Homo ludens statt homo oeconomicus

Interview mit dem Konsum- und Marketingforscher Markus Giesler über den Erlebnisraum Tauschbörse

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Wie funktionieren Tauschbörsen eigentlich? Sind die Benutzer allesamt Raubkopierer, die einfach nur kostenlose Musik haben wollen? Ganz so einfach ist es nicht, wenn man nach Markus Giesler geht, der schon seit Jahren die Soziologie von Tauschbörsennutzern analysiert. Der "akademische Jungstar" (Handelsblatt) lehrt und forscht an der York University in Kanada.

Professor Giesler, Sie waren vor Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit selbst im Musikgeschäft.

Markus Giesler: Ich war von 1995 bis 2002 als Autor und Musikproduzent im eigenen Label tätig. Zuerst mit einem, später dann mit drei Tonstudios. Da habe ich ganz unterschiedliche Sachen produziert, von Pop, über Radiojingles bis hin zur Lounge Musik. Das war eine tolle Zeit.

Was hat sie zu dem Wechsel bewogen?

Markus Giesler: Irgendwann fand ich meine Musik im Internet wieder, raubkopiert. Da stand ich dann vor der Wahl: Verklage ich diese Leute jetzt oder will ich sie vielleicht verstehen? Ich entschloss mich für letzteres und begann 1997, parallel zu meiner Musikpraxis, die Zukunft der Zeitgeistindustrie in den Mittelpunkt eines Studiums der Wirtschaftswissenschaft in Witten und Chicago zu stellen.

Was kann die Wissenschaft, was die Musikindustrie mit ihren millionenschweren Marktstudien, Verkaufscharts und Trendscouts nicht kann?

Markus Giesler: Die Wissenschaft kann auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig tanzen. Die Musikindustrie hingegen ist momentan so sehr mit der Abarbeitung der eigenen Apokalypse beschäftigt, dass sie nicht sehen will, dass ihr eigenes Konsumentenbild einen elementaren Bestandteil dieser Apokalypse ausmacht. Dies gilt - mit den Worten Dirk Baeckers - für ihre Gefühle mindestens ebenso sehr wie für ihren Verstand, für ihr Wahrnehmungsvermögen ebenso wie für ihr Kommunikationsgeschick.

Marketing als Zweifrontenkrieg

Sie verwenden einen anthropologischen Ansatz - sprich: der Kunde wird erforscht wie ein fremder Volksstamm im Dschungel Südamerikas. Wo ist der Vorteil dieser Methode?

Markus Giesler: Marketing wird heute immer noch als Zwei-Frontenkrieg verstanden. An der einen Front steht die Konkurrenz, an der anderen der Kunde. Ziel ist die Eroberung von Aufmerksamkeitsterritorialen, nicht aber das Gespräch unter Freunden. Die Frage ist natürlich auch: Wo sollte man eigentlich stehen? Auf der Kommandobrücke der Organisation oder in der Lebenswelt des Konsumenten? Im Zuge zunehmender Technologisierung wird der Konsument zu einem gleichberechtigten Gesprächspartner. Er kann ja (in Grenzen) neuerdings auch weglaufen. Doch wie redet man mit jemandem, den man überhaupt nicht versteht? An dieser Stelle liefere ich das nötige Wissen.

Für eine Forschungsreise müssen Sie sich gut ausrüsten, um auf fremden Terrain zu bestehen. Wie bereiten sie sich auf ihre Online-Expedition vor? Gibt es Verständigungsprobleme?

Markus Giesler: Lange bevor ich mit dem ersten Informanten ins Gespräch gehe, treffe ich meine Reisevorbereitungen. Ich erforsche so gut es geht die Geschichte des jeweiligen Stammes, seine soziale, ökonomische und politische Natur, seine Normen, Riten und Tabus. Wer hat das Sagen? Wer nur Mitläuferstatus? Wo liegt eigentlich die Grenze zwischen Freundes- und Feindesland? Verständigungsprobleme gibt es im Feld andauernd. Das ist ja gerade der Schöne. Gäbe es die nicht, wäre meine Expedition auch überflüssig.

Was haben Ihre ersten Forschungen bei Napster ergeben?

Markus Giesler: Mein Interesse galt zunächst dieser unsichtbaren Unterscheidung, die Niklas Luhmann einmal als das "moralische Voltigieren auf den Pferden anderer" beschrieben hat. Auf der einen Seite gab es diese schöne neue Welt mit ihrer Ökonomie des Schenkens und ihrer würzigen Partisanenideologie, die sich gegen herrschende politische und wirtschaftliche Ungleichgewichte "da draußen" richtete. Auf der anderen Seite wurde all das ausschließlich aus der Unterscheidung zur alten Welt erzeugt, was diese gleichermaßen unverzichtbar machte. In der Inszenierung dieser Paradoxie steckte ein ganz wesentlicher Unterhaltungswert Napsters. Man könnte sogar sagen, der Kern der "Marke Napster" ist nicht etwa ihr Versprechen, sondern all das, was sie nicht verspricht. Das ist eine neue Qualität.

Ist es wirklich eine Ökonomie des Schenkens? Schließlich wollen viele Tauschbörsen-Nutzer Dateien nur herunterladen.

Markus Giesler: Natürlich könnte man auch sagen, es ginge einfach um die Gier nach Kostenlosem. Das ist jedoch eine sehr oberflächliche Darstellung, die dem Phänomen in seiner Komplexität nicht gerecht wird. Einige Konsumenten laden vornehmlich Information herunter. Andere machen beides. Ich erlebe auch Konsumenten, die mehr geben als nehmen und sogar solche, die nur geben. Wollen wir das wirtschaftliche Problem lösen, müssen wir erst einmal die ökonomische Brille absetzen. Dann sehen wir, aha, da ist kein homo oeconomicus am Werk, sondern ein homo ludens, ein spielender, ein verspielter Mensch. Erst dann können wir wieder die ökonomische Brille aufsetzen und uns fragen: wie kann ich da mitspielen?

Auf der Suche nach Erlebnisräumen

Können kommerzielle Musikplattformen überhaupt mit dem Unterhaltungswert des frühen Napster mithalten?

Markus Giesler: Ich denke schon. Die Zukunft liegt in der Gestaltung eines heteromorphen Erlebnisraums. Apple geht hier bereits einen sehr interessanten Weg. Denn einerseits bemüht man sich um eine funktionale Integration unterschiedlicher Erlebnisdimensionen, also der Vernetzung einzelner Produkte wie iTunes, iMovie, iTunes Musicstore, iPod usw.. Andererseits spielt die ideologische Inszenierung der Marke eine entscheidende Rolle. Apple ist eine Quasi-Religion inklusive Befreier Steve Jobs und Belzebub Bill Gates. Es zählt also auch der Unterhaltungswert der "Glaubensfrage". Woran glaube ich, woran nicht? Das ist ähnlich wie bei Napster.

Sie versuchen Ihre Forschungsergebnisse auch der Musikbranche zu vermitteln. Mit Erfolg?

Markus Giesler: Auf der einen Seite gibt es natürlich die Unternehmen der klassischen Copyright-Industrie. Die Manager dort empfinden meine Forschung als Zumutung im produktiven Sinne. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr junge Unternehmen, deren Manager sich ganz ohne Scheu mit den Ergebnissen meiner Forschung auseinandersetzen. In beiden Fällen kann ich mich über mangelnde Anschlussfähigkeit nicht beklagen.

Ist die Musikindustrie in der heutigen Art überhaupt zu halten?

Markus Giesler: Sicherlich nicht. Wir sind Zeugen einer erheblichen Kontextverschiebung in zwei Richtungen. Einerseits stehen wir vor einer Renaissance der lokalen Musikerlebnis-Provider, andererseits werden die Big Player über weitere Fusionen ihre Kräfte bündeln. In jedem Fall rückt die Welt des Kunden in den Mittelpunkt einer neuen, multidimensionalen Zeitgeistindustrie, die sich von der heutigen Musikindustrie stark unterscheidet.

Nach Amerika setzen auch die Musikverlage in Europa auf Repression und verklagen einzelne Tauschbörsennutzer. Kann diese Strategie aufgehen?

Markus Giesler: Auf keinen Fall. Wir erleben eine gewaltige Machtverschiebung von den Produzenten zu den Konsumenten. Es handelt sich hierbei um einen zweifelhaften Versuch, diese Verschiebung rückgängig zu machen, also das Risiko-Empfinden der Konsumenten nachträglich zu konditionieren. Über das Internet ist das Risiko des "Erwischtwerdens" jedoch so vernetzt, dass es kaum noch spürbar ist. Natürlich ist es illegal, aber aus individuellem Risiko wird kollektives Risiko, dezentrales Risiko. Fatal ist einzig und allein der Vertrauensschaden am Konsumenten.

Von Cyborgs und Lebensweltsimulanten

Warner Music zieht sich aus Deutschland zurück und will sich auf wenige Top-Stars spezialisieren.

Markus Giesler: Ein ähnlicher Rückzug auf die "eine Seite" der Globalisierung ist auch bei Universal beobachtbar. Man geht anscheinend davon aus, dass in der einfachen Kombination von Rationalisierung und globalisierter Repertoirepolitik das Geheimnis zukünftigen Erfolgs liegt. Doch woher kommen die Top-Stars eigentlich? Der Witz der Globalisierung liegt doch darin, dass sie über ihre topologische Struktur Funktionen zur Verfügung stellt, deren Zustandekommen nicht lokalisierbar ist. Die globalisierte Musikwelt speist sich also aus den lokalen Musikerlebnisräumen, welche sich wiederum aus der Bezugnahme auf die globalisierte Musikwelt speisen. Ich bezweifele daher stark, dass "French yet global" Bands wie Daft Punk oder Air oder auch "German yet global" Bands wie Kraftwerk, in Zukunft noch auftauchen werden, wenn man sich das "dazwischen" spart.

Was ist die Alternative? Gibt es Vorbilder für zukünftige Erfolgsstrategien?

Markus Giesler: Vor-Bilder, also Zukunftsprojektionen, findet man gerade jenseits der Grenzen des Marktes, das heißt bei den Hackern, den Musiktauschbörsen, den Cyber-Dissidenten, den Lebensweltsimulanten. Überall dort, wo Unterhaltung zwischen Produzenten und Konsumenten als "gleichberechtigt" und im technokulturellen Sinne als vernetzt erlebt wird. Heteromorphe Erlebnisräume wie diese kann man natürlich nicht einfach so nachbilden, aber sie zeigen, wie es in Zukunft funktionieren kann, wenn die Verschmelzung von Mensch und Technologie weiter voranschreitet. Allein die zunehmende "Handysierung" unseres Alltags zeigt, dass wir es schon heute mit Cyborgs zu tun haben, kybernetischen Mischwesen aus lebendem Organismen und Maschine.

Ist der Klingelton die zukunftsweisende Einnahmequelle oder ein Irrweg?

Markus Giesler: Unternehmen wie Jamba bieten ja nicht nur Klingeltöne und Java-Spiele zum Download an, sondern fungieren vor allem als Provider sozialer Anschlussfähigkeit unter Cyborgs. Das Produkt verändert die Bedingungen unter denen Kommunikation stattfindet und die Kommunikation wiederum verändert das Produkt. Technokulturelle Einnahmequellen dieser Art halte ich durchaus für zukunftsweisend.