Höhere Löhne: Wer ist weltfremd?
Die Inflationsrate steht bei knapp acht Prozent; IG-Metall fordert eine Lohnerhöhung um acht Prozent. Arbeitgebervertreter argumentieren mit einer kommenden Rezession. Der Staat soll helfen.
Wie eng lässt sich der dauernd beschworene Gürtel schnallen? Geht es nach dem Präsidenten des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Stefan Wolf, sollen die Mitarbeiter der Metall- und Elektroindustrie die steigenden Preise ohne Gehaltserhöhung bewältigen. Die Forderung nach einer Lohnerhöhung um acht Prozent, wie sie die IG Metall im Frühsommer beschlossenen hatte, falle für ihn "völlig aus der Zeit" und zeuge von einer "gewissen Weltfremdheit", sagte er der Welt, Mitte August.
Mitte September, am 13.09. 2022, meldet das Statistische Bundesamt eine Teuerungsrate von fast acht Prozent im August. Die Inflationsrate ist gegenüber Juli um 0,4 Prozentpunkte auf 7,9 Prozent gestiegen. Seit einem halben Jahr "verweile" sie deutlich oberhalb von sieben Prozent, so die amtlichen Statistiker. Als Hauptursachen für die hohe Inflation werden Preiserhöhungen bei den Energieprodukten und bei Nahrungsmitteln angeführt.
Die Energieprodukte hätten sich im August im Vergleich zum Vorjahr um 35,6 Prozent verteuert, die Haushaltsenergie um 46,4 Prozent (Heizöl plus 111,5 Prozent; Gas plus 83,8 Prozent und Strom plus 16,6 Prozent). Die Teuerung für Kraftstoffe liegt laut Destatis für August 2022 bei plus 16,5 Prozent.
"Acht Prozent, das ist machbar, und das passt in die Zeit", sagte der niedersächsische IG-Metall-Bezirksleiter Thorsten Gröger gestern. Niedersachsen machte den Auftakt zur Lohnrunde in der Metall- und Elektroindustrie. Die Bezirke Baden-Württemberg, Bayern und Nordrhein-Westfalen sollen im Lauf dieser Woche folgen. Die Branche zählt etwa 3,8 Millionen Beschäftigte. Sie arbeiten in der Autoindustrie, bei Herstellern und Zulieferern, im Maschinenbau, in Eisengießereien; auch Medizintechnikhersteller gehören dazu.
Krisen und Horrormeldungen
Das Besondere bei der Lohnrunde in diesem Jahr sind die Horrormeldungen, die Ängste und die Krisen obendrauf auf dem üblichen Gezänk vor dem Kompromiss.
Das Wirtschaftsmagazin Makroskop berichtet in der aktuellen Ausgabe von einem rapiden Auftragsrückgang im verarbeitenden Gewerbe in Deutschland im zweiten Quartal 2022 (Bezahlschranke). Zurückzuführen sei das insbesondere auf den Rückgang der Auslandsaufträge. Gegenüber dem Vorquartal sei das Volumen um 8,5 Prozent geschrumpft.
Außerhalb der Eurozone hätten die Auftragseingänge im zweiten Quartal im Vergleich zum Vorquartal um 12 Prozent abgenommen. Der Rückgang der Auftragseingänge aus der Eurozone betrage zwei Prozent. Die Erwartungen der Industrie trüben sich ein, der Pessimismus herrsche aus gutem Grund, so das Wirtschaftsmagazin in seinem Konjunkturbericht mit den Zahlen vom Juni dieses Jahres:
Für die deutsche Industrie sind das Horrormeldungen. Die deutschen Autobauer, die gut jedes dritte Fahrzeug nach China verkaufen, fürchten, dass der Absatz in China weiter zurückgehen könnte – ein Rückgang, der im Jahr 2022 bereits 20 Prozent ausmacht.
Makroskop
Bertram Brossardt, Hauptgeschäftsführer der bayerischen Metallarbeitgeberverbände (855.000 Beschäftigte), der gegen die Acht-Prozent-Forderung der Gewerkschaft ebenfalls mit "fernab der aktuellen Realitäten" polemisiert, spielt gegenüber den Passauer Nachrichten die bekannte Weise auf.
Die Branche verzeichne "eine mittlerweile sinkende Produktivität und stark steigende Lohn-Stück-Kosten". Er befürchte, dass "die Musik künftig woanders auf der Welt spielt".
Vier von fünf Betrieben, so der CSU-Politiker Brossard, sollen dieses Jahr mit schrumpfenden Gewinnen rechnen, und ein Register weiter: "Es droht ein Abrutschen in die Rezession." Die nächsten zwei Jahre durchkommen, Arbeitsplätze sicherhalten und keine Betriebe aus dem Flächentarifvertrag treiben, lautet seine Parole für einen "elastischen Tarifvertrag".
Damit meint Brossard, dass die unterschiedliche Lage der einzelnen Betriebe berücksichtigt werde. Balancierte Lösung nennt er das.
Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sprach mit der FAZ über das Big Picture und antwortete auf Fragen danach, wie es unserer Wirtschaft geht:
Jeden Tag ziehen mehr Gewitterwolken auf. Eine Rezession schließe ich deshalb nicht aus. Es besteht eine reale Gefahr, dass uns Strukturen wegbrechen, die sich nicht ohne Weiteres wiederherstellen lassen.
Der Erfolg unserer Wirtschaft beruht wesentlich auf dem Zusammenspiel einer breitgefächerten Wertschöpfung am Wirtschaftsstandort Deutschland, von Grundstoffchemie und Stahlproduktion über Spezialglasherstellung und Maschinenbau bis hin zu Handwerk und Dienstleistungen.
Wenn da einzelne Bausteine herausbrechen, zum Beispiel durch Verlagerung in Länder mit niedrigeren Energiekosten, dann kann uns daraus sehr leicht ein dauerhafter Schaden entstehen.
Rainer Dulger, FAZ-Interview
"Nationaler Notstand"
Dulger hatte Ende Juni dem Hamburger Nachrichtenmagazin gegenüber großbildhaft geäußert, was er von Gewerkschaftsforderungen hält und welche Lösungen ihm so einfallen:
Im Zusammenhang mit Warnstreiks der Gewerkschaft Ver.di in Seehäfen hat Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger eine Einschränkung des Streikrechts ins Gespräch gebracht.
Die Ausstände in einer Zeit, in der die Unternehmen dringend Materialien brauchen, hätten ihm sehr missfallen, sagte Dulger vor Journalisten in Berlin. Vielleicht brauche man einen "nationalen Notstand", der auch Streikrecht breche.
Spiegel
"Die fetten Jahre sind jetzt erst mal vorbei", prognostizierte Dulger im Juni und hatte eine bewegte Wandtapete vor Augen: Deutschland sei viele Jahre durch eine "Wohlstands- und Wohlfühloase" getaumelt. Damit sei jetzt Schluss, so der Arbeitgeberpräsident gegenüber dem Spiegel. "Deutschland sei nur stark, wenn die Wirtschaft stark sei."
Jetzt fordert Dulger die Hilfe des Staates, damit den Arbeiterinnen und Arbeitern mehr "Netto vom Brutto" bleibt, "um der Inflation zu trotzen".
Für die Rote-Fahne-News passen die Nullrunden-Äußerungen von Gesamtmetallchef Stefan Wolf gut zum Wirklichkeitsbild Dulgers. Sie rieten dem Arbeitgeberpräsidenten im August, als dieser sich zu den Hafenstreiks äußerte, dass er doch mal "eine Schicht hart körperlich im Hafen arbeiten" solle.
Dann würde er schnell merken, dass dabei von "Wohlfühlen" oder "Oase" keine Spur zu finden ist. Von Wohlstand könne bei den Löhnen, die gezahlt werden, zumal bei den steigenden Kosten nicht die Rede sein.
IG-Metall-Vorsitzender Jörg Hofmann kontert nun ähnlich bodennah auf die Forderung nach dem Enger-Schnallen der Gürtel. Die Metaller hätten in der Pandemie "Verantwortung und Solidarität" mit den Betrieben in Form von Lohnzurückhaltung gezeigt.
Jetzt, wo die Belastungen immer weiter steigen - im Supermarkt, an der Zapfsäule, in der Kneipe -, sollen die Kolleginnen und Kollegen den Kopf einziehen und sich in Bescheidenheit üben?
Jörg Hofmann
Das ist natürlich eine rhetorische Frage: "Das würden sie nicht tun."