Hundert Tage Aufmerksamkeit
Wissenschaftliche Betrachtungen zur Reality-Show Big Brother
Kaum ein Fernsehformat hat in den letzten Jahren die Gemüter der Fernsehzuschauer dermaßen erregt wie die Reality-Show "Big Brother". Big Brother war allerdings kein Zufallserfolg, weil in einem kaum vorstellbaren Maße alle Register der Werbung gezogen wurden. In dem UVK-Buch "Hundert Tage Aufmerksamkeit" wird das Zusammenspiel von Medien, Menschen und Märkten bei Big Brother unter die Lupe genommen. Es zeigt, dass Aufmerksamkeit systematisch geplant zur Ausbeutung der Rezipienten eingesetzt werden kann. Die Kandidaten im Container müssen allerdings für die Zeit nach der Sendung ein gehörige Portion Eigen-Public-Relation mitbringen, um sich im Markt der Aufmerksamkeit eine gewinn bringende Nische zu suchen.
Nur wenige Namen der ehemaligen Containerbewohner von Big Brother sind den Zuschauern im Gedächtnis geblieben. Meist sind es nur die wenigen Ex-Bewohner, die durch die enge Vermarktung von Endemol eine Gesangskarriere anstrebten. Zlatko, Christian, Harry oder Jürgen konnten sich ein paar Wochen in den Charts halten. Doch ein dauerhafter Erfolg blieb letztlich allen Kandidaten versagt. Zlatko musste sich sogar öffentlich den Hohn der gesamten Fernsehnation gefallen lassen, als er ohne Playback vor Publikum beim Grand-Prix-Wettbewerb in Hannover nicht einmal den Ton halten konnte.
Alida, die im RTL-Container eher mit den Reizen geizte, so die Aufmerksamkeit des Playboys hervorrief und sich letztlich dort doch auszog, moderiert inzwischen als Ex-Jura-Studentin eine Erotik-Show auf dem eher dahinsiechenden Ex-Frauen-Sender "TM3". Mit dem neuen Sendernamen "9 Live" will der Sender durch viele Telefonspiele mehr als 50 Prozent der Einnahmen decken. Und so darf jeder die ehemals prüde wirkende Alida gegen eine Telefongebühr zum Quickie-Spiel auffordern. Alle anderen tingeln durch die Bundesrepublik und dürfen bei einer Auto-oder Möbelhausfeier mal ein paar Sätze von sich geben und fleißig Autogramme schreiben. Besonders gern gebucht wird die "prollig" wirkende Sabrina, die Attribute wie viel Busen, lange blonde Haare und ein offenes Mundwerk inzwischen geschickt vermarkten kann.
Eines gilt für alle Kandidaten, die RTL-Sendung hat sie alle berühmt gemacht, und auch ein kurzer Aufenthalt reichte, um sich ein Taschengeld dazu verdienen zu können. Doch das sind nur die augenscheinlichen Gewinner, denn Endemol hat sich von allen Einnahmen einen Anteil vertraglich zusichern lassen. Und so hat Endemol mit RTL nicht nur durch die anfangs recht hohen Quoten einen riesigen Werbegewinn erwirtschaften können. Im Februar 2001 war die Lizenz bereits in 24 Länder verkauft.
RTL war durch die Fernsehsendung "Big Brother" in aller Munde, weil sowohl Fans als auch Kritiker an diesem Teil von Massenfernsehgeschichte aktiv teilhaben durften. In allen Ländern setzte im Vorfeld der Ausstrahlung eine Diskussion ein, ob ein derartiges Sendeformat die Menschenwürde verletze. Die negativen Schlagzeilen sprachen von dem Verfall der guten Sitten und öffentlichem Voyeurismus. Einen gemeinsamen Nenner fanden alle Diskussionen in der Feststellung, dass das Fernsehprogramm zunehmend verflache.
Besonders in Deutschland traten ein paar Politiker deutlich in den Vordergrund. Die CDU-Professorin Böhmer ließ über die "Bild" verkünden, dass bald Schluss mit der Sendung gemacht würde. Doch als die dritte Staffel im Fernsehen ausgestrahlt wurde, war sie persönlich nicht mehr erreichbar und lies durch einen Referenten ausrichten, dass andere Jugendschutzthemen wichtiger seien. Quotenmäßig war Big Brother zu diesem Zeitpunkt längst zum Scheitern verurteilt, also konnte kein Politiker auf diese Weise in der Öffentlichkeit noch Wählerstimmen gewinnen. Entsprechend kehrte sich die Diskussion auch um, man sagte einfach, dass es negativ für ein Produkt sei, im Umfeld dieser "verwerflichen Sendung" zu werben. Die Schweizer versteckten ihre Kritik geschickter und berichteten über die für überzogen empfundene Jugendschutzdiskussion in Deutschland.
Big Brother wird zur Nachricht
Im Verlauf der Sendung ergab sich eine veränderte Wahrnehmung von Big Brother. Stand erst die moralisierende Kritik im Mittelpunkt, wendete sich die Berichterstattung den Bewohnern zu. Im Kern blieb - besonders bei den bunten Blättern - der sexualisierende Aspekt der teilnehmenden Beobachtung, zumal von einigen Kandidatinnen Nacktbilder veröffentlicht wurden und in einigen Ländern sich sogar herausstellte, dass einige Bewohnerinnen als Prostituierte gearbeitet hatten. Oft koppelten die Sender ihre Berichterstattung über die Bewohner und das Geschehen im Haus mit anderen Programmen. In diesen Hofberichten wurde so nicht nur Werbung gemacht, sondern die Begebenheiten im Container wurden zur Nachricht des Zeitgeschehens. Die Autoren des BB-Buches berichten von portugiesischen Hauptnachrichteninhalten, bei denen selbst der nationale Journalistenverband laut protestierte.
Die BB-Zielgruppe
In fast allen Ländern wurde Big Brother von kommerziellen Privatsendern ausgestrahlt. Gemessen am Markterfolg für junge Erwachsene (Daten aus 2000) lief BB in Italien auf Channel 4 am erfolgreichsten, dicht gefolgt von den Niederlanden, Spanien, Großbritannien und Portugal. In allen Ländern konnten die bislang kleineren Sender einen Quotengewinn verzeichnen. Lediglich beim US-Sender CBS wurden die Erwartungen nicht erfüllt.
Erreicht wurde in allen Ländern die für die Werbewirtschaft relevante Zielgruppe im Alter von 14 bis 49 Jahren. Überraschenderweise war in Portugal zu beobachten, dass stärker die 35- bis 54-Jährigen die Sendung verfolgten. Die Zielgruppe von 15 bis 24 Jahren zeigte sich in der statistischen Auswertung eher unterrepräsentativ vertreten. Repräsentativ zeigt sich der Trend, dass Big Brother besonders stark die Frauen ansprach. Mehr als 57 Prozent der Zuschauer in Deutschland, Großbritannien, der Schweiz und auch in Portugal schauten die Sendung.
Bei den Untersuchungen zeigt sich, dass man auch das Vorurteil zur Seite räumen muss, dass der durchschnittliche BB-Zuschauer nur über eine niedrige Bildung verfügt. Im Gegenteil, der Teil der Zuschauer mit niedrigen Bildungsabschlüssen ist eher unterrepräsentiert. Zuschauer mit mittleren Bildungsabschlüssen (weiterführende Schule oder ohne Hochschulreife) sind dagegen stark überrepräsentiert gewesen.
Die Emotionalisierung
Durch die zeitnahe Übertragung des Geschehens im Haus und der permanenten Internetanbindung per WebCam konnten sich die Zuschauer über die individuelle Befindlichkeit ihrer Favoriten jederzeit auf dem Laufenden halten. Big Brother gehörte dabei für viele Fans zu einem Teil des alltäglichen Lebens. Entsprechend leidenschaftlich konnte das Verhalten im Haus studiert werden und mit dem eigenen Lebenskontext in Verbindung gesetzt werden. Verhielt sich der Favorit nach bekannten und selbst gelebten Mustern konnten die BB-Kandidaten Pluspunkte auf einer eingebildeten Skala erreichen. Kleinste Abweichungen wurden sofort analysiert und mit der eigenen Lebenswirklichkeit verglichen.
Negativ beurteilte Kandidaten hatten allein deshalb schon keine Chance, weil sie sich in den Augen der Fans nicht konform verhielten. Beeinträchtigten diese "negativen Kandidaten" das Lebensgefühl oder die Verhaltensformen des Lieblingskandidaten, so nahmen die Fans diese Ereignisse persönlich übel. Entsprechend hoch waren demzufolge die Zuschauerbeteiligungen bei der telefonischen Abwahl aus dem Big Brother-Container. Fangruppen bildeten sich nicht nur bei den Sendeterminen mit der Wahl aus dem Haus, auch im Internet gab es unzählige Webseiten, die ausschließlich dem Lieblingskandidaten gewidmet waren. Durch die umfangreichen Recherchemöglichkeiten im Internet bildeten sich hier ganz schnell Fangruppen, deren Verhalten in kollektiven hysterischen Formen gipfelte.
Big Brother verhalf vielen Menschen zu einem einzigartigen Gruppenerlebnis, in dem sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen konnten. Letztlich bewiesen sie sich gegenseitig, dass sie mit ihrer BB-Identifikation nicht allein waren. Big Brother war ein Teil von ihnen und die Container-Bewohner waren ihre Stellvertreter im Fernsehen.
Das UVK-Buch "Hundert Tage Aufmerksamkeit" zeigt das Zusammenspiel von Medien, Menschen und Märkten bei Big Brother und bietet durch seine wissenschaftliche Untermauerung einen breiten Einblick in die Spirale der Aufmerksamkeitserregung durch den Verbund von Massenmedien. Es schildert, wie Sender und Vermarkter heute Hand in Hand arbeiten und die Rezipienten dieser Sendungen sich dennoch nicht ausgenutzt und vermarktet sehen. Vielmehr hat RTL durch Big Brother ein neuartiges Fernsehformat entwickelt, das dem Fernsehzuschauer ein neues Gefühl der Identität und Zugehörigkeit vermittelt.
Medienethiker forcierten die Effekte der Aufmerksamkeit noch zusätzlich, indem sie die Sendung vor dem eigentlichen Start heftig kritisierten. Im Verlauf der Ausstrahlung verstummten ihre Bedenken. Dennoch stimmt es bedenklich, wie Fernsehsender ein Massenphänomen planen und durchführen, um letztlich die Zuschauer und Kandidaten hemmungslos auszubeuten. Insofern wird auch in Zukunft über die Würde des Menschen beim Privatfernsehen nachzudenken sein.
Karin Böhme-Dürr , Thomas Sudholt (Hrsg.): Hundert Tage Aufmerksamkeit. Das Zusammenspiel von Medien, Menschen und Märkten bei »Big Brother. UVK, 2001, 454 Seiten. 68,00 DM. ISBN: 3-89669-342-5. Medien und Märkte, Band 10.