Humanbellizismus oder die neue Moralstrategie des humanen Krieges

Der "kühle" Krieg im Kosovo

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Im Konfliktszenario des Kosovo wird in diesen Tagen eine Kriegsform eingeweiht, die reklamieren kann, ohne historische Präzedenzen zu sein. Die NATO, als Verteidigungsbündnis konzipiert, schwingt sich zum humanen Angriffsbündnis auf, das sich gegenüber der vormals völkerrechtlich sakrosankten Souveränität eines Staates selbstermächtigt. In dieser völker- und verfassungsrechtlich fragilen Grauzone konturiert sich zugleich eine neue Militärmoral, den Krieg nicht länger als Hindernis auf dem Weg zum ewigen Frieden zu ächten, sondern als Voraussetzung humaner Verhältnisse zu neuer Würde und internationalem Ansehen zu bringen.

Die Faustregel des Potsdamer Militärstrategen von Clausewitz wird in dieser Kriegsrationalität neu justiert: Krieg ist die Fortsetzung humaner Politik mit anderen Mitteln. In die diskursive Aufrüstung des Krieges schleicht sich eine selbstgefällige Schizophrenie ein, nur noch einen Modus der Konfliktbewältigung zu akzeptieren, die der klassischer Militärdoktrin zuwiderläuft. In der Proportionalität von Zweck und Mitteln soll die Verwirklichung menschenwürdiger Zustände - Clinton rekurriert auf den konstitutionellen "pursuit of happiness" - durch humanes Handeln abgesichert werden. Nicht länger heiligt der Zweck die Mittel, sondern Zweck und Mittel des Krieges schwingen im Gleichtakt des Humanen. Tote sind in diesem Krieg bedauerliche Betriebsunfälle, Ausnahmen von der Regel; Verhältnisse sind militärisch zu humanisieren, ohne menschliche Opfer auf beiden Seiten beklagen zu müssen.

In der medial aufgeheizten Diskursethik des humanen Krieges wird freilich nicht die - teilweise durch Regierungsverantwortung geschwächte - Friedensbewegung beruhigt, die in diesem wie in jedem Krieg argumentativen Aufwind wittert. Vormals bewegte sich im Fadenkreuz der Friedensbewegung eine bellizistische Gesinnung, die längst gelernt hatte, sich nicht mehr unverhohlen in nationalistischer Apologetik, martialischen Posen oder gar im Siegestaumel vaterländischer Kriege zu ergehen. Die symbolischen Emphasen der Vernichtung, die immer totaler und radikaler waren, als es Kriegswirklichkeit je sein konnte, wichen dem Konzept von unabänderlichen Zwangslagen, sich zur äußersten Gewaltanwendung zu entschließen, um dem jeweiligen Guten zum Recht zu verhelfen. Mit der Humanisierung des bellizistischen Denkens wird aber viel weiterreichend der Krieg um sein vormaliges Wesen gewalttätigen Einwirkens auf fremden Willen gebracht, ohne Opfer zu scheuen.

Das neue Kriegsethos löst sich aus der todbringenden Dialektik von Feindseligkeit und Vernichtung, um zum humanen Selbstverständnis westlicher Kultur aufzuschließen. Auch hier wird von Clausewitz` Wissen verlassen, daß der Krieg ein Akt der physischen, nicht aber der moralischen Gewalt sei. Den tödlich aufgeladenen Charakter klassischer Kriegsführung übernehmen nun endgültig die fiktiven Stellvertreterkriege Hollywoods. "Independence Day" etwa verkoppelt die makellose Moral des Überlebenswunsches gegenüber blindwütigen aliens, die inzwischen alte ideologische Gegner ersetzt haben, mit der fröhlichen Vernichtungswissenschaft von GIŽs, die der Choreografie eines coolen Raps folgen. Big Willie Style!

Auch wenn die Friedensbewegung durch den neuen Humanbellizismus nicht zu befrieden ist, wurde in der vorauseilenden Umsicht der NATO-Militärpropaganda der neue casus belli sogleich zu "Luftschlägen" heruntergefahren. Der Westen dissimuliert seinen Krieg zum humanen Eingriff, weil nur so bedingungslose Härte gerechtfertigt werden kann. Dabei reicht das moralische Beschwichtigungsszenario im Kosovo weiter als die amerikanische Gegenschlagsmoral im Golfkrieg. Nicht nur sind ökonomische Interessen, die dem amerikanischen Weltpolizisten regelmäßig bei Militäreinsätzen unterstellt wurden, nun abgestreift worden, um mit purer Humanität zu obwalten. Die Operation stützt sich auf den Schulterschluß der zivilisierten NATO-Welt, die jetzt auch ohne UNO-Mandat angreifen darf, wenn der herrschaftsfreie Diskurs versagt.

Ideologisch läßt sich das nur aufrechterhalten, wenn die militärtechnologischen Voraussetzungen das Rüstzeug dafür hergeben. Präzisionsvernichtung durch intelligente Munition macht jetzt möglich, was vordem Bombenteppichen, blindwütigen Fire-and-Forget-Schlägen oder dem vietnamesischen Wildfraß von Agent Orange verschlossen war. Nicht nur wird die flächendeckende, unspezifische Vernichtung durch selektive ersetzt, auch die medialen Temperaturen des Krieges werden ausgetauscht. Könnten wir nach McLuhans Medienheuristik den Krieg als "heißes" Medium beschreiben, so inszenieren ihn die neuen Protagonisten nun "kühl" bis "lauwarm". Von Clausewitz dagegen wollte den Akt der Gewalt nicht als "Krieg der Gebildeten auf einen bloßen Verstandesakt der Regierungen zurückführen und ihn sich immer mehr als von aller Leidenschaft loslassend" denken. Nach dem klassischen Militärstrategen sei es unwahr, Krieg nur noch als bloße "Algebra des Handelns" wahrzunehmen, während es sich doch um den "Stoß zweier lebendiger Kräfte gegeneinander" handele.

Freilich entsteht in der spätmodernen Abkühlung des Krieges keine emotional kohärente Klimazone humanen Zerstörungswerks, sondern ein instabiles Wechselwetter aus alter Kriegsangst und historisch uneinlösbarer Hoffnung, daß das Humane endgültig durch Gewalt stabilisiert werden kann. Inhuman sind zwar immer die anderen, aber ab jetzt prätendieren die Humanbellizisten auch, besondere Mittel zu besitzen, das unter Beweis zu stellen.

Während die serbischen Milizen im Kosovo Exponenten des alten Blut-und Bodenkrieges bleiben, sind die NATO-Krieger bislang Ingenieure des Luftraums, in der metaphorischen Sprachstiftung der Boulevardpresse (Express v. 07.04.1999) gar: Engel der Ärmsten. Humanität stiften dabei nicht nur die "allied forces" mit mehr oder weniger zielgenauen Distanzwaffensystemen, sondern auch mit glatt geschaltete Medien, die ihre erste Feuerprobe im Golfkrieg erfahren haben. Der reifer werdende Medienkrieg ist mehr als ein Zwei-Fronten-Krieg zwischen Blut- und Bodenwahrheiten und ihrer medialen Vor- und Nachbereitung in den platonischen Höhlen des Fern-Sehens: Panoptische Waffensysteme und mediale Aufklärung verkoppeln sich vielmehr zur neuen Wahrnehmungshoheit des Westens hoch über fremdem Terrain. Das Auge des Siegers überfliegt die Krisengebiete im Anspruch einer erneuerten Aufklärungsmoral, die sich alter Aporien, der Unentwirrbarkeit moralisch koexistenter Positionen von Überzeugungstätern - diesseits und jenseits der Front - entledigen will.

Alles sehen, ohne gesehen zu werden, treffen, ohne getroffen zu werden - das "Panopticon" Benthams wird zur fliegenden Festung, zum Werk von Spionagesatelliten, die fast bis zum Weißen im Auge des Gegners zoomen können. Zum Wahrzeichen des nichtwahrnehmbaren Wahrnehmenden, zur Ikone des unsichtbaren Krieges avancierte der Tarnkappenbomber, ein tödlicher Nebelschwaden auf dem Radarschirm. Selten beobachten wir einen Querschläger, der aus der Trefferserie friedfertiger Vernichtung in die Front der Leiber fegt. Kein Angriff gilt lebenden Schutzschilden, sondern nur Versorgungseinrichtungen werden eingeäschert, als ob das Mängelwesen "Mensch" ohne seine wärmenden Hüllen und vitalen Zuströme auf einmal überlebensfähig geworden wäre.

Nichthumane Zielobjekte rationalisieren eine Vernichtung, die letztlich doch auf das "humanum" zielen muß, wenn sie Erfolg haben will. Die westlichen Kosovobilder kennen vor allem die sinnliche Wahrheit des kosovarischen Flüchtlingselends, das Elend der serbischen Bevölkerung ist westlicher Wahrnehmung hingegen aus moralstrategischen Gründen nur bedingt vermittelbar. Über dem Exodus der vertriebenen Kosovaren leuchtet medienstrategisch der NATO-Stern-von-Bethlehem, der nach Mazedonien, Albanien und, für einige auserwählte Flüchtlinge, auch in die westlichen Wohlstandsgesellschaften weist. Weder westliche Kriegschirurgie noch serbische Aufklärung zeigen dagegen das reale Ausmaß der Vernichtung.

Die serbische Propagandamaschine, soweit sie die Filter westlicher Wahrnehmung überhaupt durchdringt, setzt auf schwache Kontrapunkte zur inszenierten Chirurgie der US-europäischen Streitkräfte. Rockmusik in Belgrad wird zum Durchhaltebefehl künstlicher Normalität, zum Protestlied ohne Durchschlagskraft gegen den kampfentschlossenen, weil verhandlungsmüden Westen. Gegenüber der westlichen Legitimationseuphorie appellieren solche Aufzüge folgenlos an das schlechte Gewissen, eine Kultur zu treffen, die letztlich seine eigene ist. Gilt doch das Amselfeld nicht nur als das Quellgebiet der panserbischen Idee, sondern zugleich als Widerstandsikone gegen die osmanische Bedrohung, die westliche Geschlossenheit einfordern will.

Auch gegenüber den seit dem Golfkrieg üblichen Hospitalbildern hat es der Betroffenheitsblick des Westens gelernt, sich zu immunisieren. Aber diese Immunisierung folgt nicht nur den moralischen Frontlinien, der selbstgewissen Differenz von Gut und Böse, sondern ist ein Moment der untergründigen Allianz der Streitenden. Das ist Teil der Golfkriegslektion, die Vernichtung zu verdrängen. Dieser Konsens der Gegner hat bis heute bewirkt, daß die aufklärungshungrige Weltöffentlichkeit nicht weiß, welche Folgen die Militärschläge im Irak hatten. In dieser Verdrängungslogik liegt es, daß serbisches Militär westliche Kriegsberichterstatter daran hindert, von der NATO verursachte Schäden zu dokumentieren.

Aber hier geht es nicht nur um die allgegenwärtige Chirurgie der Bilder, die endlos repetierten Fotobeweise moderater Eingriffe, das inszenierte Friedensbesteck des Krieges. Der Westen löst das pazifistische Unbehagen an der Unkultur des Krieges in seiner permanent mitlaufenden Diskursivität auf, die den Schrecken sinnstiftend untertitelt, um dem horror belli zu entkommen. John Keegans Wissen, daß Krieg und Kultur historisch eine untrennbare Liaision eingehen, widerstrebt dem westlichen Rationalitätsstandard. Die abgekühlte Kultur der Gespräche, Kommentare und Diskurse wird beschworen, um den Schrecken zu sedieren. CNN etwa kontert die gleichwohl hinter den entschärften Bildern aufdringliche Wahrheit mit Frage-Antwort-Moderationen, die das beschädigte Vertrauen in eine humanisierbare Zukunft wiederaufbauen helfen. Dieser Diskurs eilt dem desolaten status quo voraus, repariert bereits da, wo erst noch beschädigt werden wird. In der humanen Temporallogik werden die blutigen Ereignisse zum Anwendungsfall einer zukünftigen Wiederbelebung der entvölkerten Kampfzone.

"Wer baut Serbien wieder auf?" lautet bereits die Frage, während die Weltöffentlichkeit die Auseinandersetzung noch in vollem Gange wähnt. Nach der humanen Vernichtung folgt euroamerikanische Aufbauhilfe im Glauben, aus Todfeindschaften das souveräne Nebeneinander von Ethnien schmieden zu können. Auch hier steckt eine paradoxe Rationalität, über Souveränitätsverletzungen die staatliche Autonomie der Kosovaren herzustellen.

Die Rückführung der Vertriebenen stößt aber nicht nur auf logistische Probleme, sondern auf die Gräber im eigenen Vorgarten, auf das Gedächtnis zerstörter Seelenräume. Ein internationales Militärprotektorat mag vorübergehende Autonomie sichern, aber die ethnischen Frontlinien werden dadurch nicht im ewigen Frieden souveräner Grenzen zementiert. Auch die medial rückversicherte Humanität wird sich zuletzt in der Wahrnehmung bescheiden müssen, daß nach dem Krieg keine Auflösung ethnischer Positionen in globale Dörflichkeit folgt. Weder stellt sich ewiger Friede ein, noch wird die bellizistische Humanität eine völkervereinende Wirklichkeit virtualisieren.

So stellte von Clausewitz fest: "Endlich ist selbst die Totalentscheidung eines ganzen Krieges nicht immer für eine absolute anzusehen, sondern der erliegende Staat sieht darin oft nur ein vorübergehendes Übel, für welches in den politischen Verhältnissen späterer Zeiten noch eine Abhilfe gewonnen werden kann". 4