Hybride Kriegsführung, verdeckte Operationen und geheime Kriege

Seite 4: Die amerikanischen Taliban

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Am 12. Februar 2010 feierte Mohammed Daoud Sharabuddin den Namenstag seines vor sechs Tagen geborenen Sohnes. Daoud ist ein Paradebeispiel für die amerikanische Strategie, "Herz und Verstand" der Menschen gewinnen zu wollen. Er ist ein weithin respektierter Polizeibeamter und vor kurzem sogar zum Geheimdienstchef der Provinz Paktia befördert worden. Jahrelang hatte er gegen die Taliban gekämpft, auf einigen Fotos kann man ihn zusammen mit US-amerikanischen Soldaten posieren sehen, denn Daoud hatte zahlreiche Ausbildungsprogramme der USA durchlaufen.

Knapp 30 Menschen feierten und tanzten, als plötzlich das Licht auf dem Anwesen abgeschaltet wurde. Ein Musiker im Hof bemerkte, wie Laserstrahlen das Gelände abtasteten. Aus Angst vor einem Angriff der Taliban informierte er die anderen Anwesenden. Daoud und sein 15-jähriger Sohn Sediqullah wollten nachsehen, was an der Geschichte dran sei. Kaum hatten sie den Hof betreten, durchschlugen mehrere Kugeln ihre Körper und die beiden sackten blutüberströmt zu Boden. Und während sich die Angreifer zum Sturm auf das Haus formierten, brach drinnen Panik aus.

Plötzlich bemerkte jemand, dass die Angreifer nicht nur Paschtu, sondern auch Englisch sprachen. Die Angreifer waren Amerikaner. Während Daoud auf dem Boden zu verbluten drohte, ergriff sein Bruder Zahir die Initiative. Als Staatsanwalt der von den USA unterstützen Regionalregierung sprach er ein wenig Englisch. "Wir arbeiten für die Regierung!", schrie er den Angreifern entgegen. "Schauen Sie sich doch unsere Polizeiwagen an. Sie haben einen Polizeikommandanten verwundet!"32 Zaid wollte den Angreifern entgegen gehen, um sie auf ihren Fehler aufmerksam zu machen. Drei Frauen der Familie versuchten ihn davon abzuhalten und hielten ihn an der Kleidung fest. Doch in diesem Moment schlugen bereits die nächsten Kugeln der Scharfschützen ein. Zahir, Bibi Saleha, 37, und Bibi Shirin, 22, starben schnell. Daoud und die erst 18-jährige Gulalai verbluteten über Stunden.

Ein Spezialeinsatzkommando der USA hatte aus der Familienfeier in Sekunden ein Massaker veranstaltet. Insgesamt wurden sieben Personen hingerichtet, zwei der Frauen waren schwanger. Die vermummten Kommandosoldaten stürmten das Gebäude, fesselten alle Männer und durchsuchten die Räume. Der Vater von Gulalai bat um ärztliche Hilfe für seine verblutende Tochter, doch die Soldaten antworteten nur, dass bald ein Hubschrauber die Verletzten in ein Krankenhaus fliegen würde. Aber es kam kein Hubschrauber. Ganz im Gegenteil begannen die Soldaten plötzlich mit Messern in den Wunden der Frauen herumzustochern. "Sie holten die Kugeln aus den Leichen, um den Beweis für ihr Verbrechen zu beseitigen", sagte Mohammed Sabir, ein Bruder von Daoud.33

Alle Überlebenden wurden in den Hof gebracht. Frauen und Männer wurden getrennt. Den Männern wurden Kapuzen über den Kopf gezogen. Mindestens zehn Männer, darunter der 65-jährige Familienvorstand Hadschi Sharabuddin, wurden massiv geschlagen und getreten. Es scheint, dass Kommandosoldaten die westlichen Werte in die Köpfe der Feinde hineinschlagen wollen. Ein Untersuchungsbericht der UN bestätigte später, dass die Überlebenden eine "brutale, unmenschliche und entwürdigende Behandlung [erfahren hätten], indem sie von amerikanischen und afghanischen Einsatzkräften körperlich attackiert, festgehalten und gezwungen wurden, mit bloßen Füßen mehrere Stunden draußen in der Kälte zu stehen."34

Sieben Männer wurden anschließend in ein Geheimgefängnis verbracht und tagelang verhört. "Die amerikanischen Vernehmer hatten Bärte und trugen keine amerikanische Uniform. Sie waren sehr muskulös", berichtete Sabir von den Verhören. Später wird das Familienoberhaupt Hadschi gegenüber dem Investigativjournalisten Jeremy Scahill sagen:

Am Anfang dachten wir, die Amerikaner seien die Freunde der Afghanen, aber jetzt halten wir die Amerikaner selbst für Terroristen. Die Amerikaner sind unsere Feinde. Sie bringen Terror und Zerstörung. Die Amerikaner haben nicht nur mein Haus, sie haben meine Familie zerstört. Die Amerikaner haben uns die Spezialkräfte auf den Hals gehetzt. Diese Spezialkräfte mit ihren langen Bärten haben entsetzliche, kriminelle Sachen gemacht. Wir nennen sie die amerikanischen Taliban.

Hadschi
Kommandosoldaten der Delta Force ohne Uniform und Hoheitsabzeichen. Hybride Kriegsführung und verdeckte Operationen haben in den USA eine lange Tradition. Bild: United States Government

Der entgrenzte Krieg

Die US-Regierung eskaliert den Staatsterror immer weiter. Zwischen 2006 und 2008, so die New York Times, sind pro Nacht bis zu 25 Menschen allein von Team 6 der Navy SEALs ermordet worden. "Gegen Ende 2009 führten JSOC-Kommandos monatlich nicht weniger als achtzig, neunzig solcher Mordaufträge aus", erklärt Armin Wertz in seiner Zusammenschau "Die Weltbeherrscher. Militärische und geheimdienstliche Operationen der USA".

Im September 2009 reichte der US-Diplomat Matthew Hoh, mehrfach ausgezeichneter US-Marine mit Einsätzen im Irak und anschließend höchster US-Vertreter in der afghanischen Provinz Zabul, sein Rücktrittsgesuch ein. Im Zentrum steht seine Anklage, dass die "Präsenz und die Operationen der USA und der NATO in den paschtunischen Tälern und Dörfern" faktisch auf "eine Besatzungsmacht" hinauslaufen, "gegen die ein Aufstand gerechtfertigt ist".35 Die meisten Taliban würden die USA überhaupt nicht bedrohen, "sondern eigentlich nur gegen uns kämpfen, weil wir uns in ihren Tälern herumtreiben". Nach Einschätzung Hohs gab es damals "fünfzig bis hundert al-Qaida-Kämpfer in Afghanistan".36

Ein Krieg kann total sein in der Anwendung der Waffen. Er kann total sein in der Brutalisierung der Kriegsführung. Er kann total sein in der Gleichschaltung der Bevölkerung durch Desinformation und Propaganda. Und er kann total sein in der Ausweitung der Zielgebiete und Zielpersonen. Zwischen 2011 und 2014 waren US-Special Forces in 150 von 196 Ländern der Erde aktiv. Neben "Militärberatung" und Ausbildung von Spezialeinheiten "befreundeter" Länder gehören "capture or kill"-Aufträge zum Aufgabenspektrum. Die USA führen einen geheimen, weltweiten Krieg und westliche Politiker wie Medien verschließen die Augen davor. Das Special Operations Command der US-Streitkräfte hat, ganz nach der oben erwähnten Bush-Doktrin, sein Personal von 2001 bis heute auf mehr als 70.000 Einsatzkräfte verdoppelt. Und immer wieder sind die Spezialkommandos bei Umstürzen oder Aufstandsbekämpfungen dabei. Je nachdem, wie es den USA nützt.

In Afghanistan werden die Truppenstärken reduziert und es sollen angeblich nur noch Objektsicherer, Unterstützer und Ausbilder im Land bleiben. Doch die Realität sieht anders aus. "Es liegt jetzt alles im Schatten", erklärte ein ehemaliger afghanischer Sicherheitsbeamter. "Der offizielle Krieg der Amerikaner - der Teil des Krieges den man sehen kann - ist beendet. Der geheime Krieg aber geht weiter. Und er geht hart weiter."

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