Höchste Zeit für eine Agrarwende!
Wir müssen keine Exportweltmeister für Gemüse oder Fleisch sein. Vielmehr sollten wir Qualitätsweltmeister werden, fordert der ehemalige Sternekoch Franz Keller
Vor ein paar Wochen habe ich mal wieder meinen Freund und Nachbarn Antonius Witt auf seinem Wacholderhof in Erbach besucht. Wir sehen uns nicht sehr oft, was einfach daran liegt, dass wir beide selten die Zeit für einen kleinen Gedankenaustausch finden. Bei den Witts hat ein Arbeitstag locker zwölf Stunden, inklusive Wochenende. Der Wacholderhof ist noch ein klassischer Familienbetrieb und die Witts sind wirklich eine großartige Familie, die hier seit mehr als 30 Jahren Schweine züchten.
Der Wachholderhof ist das, was man einen konventionellen Betrieb nennt, aber eben keine Mastfabrik. Tierwohl ist bei den Witts keine leere Worthülse. Die Schweine von Antonius Witt leben im sozialen Verbund auf Stroh. In einem offenen Stall mit viel Licht und frischer Luft. Gerade überlegt Antonius, den Auslauf für die Schweine noch etwas zu vergrößern.
Auf seinen 150 Hektar Land baut er sein Futter weitgehend selbst an und hat auch genügend Fläche, um seine Gülle auszubringen, ohne das Grundwasser durch Überdüngung mit Nitrat zu belasten. Sein Sohn Frederic hat vor ein paar Jahren mit der Zucht von Hühnern zur Produktion von Eiern angefangen und verfolgt dabei ebenfalls ein Konzept, das eine gesunde Balance aus guter Qualität, Tierwohl, Umweltschutz und Ökonomie zum Ziel hat.
Seine Hühner leben im Hühner-Mobil, das vergleichbar mit einem großen Bauwagen ist. Aus ihrem fahrbaren Stall können sie jederzeit auf die abgezäunte Wiese inklusive Staubbad laufen und finden dort alles zu picken, was der Hühnermagen so braucht - von kleinen Steinchen bis zu Kerbtierchen. Und ist die Wiese abgegrast, dann zieht der Hühnerstall eben ein Stück weiter. Die Hühner haben wieder frisches Grün und die genutzte Fläche kann sich erholen. Auch das zusätzliche Körnerfutter bauen die Witts auf ihren Flächen selbst an. Also alles unter eigener Kontrolle, und deshalb beziehe nicht nur ich hier gerne meine Eier, die natürlich mehr kosten als ein Fake-Ei aus der Legebatterie. "Es gibt Leute", erzählt mir Frederic, "die kaufen hier bei mir die Eier, die sie zum Frühstück essen wollen, aber die Eier zum Backen kaufen sie im Supermarkt."
Aus meiner Sicht ist das natürlich eine Milchmädchenrechnung - und die völlig falsche Strategie. Man spart ein paar Cent pro Ei im Vergleich zu Frederics Freilandhaltung, unterstützt aber die brutale Käfighaltung und hat keine Ahnung, was die armen Kreaturen zu fressen kriegen, die hier Eier im Akkord legen und in ihrem ganzen Leben nie das Tageslicht zu sehen bekommen. Und außerdem bitte merken: Auch das minderwertige Ei, das "nur" zum Backen verwendet wird, landet im eigenen Magen.
Immerhin kann Frederic bei der Direktvermarktung über den eigenen Hofladen den Preis für seine Eier noch selbst bestimmen und seinen Kunden erklären, wie sein Preis zustande kommt. Bei seinem Vater sieht die Sache völlig anders aus. Der Kilopreis, den er für seine Schweine erwirtschaften kann, orientiert sich nicht daran, was Antonius in den Respekt vor seinen Tieren und eine am Tierwohl orientierte Haltung investiert, sondern viel mehr daran, wie hoch gerade der Bedarf an Schweinen in China ist, selbst wenn er seine Schweine nur hier in der Region vermarktet. Um halbwegs gesund zu wirtschaften, bräuchte er einen Preis zwischen 1,80 und 1,90 Euro pro Kilo Schlachtgewicht, doch es gibt Zeiten, da kriegt er nur etwas mehr als 1,30 Euro.
In der Küche geht es um das Wichtigste überhaupt: um unser Leben. Das zeigt der ehemalige Sternekoch Franz Keller in seinem neuen Buch "Ab in die Küche!" eindrücklich und fordert uns auf, uns von Fake-Food und Industriefertigessen zu verabschieden und wieder mehr selber zu kochen. Denn nur so können wir die Kontrolle über unser Essen zurückgewinnen und eine Menge Gutes für unsere Gesundheit und zur Rettung des Planeten tun. Franz Keller: "Ab in die Küche! Wie wir die Kontrolle über unsere Ernährung zurückgewinnen", 224 Seiten mit zahlreichen Fotos, Westend Verlag
Schon dieses kleine Beispiel zeigt, auf welch krankem Weg wir in einer globalisierten Agrarwirtschaft unterwegs sind. Masse statt Klasse heißt das Prinzip. In immer größeren Mastfabriken werden die Schweine, Hühner und Rinder zu immer günstigeren Preisen produziert. So ist Deutschland in den letzten Jahrzehnten zum weltweit drittgrößten Exporteur von Lebensmitteln geworden. Eine perverse Entwicklung, wenn man sich mal die Konsequenzen anschaut.
Um die industrielle Fleischproduktion am Laufen zu halten, wird in den deutschen Mastfabriken jede Menge Kraftfutter benötigt, hauptsächlich Soja. Die proteinreiche Bohne wird in riesigen Monokulturen vorwiegend in Brasilien, Argentinien und den USA angebaut. In den letzten zehn Jahren ist die Anbaufläche in diesen Ländern um 40 Prozent gewachsen. Allein für die deutschen Mastfabriken wächst hier Soja auf einer Fläche von rund 2,7 Millionen Hektar.
Um das mal anschaulich zu machen: Für Fake-Food aus unseren Mastfabriken wird in diesen Ländern Futter auf einer Fläche angebaut, die ungefähr der gemeinsamen Fläche von Hessen und dem Saarland entspricht. Unfassbar! Wenn wir also den völlig durchgeknallten brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro zu Recht dafür kritisieren, dass er den Schutz des Regenwaldes aufgehoben und weiter riesige Waldstücke für neue Ackerflächen abholzen oder abbrennen lässt, müssen wir uns eben auch sehr ernsthaft klarmachen, was das mit unseren Lebens- und Ernährungsgewohnheiten zu tun hat. Übrigens: Der größte Teil des Saatgutes auf diesen riesigen Monokulturen kommt von den großen US-Gentechnikkonzernen.
In der EU, also auch in Deutschland, ist der Anbau gentechnisch veränderter Sorten zwar verboten und die überwiegende Mehrheit der Deutschen lehnt gentechnisch veränderte Grünpflanzen klar ab. Im Tierfutter aber ist die Gentechnik erlaubt und der Anteil des in Deutschland verfütterten Gensojas liegt bei über 80 Prozent. Das ist doch wirklich komplett bescheuert.
Wir führen also gewaltige Mengen an Futter nach Deutschland ein, das in riesigen Monokulturen erzeugt wurde, damit die deutschen Billigfleischexporte weiter steigen können, die sich bei Schweinen und Hühnern in den letzten zehn Jahren verdoppelt haben. So ruinieren wir nicht nur in vielen anderen Ländern bäuerliche Strukturen, sondern auch unsere Böden und unser Grundwasser. Die in der Massentierhaltung entstehende Gülle schicken wir ja nicht in die Länder der Futterlieferanten zurück, sondern verteilen sie auf unseren Feldern, wo seit Jahren die Nitratbelastung des Grundwassers als Folge einer massiven Überdüngung weit über dem Grenzwert von 50 Milligramm pro Liter liegt. Ein wirklich kranker Kreislauf.
Wie massiv die Belastung unseres Grundwassers inzwischen ist, belegt die angedrohte EU-Strafzahlung von 850.000 Euro täglich, wenn der Nitratgehalt in Deutschland nicht schnellstens reduziert wird. Hier haben ja kürzlich die deutsche Umweltministerin Svenja Schulze und unsere Lobbymin..., Entschuldigung, Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner ihre Vorschläge für eine neue Düngeverordnung vorgelegt und in stark belasteten Gebieten eine Reduzierung der Stickstoffdüngung um 20 Prozent vorgeschlagen. Das klingt ja erst einmal nach einem ordentlichen Schritt, der Bauernverband hat auch pflichtgemäß aufgejault und sofort von der Existenzbedrohung der deutschen Bauern gefaselt. Für mich aber ist das nur ein schönes Beispiel dafür, wie Agrarpolitik hierzulande funktioniert - tricksen, täuschen, verschleiern.
Als 2017 die letzte Fassung der Düngeverordnung im dafür zuständigen Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft diskutiert wurde, empfahlen die um Rat gefragten Wissenschaftler eine Obergrenze von 150 Kilo Dünger pro Hektar als völlig ausreichend für das Pflanzenwachstum. In der finalen Version dieser Verordnung wurde aber eine Obergrenze von 200 Kilo pro Hektar festgelegt, also ein gutes Drittel mehr. Die Folge: weiter steigende Nitratwerte.
Sowohl die Umweltministerin als auch die Landwirtschaftsministerin müssten also wissen, dass die jetzt vorgeschlagene Reduzierung um 20 Prozent nicht ausreicht, um unser Nitratproblem zu lösen, denn es müssten mindestens 30 Prozent sein, um wenigstens annähernd den von der Wissenschaft empfohlenen Grenzwert einzuhalten. So etwas nennt man Augenwischerei und Verbraucherverarschung. Die Ministerinnen trauen sich nicht, die richtigen und radikalen Schritte zum Gesundheitsschutz der Bevölkerung einzuleiten, weil sie selbst in einem dichten Lobbynetzwerk aus Agrarindustrie, Bauernverband und Politik verfangen sind, das in Sachen Transparenz und ethischer Grundwerte ungefähr auf dem Level des Fußballweltverbandes FIFA agiert.
Der Naturschutzbund NABU hat kürzlich in einer Studie das Netz der Agrarlobby in Deutschland durchleuchtet. Die vom Institut Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen durchgeführte Studie belegt, dass eine relativ kleine Gruppe von Vielfachfunktionären alle wichtigen Schlüsselpositionen in der Agrarindustrie und der Agrarpolitik besetzt und so ein Lobby-Netzwerk installiert hat, das über 560 Verbindungen und große Netzwerkknoten in Berlin und Brüssel verfügt.
Bestes Beispiel ist der Präsident unseres Deutschen Bauernverbandes, Joachim Rukwied, der nicht nur zeitgleich Präsident des europäischen Bauernverbandes ist, sondern noch mindestens achtzehn weitere einflussreiche Positionen in Aufsichtsräten der Agrarindustrie innehat. Wie er bei derartiger Ämterhäufung nicht nur die Interessen der globalen Agrar- und Ernährungswirtschaft, sondern auch noch die Anliegen der Landwirte unter einen Hut bringen will, fragt sich nicht nur NABU-Präsident Olaf Tschimpke, der die Studie so zusammenfasst: "Seit Jahren werden Entscheidungen gegen das Gemeinwohl getroffen, bei der Düngeverordnung genauso wie bei der Verteilung der milliardenschweren Agrarsubventionen."
Mit 55 Milliarden Euro sind diese Agrarsubventionen bis heute der größte Posten im EU-Haushalt und sie werden nicht als Steuerungsinstrument für eine gesunde Landwirtschaft genutzt, sondern schlicht nach Fläche verteilt. Die Großen kriegen viel, die Kleinen wenig. Subventioniert werden die Industrie und der Grundbesitz und nicht die Arbeit des Landwirtes oder sein Nutzen für Natur und Gesellschaft.
Erinnert sich vielleicht noch jemand an Christian Schmidt, den Vorgänger von Julia Klöckner, der damals in Brüssel im Alleingang und gegen den ausdrücklichen Willen des Umweltministeriums für die Genehmigungsverlängerung des Unkrautvernichters Glyphosat gestimmt hat? Auch seine Nachfolgerin ist in dieser Hinsicht voll auf Linie. Unter ihrer Zuständigkeit wurden kürzlich achtzehn Pflanzenschutzmittel zugelassen, denen das Umweltbundesamt "erhebliche negative Auswirkungen auf die biologische Vielfalt, insbesondere auf die Insektenwelt" attestiert hat, weil sie unter anderem Glyphosat oder das Insektizid Cyantraniliprol enthalten, das auch für Bienen giftig ist.
So funktioniert unsere Landwirtschaftspolitik und es kann sicher niemanden verwundern, warum sich weder ein Kleinstbauer wie ich noch ein Familienunternehmen wie der Wacholderhof meines Freundes Antonius Witt noch vom Bauernverband vertreten fühlen. Denn der kümmert sich lieber um die großen Player im globalen Agrarmarkt: die Agrarchemiekonzerne, die ihre Kohle mit Pestiziden und Medikamenten verdienen, den Agrarhandel, der die Futtermittel und den Dünger verkauft, die Agrarfinanzwirtschaft, die die Kredite für die immer größeren Ställe und Maschinen bereitstellt, oder die Fleischindustrie, die überwiegend mit Billiglohnkräften ihren Profit beim Schlachten und Zerlegen einfährt.
Ganz hinten steht in dieser gut geschmierten Profitmaschine der Landwirt, dem von seinem Schwein im Glücksfall 20 Euro Gewinn bleiben. Um das mal klar zu sagen: Wir subventionieren mit unserer Art der industrialisierten Landwirtschaft ein System, das die Umwelt zerstört, das Klima schädigt, das Tierwohl missachtet und die Menschen krank macht. Warum??? Jedes vierte Fleischprodukt aus der Mastfabrik stammt inzwischen von einem kranken Tier. Jedes fünfte Schwein aus der Intensivhaltung schafft es noch nicht einmal bis zum Schlachthof, was bedeutet, dass wir pro Jahr an die 13 Millionen Schweine, die ein qualvolles Leben haben, für den Müll produzieren.
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