Hurra, wir gehen unter!

Seite 3: Der Klimawandel als apokalyptischer Weltenbrand

Die voranstürmenden, Angst und Schrecken verbreitenden Reiter aus dem Bilderkanon des Johannes dienen letztlich auch der kapitalismuskritischen Abrechnung 2022 noch als Referenz; Metz und Seeßlen verpassen dem eschatologischen Vierergespann aus Offenbarung Kap. 6 jedoch, dem Zeitgeist entsprechend, säkulare Namen. Der Reihe nach lauten die im 21. Jahrhundert ihrer Ansicht nach so: (1) Klimawandel, (2) Naturzerstörung, (3) Terror/Bürgerkrieg, (4) Entwirklichung.

Im Praxis-Vakuum der politischen Handlungsträger gedeiht die neue Rede vom eschatologischen Zeitenbruch im derart transformierten Gewand. "Die erschütterndsten Predigten", schrieb der Geschichtsphilosoph Gregor Taxacher 2010, "halten (heutzutage) Wissenschaftler, die (…) uns zu einer radikalen Umkehr aufrufen, bevor die Katastrophen unausweichlich geworden sind."

Am Grunde der drohenden Unheilsverheißung liegt nicht mehr störrische Sündhaftigkeit, sondern systemische Verkehrtheit - freilich vom Menschen selbst verursacht und auf die Spitze getrieben.

Inzwischen irreversibel?

Diese Frage, möchte man meinen, bleibt seltsam in der Schwebe bei "Apokalypse & Karneval". Im Subtext zieht sich die fatale Statik der Binnenstruktur des herrschenden Systems wie ein roter Faden durch das Buch – eines Systems, dem die große Erzählung abhandengekommen ist, zusammen mit der utopischen Kraft, die am Urgrund einst eine messianische war.

Die Erosion der Mittelschicht

Was unausweichlich feststeht, ist offenbar das Schicksal der Kleinbürgerklasse, im Buch mit Mittelschicht in eins gesetzt.

Sie (diese Klasse) ist es, die sich verausgabt in dem Bemühen, sich zugleich zu Tode zu arbeiten und zu Tode zu amüsieren.

Apokalypse & Karneval, Vom Untergang der Kleinbürgerklasse, 123 ff.

Zwischen nostalgischer Sehnsucht nach dem einstigen Wohlfühlkapitalismus und neuen faschistoiden Tendenzen dämmert sie dahin, die spätkapitalistische "Mittelschicht" – oder das, was davon übriggeblieben ist.

Dabei, so die Autoren von "Apokalypse & Karneval", ist nicht einmal klar, ob sie wirklich zugrunde gegangen ist; der Ruin liegt nicht so sehr im wirtschaftlichen Zusammenbruch (derzeit noch nicht?) als vielmehr im Verlust des Narrativs einer steten, vernünftigen Verlässlichkeit.

Deren "Welterzählung" gab den Garanten für bescheidenen Wohlstand in Form von Sicherheit, Stabilität und Wachstum.

Die Option für jedermann, Teil einer solchen "Mittelschichtskultur" zu werden, bricht den Autoren zufolge in sich zusammen, und zwar mitsamt der "moralischen Gleichung von Fleiß und Wohlverhalten" – Tugenden, die eben nicht mehr zum Erfolg führen und das Versprechen nicht mehr einlösen können.

Der Pakt zwischen Kleinbürgertum, Kapital und Demokratie wird schleichend aufgelöst; zurück bleiben böse Kränkungen, die den Keim von Rassismus und Nationalismus in sich tragen.

Das "heilige Zentrum der westlichen Nachkriegsgesellschaften" (eine schöne Titulierung) ist somit an seinem "Kipppunkt" angelangt (123).

Es verschwindet also doch, das gehobene Kleinbürgertum, und zwar in seiner Bedeutung "als kulturelle Einheit und als identitätsstiftende und für Integration sorgende Zone" (ebd). Ganz offensichtlich, so lautet das Fazit von Metz/Seeßlen, "war diese Mittelschicht nicht geeignet, einer demokratischen Zivilgesellschaft Heimat und Milieu zu geben".

Wenn der Kleinbürger, für den es nicht mehr weitergeht, in den Fernseher sieht, dann sieht er im Zerrspiegel seinen eigenen weiteren Niedergang.

Apokalypse & Karneval, a.a.O., 132

Wie progressiv ist das work in progress?

War's das? Können "Zukunft" und "Person" neu gedacht werden? Was bleibt zwischen Traumschiff und Nagelstudio?

Im Spiegel-Interview zog Autor Seeßlen (das war 2016) ein pessimistisches Fazit:

Wir haben es offensichtlich nicht geschafft, eine Gesellschaft zu werden, die sich in einem gemeinsamen Ziel wiederfindet.

Georg Seeßlen im Spiegel-Interview (2016)

Heute, sechs Jahre später, legen Metz/Seeßlen eher einen freihändigen Querschnitt durch den Weltenkäse vor (den sie mit Recht bemängeln – wie "radikal" letztendlich wirklich, sei einmal dahingestellt), als dass sie sich an einer vertieften, sachlich und methodisch kohärenten Analyse versuchten. Ist es dem Projekt vorzuwerfen?

Verschiedentlich publizierten Aussagen zufolge handelt es sich bei der Trilogie um "work in progress". Man ist auch ob der Detailfülle beim Lesen gut beschäftigt (und unterhalten), so dass die Schwächen, die das Unterfangen mit sich bringt, nicht gleich ins Auge springen.

"Gute Einsichten, manche Plattitüden"

"Analytische Schärfe steht neben blanker Behauptung", meinte die Frankfurter Rundschau anlässlich der Besprechung eines früheren Titels von Seeßlen ("Is This the End?") Trifft das auch auf unseren Fall zu?

Ja, muss man sagen. Neben dem Eindruck von Dringlichkeit stellt sich auf lange Strecke ein "indifferentes Grundrauschen" ein, beschrieb der Spiegel mal den Stil von Autor Seeßlen. Fraglos ein Charakteristikum, das sich durchhält.

Im Endeffekt noch etwas deutlicher geht der Kritiker Jörg Auberg die Sache an. Er hat sich für einen Blogbeitrag auf satt.org ("Über das intellektuelle Autorenduo Markus Metz und Georg Seeßlen") einige der Titel aus dem Work-in-progress-Programm beider Autoren genauer angesehen und bemängelt einen "mäandernden Charakter" neben dem "zuweilen alarmistischen Tonfall".

Neben "vielen guten Einsichten" erkennt Auberg im Projekt "auch manche Plattitüden". Zudem, so sein Votum, fehlt es an argumentativer Stringenz, was bedeutet, Gedanken auf den Punkt zu bringen: Metz/Seeßlen kreisen Aubergs Beobachtung zufolge in verschiedenen Variationen um den gleichen Kern, "ohne neue Zellen der Erkenntnis aufschließen zu können."

Die genannten Hinweise sind zutreffend, "Apokalypse & Karneval" ist hier einzubeziehen. Und trotzdem ist es ein lesenswertes, immer wieder mit Überraschungen aufwartendes Buch.

Götterdämmerung mit Helene Fischer

Ohne Frage, die Simulationswelt des Homo neoliberalis ist treffend und unterhaltsam zugleich beschrieben bei Metz und Seeßlen. Man erfährt etwa, dass "die Thea Dorns und Martin Walsers" dieses Systems keine Vorbilder sein können, indem sie einen rückständigen "barbarischen (Kultur-)Kommunitarismus" verkörpern.

Sowas kann und soll Kultur nicht sein! Man erfährt nebenbei etwas über Kochshows, Mobbing und Schnösel-Look und trifft sogar Gert Fröbe (Goldfinger) wieder.

Der im Fortgang der Lektüre kapitelweise desillusionierte Leser ergötzt sich dann wohl mit heimlicher Freude an der Verve, mit der ein gefeierter Medienstar wie Helene Fischer als Paradebeispiel "kleinbürgerlicher Anti-Authentizität" vom Pop-Himmel geholt wird; ihre Auftritte, erfahren wir, sind kollektive Feiern, bei denen "die Mittelschicht erzeugt wird" (136).

Auch eine Art von Götterdämmerung.

Das mit Helene bleibt freilich, wie manch andere Momentaufnahme aus dem Varieté des postmodernen Irrsinns auch, wieder als pure Aussage schlicht so stehen. Last but not least (und vielleicht erst auf den zweiten Blick) erinnert "Apokalypse & Karneval" an den Paradigmenwechsel vom religiösen zum (natur-)wissenschaftlichen Konzept unserer modernen Wirklichkeitsauffassung – wenngleich nicht explizit, sondern im freien Gebrauch der Bilder.

Seeßlen gibt zuletzt (mit Antonio Gramsci) die Parole aus: "Werden statt Wachsen"! Unsren persönlichen Einsatz um ein "richtiges Leben" (sic!) definiert der Abspann des Buches auch als "einen Entgiftungsvorgang".

Das bleibt zumindest vage. Zusammen mit der offen gebliebenen Frage: Bewirkt der "Next Level" denn nun eine Umkehr (wo wäre die zumindest in Ansätzen auffindbar), oder bezeichnet das erreichte Tableau nur ein weiteres von noch mehr Stockwerken, die im Spukhaus auf uns Untote warten?

Und bitte die Frage - genügt das Lob der Vernunft, wenn im Ganzen Unvernunft triumphiert?

Erwähnen sollte man noch den grundsätzlichen Mangel an einer ideengeschichtlichen Verankerung des Projekts, welche im Bestfall auch die Modifikationen (und Zurichtungen?) der Philosophiegeschichte berücksichtigen würde. So bleibt es bei einer Reißbrettskizze politischer und gesellschaftlicher Praxis: Die kapitalistische Lebenswelt als absurdes Puzzle, dem wir konsterniert gegenüberstehen.