Holpriger Kurswechsel
Polens neuer Premier Donald Tusk bemüht sich um eine Neuausrichtung der polnischen Außenpolitik
Von der einstmaligen Blockadehaltung Polens war bei der feierlichen Verabschiedung des Vertrags von Lissabon nicht viel zu spüren. Polens rechtsliberaler Premier Donald Tusk und Außenminister Radoslaw Sikorski unterzeichneten anstandslos gemeinsam mit den anderen Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union die als "Reformvertrag" reanimierte, bereits bei zwei Referenden gescheiterte EU-Verfassung. Polen will die Ratifizierung des Vertragswerks umgehend auf den parlamentarischen Weg bringen, sogar noch vor Deutschland. Schon die euroskeptische Vorgängerregierung unter dem rechtskonservativen Jaroslaw Kaczynski gab Mitte 2007 nach einer massiven Einschüchterungskampagne ihren Widerstand gegen die Neuauflage des europäischen Verfassungsprojekts auf.
Tusk, dessen rechtsliberale "Bürgerplattform" PO als Siegerin aus den vorgezogenen Wahlen am 21. Oktober hervorging (Polens Rückkehr zur Normalität), konnte zumindest offiziell für sich in Anspruch nehmen, hier für außenpolitische Kontinuität einzustehen. Ähnlich argumentierte Polens Regierungschef bei seiner Weigerung, die EU-Grundrechtecharta zu ratifizieren, da er hier die "Stimme seiner Vorgänger" respektieren wolle. Somit gehört Polen neben Großbritannien zu den beiden Ländern, die diese grundlegende Menschenrechtsdeklaration ablehnen. Dabei unterscheidet sich die Motivation Tusks durchaus von der seines Vorgängers Kaczynski. Während sein als "Law and Order"-Sheriff geltender Amtsvorgänger sich u.a. an dem in der Charta festgehaltenem Verbot der Todesstrafe störte (Polens religiöser Sonderweg bei den europäischen Menschenrechten, sind es beim rechtsliberalen Tusk die sozialen Mindeststandards, die ihm ein Dorn im Auge sind.
Bei der Ablehnung von grundlegenden Menschenrechten hören aber auch schon die Gemeinsamkeiten zwischen Vorgänger und Nachfolger im Amt des polnischen Regierungschefs auf. Die Kaczynski-Zwillinge sind allerdings durchaus in der Lage, den zukünftigen Kurs der polnischen Außenpolitik zumindest zu beeinflussen. Der abgewählten rechtskonservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) steht mit dem durch Lech Kaczynski ausgeübten Amt des Präsidenten noch ein nicht unerhebliches Machtmittel zur Verfügung. Zwar nimmt auch der polnische Präsident größtenteils nur repräsentative Funktionen wahr, doch in der Außenpolitik soll er laut Verfassung mit dem Ministerpräsidenten und dem Außenminister zusammenarbeiten. Zudem kann Polens Staatschef alle Gesetze mit einem Veto blockieren, dass erst mit drei Fünfteln aller Parlamentsstimmen zurückgewiesen werden kann.
Zurück ins "Zentrum der EU"?
Schon im Vorfeld der feierlichen Unterzeichnung des EU-Vertrages in Lissabon kam es zu einem Kalten Krieg zwischen Staats- und Regierungschef, da Präsident Kaczynski unbedingt auch am Brüssler EU-Gipfel am 14. Dezember teilnehmen wollte. Dies lehnte Tusk kategorisch ab, da er wohl Eigenmächtigkeiten und Querschüsse des euroskeptischen Präsidenten fürchtete.
In der außenpolitischen Gretchenfrage der europäischen Integration können die Standpunkte - und somit der von Tusk initiierte Politikwechsel - zwischen Regierung und Opposition kaum größer sein. Sahen die Kaczynskis die EU eher als ein notwendiges Übel an, mit dem man sich möglichst vorteilhaft zu arrangieren habe, so überbietet sich Polens neuer Regierungschef mit proeuropäischen Lobeshymnen. Er wisse gar nicht, ob er noch ins Ausland fahre, erklärte der frisch gewählte Tusk am Vorabend seines Antrittsbesuchs in Brüssel. Seine Bürgerplattform bezeichnete ihr Vorsitzender als die "europäischste Partei Polens".
In einer entsprechend freundlichen Atmosphäre fand die Antrittsvisite des polnischen Ministerpräsidenten bei EU-Kommissionspräsident Barroso statt, der Tusk als einen "guten Freund" bezeichnete und Verständnis für die Weigerung Polens zeigte, die Grundrechtecharta zu unterschreiben: "Wir können gut verstehen, warum das derzeit nötig ist. Dies ist eine Sache, welche die Polen selber entscheiden müssen." Diese neue Harmonie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass längst nicht alle Streitpunkte zwischen Polen und der EU ausgeräumt seien: "Vertrauen ist nicht gleichbedeutend mit gleicher Meinung", stellten Tusk und Barroso gegenüber Journalisten klar.
Größere Differenzen bestehen zum Beispiel in der Umweltpolitik. Bislang kann man also vor allem von besseren und freundlichen Umgangsformen zwischen Brüssel und Warschau sprechen. Die neue polnische Regierung wird weiterhin ihre nationalen Anliegen verfolgen, sie will dies aber vermittels integrativer Politik und nicht durch Blockaden erreichen.
Berliner Harmonie
Eine lockere, fast schon freundschaftliche Atmosphäre kennzeichnete auch die Berlinvisite des polnischen Regierungschefs, bei der ein Neuanfang in den arg zerrütteten, deutsch-polnischen Beziehungen gewagt werden sollte. Die WELT wollte einen nahezu intimen Umgang beider Regierungschefs ausgemacht haben, wenn das Springer-Blatt ein geflüstertes "Du", eine leichte Berührung am Ellenbogen, oder die am Rednerpult "eng zusammengesteckten" Köpfe Merkels und Tusks ausgemacht haben will.
Neben dem ausgesprochen freundlichen Umgangston und einer fast schon verkrampft wirkenden Harmonie zeitigte das Treffen der polnischen und deutschen Regierungschefs kaum nennenswerte Ergebnisse. Bei der Frage der zwischen Russland und Deutschland geplanten Ostsee-Pipeline, die von Polen, Schweden, Finnland und den Baltischen Ländern vehement kritisiert wird, gab es nur marginale Bewegung. So bot Berlin wiederum Warschau eine unverbindliche "Zusammenarbeit" an dem Projekt an; erneut kam auch die Option einer nach Polen abzweigenden Leitung der Ostseepipeline ins Gespräch - doch beide Angebote wurden auch der polnischen Vorgängerregierung unterbreitet. Ähnlich verhält es sich mit der Zusicherung von Kanzlerin Angela Merkel, die von der Preußischen Treuhand gegen die Republik Polen gerichteten Entschädigungsforderungen nicht zu unterstützen. Auch diese Zusagen erhielt die Kaczynski-Regierung aus Berlin zuhauf, doch auf einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag, der private Entschädigungsklagen deutscher Staatsbürger gegen Polen zurückweisen würde, ließ sich Merkel abermals nicht ein.
Besondere Enttäuschung in der neuen polnischen Administration dürfte die deutsche Zurückweisung eines geschichtspolitischen Kompromisses ausgelöst haben, den Tusk im Vorfeld seiner Deutschlandvisite unterbreitete und der Bewegung in den festgefahrenen Streit um das in Berlin geplante "Zentrum gegen Vertreibungen" bringen sollte. Polens Premier griff den Vorschlag eines deutsch-polnischen Expertengremiums auf, der Kopermikus-Gruppe, der die Errichtung eines "Museums des Zweiten Weltkrieges" vorsieht. Im Rahmen dieses Projekts - und unter Berücksichtigung des historischen Kontextes, wie der kausalen Zusammenhänge von deutschem Vernichtungskrieg und Massenmord - sollte in Danzig auch des Schicksals der deutschen Vertriebenen gedacht werden. Dieses Projekt sollte für alle vom Zweiten Weltkrieg betroffenen Nationen offen sein, laut Tusk wäre insbesondere eine Teilnahme Russlands und Israels wünschenswert. In dem "Raport 14" titulierten Text der Kopernikus-Gruppe, die vom Deutschen Polen-Institut und dem Deutschland- und Nordeuropainstitut in Szczecin getragen wird, findet sich grundsätzliche Kritik am Konzept eines Vertriebenenzentrums:
Wer die Frage der "Vertreibung" als die elementare Erfahrung des 20. Jahrhunderts darstellt, verdreht das Bild von der Geschichte Europas. Außerdem werden die tatsächlichen Ursachen der Vertreibungen, die Kriege, insbesondere der vom nationalsozialistischen Deutschland verursachte Zweite Weltkrieg, und der Totalitarismus ausgeblendet. Wir sind der Ansicht, dass diese Fragen - nicht nur die Erinnerung an die Vertreibungen, sondern weiter verstanden: die Erinnerung an die Geschichte des 20. Jahrhunderts überhaupt - im Geist der deutsch-polnischen Verständigung gelöst werden können.
Kanzlerin Merkel bezeichnete dieses Vorhaben als eine "interessante Idee", doch an dem zum "sichtbaren Zeichen" umbenannten Vertriebenenzentrum will die deutsche Regierungschefin dennoch festhalten. Wiederum wurde Polen auch hierbei eine enge Zusammenarbeit und Abstimmung angeboten. Auch soll eine von Merkel ernannte Expertengruppe bald gen Warschau aufbrechen, um dort für das von der Großen Koalition geplante "Sichtbare Zeichen" zu werben.
Das geschichtspolitische Entgegenkommen Tusks, das von der polnischen Springer-Zeitung Dziennik konstatiert wurde, brachte ihm prompt harsche Kritik seitens der Opposition ein. Der PiS-Politiker Karol Karski kritisierte, dass ein solches Museum des Zweiten Weltkrieges die "Position der Henker und der Opfer" angleiche, wenn dort ebenfalls der Vertriebenen gedacht würde. Es sei egal, wo eine solche Erinnerungsstätte entstünde, sie würde "die Deutschen, die den Zweiten Weltkrieg entfachten, zu dessen Opfern machen - genauso wie die Polen, Juden und andere Völker," erklärte Karski gegenüber dem Fernsehsnder TNV24. Die "Polnische Treuhand" entstand als Reaktion auf die Gründung der "Preußischen Treuhand" und will Entschädigungsforderungen polnischer Opfer des deutschen Vernichtungskriegs in Osteuropa gegenüber Deutschland durchsetzen. Diese einflussreiche Organisation übte weitaus schärfere Kritik an Tusks Vorstoß:
Durch die Deklaration seiner Absicht, in Polen einen Ort zu schaffen, in dem auch - wie wir verstehen - deutscher Umsiedler gedacht werden soll, vollführt der Herr Premier einen Schritt zurück im Kampf um die historische Wahrheit und gegen den historischen Relativismus, der in letzter Zeit oft von deutschen Nationalisten propagiert wird.
Die halsstarrige Haltung der deutschen Regierung in dieser Frage verschafft der polnischen Opposition weiteren Auftrieb und bringt den um eine Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen ehrlich bemühten Tusk in die Defensive. Als eines der wenigen deutschsprachigen Medien erkannte ausgerechnet die Financial Times die Tragweite des geschichtspolitischen Kompromisses der neuen polnischen Regierung:
Tusks Konzept ist Ausdruck des Wunsches, das deutsch-polnische Verhältnis zu verbessern. Damit distanziert er sich von der krawalligen Deutschlandpolitik seiner Vorgängerregierung. Um die schwierigen Beziehungen zwischen Berlin und Warschau auf eine neue Basis zu stellen, muss jedoch auch Deutschland einen Beitrag leisten.
Liebesgrüße aus Moskau
Weitaus besser scheint es um die Normalisierung der polnisch-russischen Beziehungen bestellt zu sein. Hier senden sowohl Warschau wie auch Moskau von dem für Februar geplanten Moskaubesuch Tusks beständig Entspannungssignale. Zuletzt hat Moskau sogar das gegen Polen verhängte Embargo von Fleischprodukten aufgehoben und somit diesen seit Monaten schwelenden Handelskrieg beendet.
Aus dem Umfeld des polnischen Premiers hieß es schon umgehend nach dessen Regierungsantritt, dass "die neue Regierung Polens ein neues Kapitel in den polnisch-russischen Beziehungen im Geiste von Offenheit und Dialog eröffnen möchte." Der polnische Premier "will die Kanäle für einen Dialog auf allen Ebenen freilegen", lautete eine Erklärung des polnischen Außenministeriums.
Zu den wichtigsten Streitpunkten zwischen Warschau und Moskau gehört die in Polen geplante Raketenabwehr der USA, die von Russland heftig kritisiert und als Bedrohung des eigenen, atomaren Abschreckungspotentials wahrgenommen wird. Bei dieser Frage kündigte Polens Außenminister Sikorski intensive Verhandlungen an, um "die Position der russischen Seite zu diesem Problem genauer zu erfahren". Als Ergebnis eines kurzen Zusammentreffens zwischen Sikorski und seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow in Brüssel wurde bereits eine erste Stellungnahme publiziert, in der beide Staaten erklärten, "den Mechanismus eines Dialogs zu den strategischen Fragen, einschließlich der Raketenschild-Problematik, in Gang setzen." Inzwischen sickerte aus dem Kreml-Umfeld sogar durch, dass Polen sich eine "Beteiligung an der Ostseepipeline" durchaus vorstellen könne und somit die kategorische Ablehnung dieses Projekts aufgebe.
Distanzsuche zu den USA?
In der strategischen Partnerschaft Polens mit den USA finden sich hingegen erste Eintrübungen. In Sachen Raketenabwehr hält sich Polen inzwischen wieder alle Optionen offen, zudem formulieren PO-Größen eine bislang kaum vernommene Kritik an Washington: Der PO-Politiker Bronislaw Komorowski erklärte schon wenige Tage nach dem Wahlsieg seiner Partei, dass Polen zukünftig "Brüssel näher als Washington stehen" werde: "Wir sind Mitglieder der Europäischen Union und nicht der Vereinigten Staaten." Komorowskis fügte überdies hinzu, dass es "keinen Grund für besondere Eile in der Angelegenheit der Raketenabwehr" gebe.
Tusk kritisierte die Verhandlungsführung der Kaczynskis gegenüber den USA in Sachen Raketenschild wiederholt während des Wahlkampfes. Es gilt als gewiss, dass die neue Equipe um Tusk zumindest eine Neuverhandlung der Konditionen anstrebt, unter denen die US-Abfangraketen in Nordpolen aufgestellt werden sollen.
Ein zentrales außenpolitisches Wahlversprechen scheint der rechtsliberale Premier tatsächlich einhalten zu wollen. Die PO bleibt zumindest bislang dabei, die polnischen Truppen ab 2008 aus dem Irak abziehen zu wollen. Man werde die "Mission im Irak in dieser Form 2008 beenden", erklärte Tusk im Interview mit der Passauer Verlagsgruppe. Dies würde zumindest zu einer zeitweiligen Entfremdung zwischen Washington und Warschau führen.
Warschau scheint sich somit tatsächlich zumindest graduell von Washington zu entfernen und Brüssel, Berlin und Moskau anzunähern. Im besagten Interview mit der Passauer Neuen Presse kann man vielleicht - gewürzt mit einem Seitenhieb auf seinen Amtsvorgänger - auch das zentrale Motiv der geopolitischen Neuausrichtung Polens finden, die von Tusk forciert wird:
Ein in puncto deutsch-polnische Beziehungen viel klügerer Diplomat und Stratege als Jaros?aw Kaczynski ist für mich der Satiriker Stanis?aw Tym. Er hat mir gesagt, der ganze Witz bestehe darin, bessere Beziehungen mit Moskau zu haben, als Berlin sie hat, und bessere Beziehungen mit Berlin zu haben, als Moskau sie hat.