC-Attentat
Oft genug ist seit dem 11. September 2001 die Terrorgruppe Al-Qaida mit den mittelalterlichen Assassinen (oder Assassinaten) verglichen worden, und meist sind derlei Vergleiche für ein fundiertes Geschichtsbild nicht sonderlich erhellend. Doch ein Punkt kann herausgestrichen werden, der beiden Gruppen einen ähnlichen Platz in der Geschichtsschreibung sichert: Sie haben gnadenlos Schwachstellen der bestehenden Gesellschaftsordnungen aufgedeckt und damit langfristig zu tiefgreifenden Veränderungen beigetragen.
Das New Yorker (und Washingtoner ...) Attentat hat die Debatte um Gebäudesicherungen von Hochhäusern bis Atomkraftwerken neu aufgeworfen. Die Möglichkeit von B-Waffen-Einsätzen ist durch die Briefsendungen nach dem Schock des vorherigen Attentats wenigstens in Sichtweite gerückt - nachdem die riesigen, noch unter Gorbatschow angelegten Arsenale von Anthrax und aller Art B-Waffen am Aralsee in Usbekistan bislang nur selten das Interesse der internationalen Presse fanden.
Hier soll nicht weiter auf die Debatte um Sinn und Unsinn von Hochhäusern oder vom Gebrauch der Brieföffner, sondern auf einen Aspekt des Realen eingegangen werden, der bei aller konstruktiven Planung der letzten Jahrzehnte arg in den Hintergrund gerückt war - das Verhalten von Stoffen im Übergang von fest zu flüssig, von Kontakt zu Kontamination, schlicht die Eigenschaften von Materien. Vorbei scheint die Euphorie des Cyberspace, verflogen das Primat des Virtuellen, die Realien haben uns als Festkörper und Flüssigkeiten wieder. Präzise - und bei der entsprechenden Schilderung schwang in der Stimme des Harburger Asta-Vorsitzenden noch ein wenig Stolz mit - haben sich die Attentäter in New York den Schwachpunkt der beiden WTC-Türme ausgesucht: die allzu leichte Kernkonstruktion. Sie hält zwar einen kräftigen Stoß von außen in Form eines aufprallenden Flugzeugs auf, leitet jedoch alle Kräfte über Stahlträger im Inneren ab, die sich eben durch eine bestimmte Menge Energie verflüssigen lassen. Häme ist, wie mehrere deutsche Baustatiker anmerkten, hier nicht angebracht - deutsche Hochhäuser sind in dieser Hinsicht nicht besser, allein die erdbebenerprobten Südostasiaten scheinen da gelernt und ihre Stützen gleich feuerfest gemacht und besser angeordnet zu haben.
Bei den Vorgängen in New York - sie sind die am besten übermittelten und damit für das Paradigma am deutlichsten - ist weniger der Übergang von Bild zu Realität, der die Fernsehzuschauer in den ersten Tagen danach lähmte und nunmehr mit der Unanschaulichkeit des Krieges in Afghanistan korreliert, als der Wechsel des Aggregatzustandes für die Rückkehr vom Sehen zum Fühlen verantwortlich. Wer in Lower Manhattan ist, hat den Geruch und den Staub der Aufräumarbeiten in der Nase und die Fehlstelle am Ufer vor Augen. Wer sonstwo in der Welt zugange ist, muss sich Schulstunden in Physik und Chemie ins Gedächtnis rufen, den Übergang von fest zu flüssig und von flüssig zu gasförmig wieder vergegenwärtigen. Und wer die Briefsendungen mit Anthrax oder auch nur Backpulver betrachtet, denkt erneut über Ansteckungswege, Hautoberflächen und Körperflüssigkeiten nach.
Mediale Virtualisierungen basieren seit rund einhundert Jahren auf Anschauungsmodellen aus dem Gehör und dem Gesichtssinn. Beide Sinne erlauben, und das hat ihre Karriere seit der bürgerlichen Aufklärung ausgemacht, das restlose Verschwinden der Physis gegenüber dem Anschein. Übrig bleibt, mit Günter Anders, 'der antiquierte Mensch'. Die Ereignisse der letzten Wochen haben, als neue Qualität eines globalen Terrors, diese Antiquiertheit des Menschen gegenüber seinen medialen Konstruktionen bis hin zur Selbstabschaffung der Spezies sichtbar vorgeführt.
Zwar sind die Bedrohungen schwer vorstellbar - wie der Crash von Flugzeugen in hohe Bauwerke, der ganz nebenbei durch Distanzsensoren mit zwangsweiser Ablenkung der Maschinen abwendbar erscheint - oder die bedrohlichen Erreger sehr klein, aber bei diesen ist die Erinnerung an kindliche Erkrankungen doch noch lebendig genug, um sie körperlich fassbar zu machen. Flugzeuge wie Bakterien haben jedoch den Vorteil, mental in mechanistische Weltbilder eingepasst werden zu können; da ist die Korrelation zum Verkehrsunfall oder einer familiären Erkrankung noch leicht zu leisten.
Dennoch wird der Einbruch des Realen in die Zeichenwelt der Vernetzung keine unmittelbare Rückkehr zur Dingwelt hervorrufen - wie noch nach allen Katastrophen der letzten drei oder vier Jahrzehnte. Fast schon beschwörend klingen die Formeln von George Bush, Tony Blair, Jacques Chirac und Gerhard Schröder, doch bitte fleißig mindestens so weiter zu konsumieren wie bisher. Der Kauf von Automobilen und Unterhaltungselektronik scheint nunmehr fast so patriotisch zu sein wie früher das Zeichnen von Kriegsanleihen, und der Weg von Lipobay zu Ciprobay ist auch nur zwei Buchstaben lang.
Doch irgendetwas scheint Schaden erlitten zu haben, der fröhliche Kaufrausch kurz vor der Weihnachtssaison schon fast vorüber. Dass zu Beginn schlechter Zeiten heftig gespart wird, ist ein Keynes'sches Prinzip des Wirtschaftskreislaufs, doch die Verunsicherung greift tiefer, in den allgemeinen Diskurs und seine Konventionen ein.
Wissenschaftliche Forschung ist selbstverständlich langsamer als die Filmproduktion in Hollywood oder die Designerteams der Spieleentwickler. Doch auf der Popularisierungsebene wird jede Konjunktur gnadenlos genau sichtbar - ganz Deutschland, jedenfalls in seiner Widerspiegelung durch Talkshows, bestand plötzlich aus IslamwissenschaftlerInnen, wo das Fach zuvor doch nur im Rufe einer Orchidee stand, schön und parasitär zu sein. PhilosophInnen haben wieder Konjunktur und deklinieren Aufklären, Aufklärung und Aufgeklärtheit für und wider religiöse Heilsversprechungen. Hochbaukonstruktion ist in der Architektur plötzlich ein interessantes Fach, das sich in allen Gazetten mit neuen Kolumnen niederschlägt - und all die flotten Zeichner der postmodernen Dekonstruktionsbauten ärgern sich, dass sie im Studium diese Kurse geschlabbert hatten.
Unter den Naturwissenschaftlern sind ChemikerInnen wieder im Kommen, nachdem das Fach zum dritten Mal binnen einen Jahrhunderts für völlig tot und überflüssig erklärt worden war. Bei den Biologen wird die Forschung wieder handfest; angesichts der Vereinfachung weltlichen Überlebens durch eine Handvoll Terroristen sind memetische Theorien und selbstorganisierende System allzu filigran und komplex. Ähnlich geht es in der Medizin zu: Die neuen Stars sind - mit vollem Recht - die Notfall-Operateure in Afghanistan und New York. Eine Woche vorher noch war die internet-übertragene mikro-invasive Fernoperation Tagesgespräch, jetzt geht es wieder um Landminenopfer und großflächige Verbrennungen, in der Psychologie um Traumatologisches.
Mittelfristig wird diese Verschiebung in der Aufmerksamkeit für einen kräftigen Schub, vielleicht gar für einen Paradigmenwechsel im Wissenschaftsbetrieb sorgen. Die Frage nach dem Nutzen und der Verfügbarkeit von Wissen ist dann nicht mehr nur an Begriffen wie Nachhaltigkeit, Codierung oder ökonomischer Resonanz anzugleichen, sondern wird recht simpel auf den praktischen Nutzen in Notfallsituationen hin gestellt, als Krisenintervention auf erhöhtem Niveau. Grundlagenforschung wird es in dieser Hinsicht schwerer haben denn je zuvor, aber für angewandte Gebiete scheinen goldene Zeiten anzubrechen. Die Kurzatmigkeit des Wissenschaftsbetriebs mit seiner Anbindung an universitäre Public Relation und die Unsicherheit des politischen Apparates wird einmal mehr sich zu einem Hecheln hinter den Hunden des Opportunen her verkürzen.
Doch sind dieser Entwicklung auch gute Seiten abzugewinnen. Die Projektion wissenschaftlicher Erkenntnis auf die Alltagssituation vieler Menschen ist angesichts einer solchen Häufung von Katastrophen, wie sie der Herbst 2001 erlebt, wieder leichter zu leisten - man glaubt jetzt eher, was man nicht schon vorher wusste. Das ist eine der besten Voraussetzungen für alle Erkenntnisinteressen, gerade im 21. Jahrhundert. Und es ist ein weiteres Indiz für die Möglichkeit wissenschaftlichen Arbeitens, den Kontakt zu denen zu halten, für die Erkenntnis tatsächlich etwas mit Aufklärung zu tun hat, jenseits von Glaube, Hoffnung und Heilsbotschaften.