Hölle, Hölle, Hölle

David Peace: Es gibt keine Gerechtigkeit, keinen Trost und keine Rückkehr zur sicheren Ordnung

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Verdammt sind sie alle. Aber der Kosmos von David Peace hält einen besonderen Kreis des Infernos bereit für jene, die sich anmaßen, an eine Chance zur Erlösung, Waschung von der Schuld zu glauben. Dabei sind sie weit entfernt davon, so was wie Helden zu sein, diese Protagonisten. Es geht ihnen nicht einmal um höhere Gerechtigkeit oder Schutz der Gemeinschaft. Ihre Suche nach der Wahrheit ist viel eher von persönlichen Dämonen getrieben.

David Peace

Da ist, in "Nineteen seventy-four", der junge, aufstrebende Kriminalreporter Ed Dunford, dem es vordergründig um die eigene Karriere geht, und dessen Zorn und Trauer ob all der Toten sich insgeheim daraus speist, dass er den Tod seines eigenen Vaters noch nicht verarbeitet hat. Und da sind, in "Nineteen seventy-seven", Dunfords Vorgänger und Rivale, der alte, ausgebrannte Reporter Jack Whitehead, und Bob Fraser, der 1974 wie der einzig halbwegs anständige Polizist in Yorkshire schien und Dunfords Helfer wurde. Aber beide leben noch im Schatten von dem, was '74 geschah, und beide fangen Beziehungen zu Prostituierten an - vielleicht muss man es auch Liebe nennen, sofern es in Peaces Welt so was gibt -, was sie persönlich zu betroffen macht, ihnen zum Verhängnis wird, als 1977 das Morden weitergeht.

"Nineteen seventy-four" und "Nineteen seventy-seven" sind die ersten beiden Bände in David Peaces "Red Riding Quartet", und sie liegen nunmehr, mit reichlicher Verspätung (die Originalausgaben erschienen 1999 und 2000), beide in deutscher Übersetzung vor (als "1974" und "1977"), verschafften Peace den Deutschen Krimipreis 2006.

Sein eigenes Universum

Der Vergleich von David Peace mit James Ellroy ist ebenso unoriginell wie völlig unvermeidlich. Was der US-amerikanische Großmeister des ultraharten Neo-noir mit seinem "L.A. Quartet" für Südkalifornien geleistet hat, das versucht Peace nun für Nordengland zu wiederholen. Und das Resultat ist einer jener seltenen Glücksfälle künstlerischer Nachahmung, in denen das Vorbild unverkennbar und tief prägend bleibt, es aber dennoch in neuem Kontext fruchtbar und eigenständig gemacht wird. Bei allen Ähnlichkeiten gelingt Peace eben nicht nur eine Imitation, sondern eine wirkliche Transposition - und das nicht nur geografisch und historisch, sondern weltanschaulich. Peace greift weitgehend Ellroys Stil und Technik auf, aber er schafft damit sein eigenes Universum.

Wie Ellroy schreibt Peace "Nineteen seventy-seven" (und, wie sich erst rückblickend zeigen wird, auch "Nineteen seventy-four") in die Buchränder der echten (Kriminal-)Geschichte: Er fiktionalisiert die Jagd nach dem Yorkshire Ripper, der nach offizieller Darstellung zwischen Oktober 1975 und November 1980 dreizehn Frauen ermordet und sieben weitere attackiert hat. Der Fall gilt als gelöst, Peter Sutcliffe wurde für die Verbrechen verantwortlich gemacht und verurteilt. Aber schon die Widmung des Romans verrät, dass Peace sich (zumindest in seinen Büchern) mit dieser einfachen Version nicht zufrieden gibt: "This book is dedicated to the victims of the crimes attributed to the Yorkshire Ripper, and their families." 'Die dem Yorkshire Ripper ZUGESCHRIEBENEN Verbrechen', heißt es da.

Eine unheilige Schlangengrube

Und es geht Peace nicht um die eher simple Verschwörungstheorie von Noel O'Gara, nach der ein Teil der Morde auf das Konto eines anderen Mannes gehen. Ganz Yorkshire ist - ähnlich Ellroys L.A. - bei Peace eine einzige Eiterbeule der Korruption, schwärend von Gewalt, Rassismus, Homophobie, Bestechlichkeit, Perversion und Prostitution. Peaces Protagonisten haben dagegen nie eine Chance: Selbst wenn Dunford, Whitehead und Fraser selbst weniger durch ihre eigenen Lügen und Obsessionen korrumpierte Männer wären, sie stünden allein. Denn am tiefsten in alldem verstrickt, die furchteinflößendste Macht in der unheiligen Schlangengrube ist die Polizei.

Soweit so böse, so Ellroy. Aber die Unterschiede sind dann doch tiefgreifender, als nur dass in "Nineteen seventy-four" noch, ganz britisch, selbst inmitten des Infernos immer erstmal der Teekessel aufgesetzt wird. Peaces Sprache und Erzählstil teilen mit denen Ellroys die Tendenz zur extremen Verknappung und Rhythmisierung, zur Konzentration auf im Idiom sehr genaue, oft unflätige Dialoge. Aber er passt dies an sein Land, seine Menschen an: Wo Ellroy Stakkato-Jazz schreibt und tänzelnde Wort-Boxkämpfe, die mit flinken Links-Rechts-Kombinationen und Jabs die Deckung abchecken, um dann zum entscheidenden Magenschwinger auszuholen, da erinnert Peace mehr an Punk-Musik und Fights auf Pub-Parkplätzen - alles etwas grober, geradliniger, aber nicht minder mit Wucht. Soweit sich das lediglich anhand von ein paar Stichproben beurteilen lässt, scheint Peter Torbergs Übersetzung redlich, kompetent und nicht ohne Erfolg bemüht, dafür ein deutsches Äquivalent zu finden - ohne wirklich die rüde, dreckige, derbe Poesie des Originals erreichen zu können.

Peaces Werke sind - wie die Ellroys - "Männerbücher". Sie sehen die Welt ganz aus der Sicht ihrer männlichen Protagonisten, sie drehen sich ganz um das Schicksal dieser Männer: Frauen sind nur Katalysatoren, Dreh- und Angelpunkte, Fixsterne in ihrem Männer-Kosmos. Die lebenden und toten weiblichen Körper sind Anfangs- und Endstation der Hoffnungen auf Vergebung, Erlösung, Erfüllung ebenso wie der Urteile der Verdammnis.

In "Nineteen seventy-four" sind es die Leichen unschuldiger kleiner Mädchen - denen man abgeschnittene Schwanenflügel an den Rücken genäht hat - die Dunfords Unheil in Gang setzen. Es ist eine mit atemloser, heißer Wut sich beschleunigende Höllenfahrt, ein einziger, fortreißender Strudel von einem Roman. "Nineteen seventy-seven", dessen Kapitel zwischen seinen zwei Protagonisten alternieren, wirkt ein wenig methodischer, rast - auch wenn es von nicht weniger Alkohol angetrieben wird - nicht ganz so rauschhaft in die Tiefe. Aber es ist dennoch das noch radikalere Buch: "Nineteen seventy-four" wirft einem noch (scheinbar) alle nötigen Puzzleteile zu - so schnell, verknappt und kursorisch, dass man fürchten muss, nicht alle zu fangen, und so, dass man sie erst, nachdem man aus dem Mahlstrom des Romans wieder aufgetaucht ist, rückblickend in Ruhe zum Gesamtbild zusammensetzt.

Es gibt keine echte Gerechtigkeit, keinen Trost und keine Rückkehr zur sicheren Ordnung in dem Buch, aber es gibt dennoch eine Art von "closure". "Nineteen seventy-seven" verweigert einem selbst das. Was nicht allzu überraschend kommt, denn die Morde des Yorkshire Rippers wurden bekanntlicherweise erst im Januar 1981 offiziell aufgeklärt. Aber noch mehr als im Vorgängerband wird hier klar, dass die Verbrechen kein lokaler Krankheitsausbruch in einer gesunden Gesellschaft sind, sondern dass in ihnen die Oberfläche aufbricht und den Blick auf einen im Kern kranken Organismus freigibt: Diese Morde sind Wunden, die nicht zu schließen sind.

Ein immer wiederkehrender, blutiger Ritus

Und so tut einem dieser Roman auch nicht den Gefallen, sie mit ein paar kriminalistischen Stichen zu nähen und mit dem Pflaster einer "Aufklärung" zu bedecken. Sie bleiben offen, als Infektionsherde und Symptome. Whitehead und Fraser, die sich, fast ungewollt, auf die Suche nach der Wahrheit hinter der offiziellen Lügengeschichte begeben, stecken sich an und finden nur ihre eigene Verdammnis bestätigt und beschleunigt. So liest sich eine Zugfahrt Whiteheads gegen Ende des Buchs:

I didn't stop in Bradford, just changed trains for Leeds and sat on another slow train through hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell, hell:Hell.

Auch das kennt man ähnlich von Ellroy. Der entscheidendste Unterschied zwischen Peace und ihm ist aber, dass "Hölle" bei Peace nicht nur metaphorisch gemeint scheint. Bei Ellroy sind es Politik, Macht und individuelle Obsessionen, die das ganze Elend seiner im wahrsten Wortsinn gottlosen Welt erklären. Die Welt von Peace allerdings ist lediglich gottverlassen: Sie ist an den Teufel gefallen, aber sie kennt noch eine Metaphysik.

In "Nineteen seventy-four", das in den anderthalb Wochen vor Weihnachten (!) spielt, gibt es als Randfigur ein Medium, das offenbar tatsächlich seherische Fähigkeiten besitzt und das spürt, dass Dunford durch seine Involviertheit mit den Morden von einer regelrechten Wolke des Todes umgeben ist. Die Handlung von "Nineteen seventy-seven", dem ein Bibelzitat vorangestellt ist, trägt sich während der Feierlichkeiten zum 25. Thronjubiläum von Queen Elizabeth II. zu - das "Silver Jubilee" im Jahr '77, "when the two sevens clash", in der Reggae-Mythologie ein Jahr der Apokalypse. Jack Whitehead wird umgetrieben von den Erinnerungen an einen tödlich endenden, angeblichen Exorzismus - ein Fall, der wie ein Phantom durch das Buch spukt, es immer nur bruchstückhaft und kurz sichtbar werdend heimsucht.

"Nineteen seventy-seven" öffnet sich - vor allem in seiner delirierenden Schlusspassage - von einer infernalischen Ansicht eines spezifischen Orts und einer Ära, dem Yorkshire 1977, zu einer Lesart der Verbrechen in einem überzeitlichen, geradezu mystischen Kontext. Mann und Frau, Tote und Lebende, Gut und Böse, Vergangenheit und Gegenwart scheinen da nur wie endlose Spiegelungen in einem immer wiederkehrenden, blutigen Ritus. Da ist der bessere (und auch in Peaces Roman relativ explizit nahe gelegte) Vergleich nicht Ellroy, sondern Alan Moores Epoche machendes Jack the Ripper-Panorama "From Hell". Und das nicht nur, weil der Titel so schön passt.

David Peace: "Nineteen seventy-four", 295 S., Serpent's Tail, London 1999
"Nineteen seventy-seven, 341 S., Serpent's Tail, London 2000
deutsch: "1974", 383 S., Heyne, München 2006, EUR8,95
"1977", 396 S., Liebeskind, München 2006, EUR22,-

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