I'm not dangerous

Wird Frankreich unter François Hollande zu einem Modell moderater sozialdemokratischer Reformen in Europa?

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Von der Einkommensverteilung her fällt die Verteilung der Wählerinnen und Wähler zwischen dem Gewinner der französischen Präsidentschaftswahl, François Hollande, und Verlierer Nicolas Sarkozy relativ klar aus. Unter denen, die im Monat unter 1.200 Euro verdienen, stimmten 59 Prozent für Hollande. Bei einem Monatseinkommen zwischen 1.200 und 2.000 Euro monatlich waren es 56 Prozent und in der nächst höheren Einkommensklasse 54 Prozent. Erst ab einem Monatseinkommen in Höhe von 4.000 Euro kehrt sich das Verhältnis um, mit 56 zu 44 Prozent zugunsten des bisherigen Amtsinhabers Sarkozy.

Gewählt wurde Hollande mit deutlichen Mehrheiten unter Jungwählern unter 30, unter Industriearbeitern (58 Prozent), unter Franzosen mit Migrationshintergrund, aber auch von Angehörigen intellektueller Berufe und Freiberuflern wie Ärztinnen und Anwältinnen (52 Prozent). Im großstädtischen Milieu dominiert Hollande ebenfalls, mit einem Stimmenanteil von 57 Prozent in Ballungsräumen ab 100.000 Einwohnern. Dagegen behielt Nicolas Sarkozy vor allem unter Rentnern (circa 60 Prozent), im ländlichen Raum sowie unter mittelständischen Unternehmern (70 Prozent) die Nase vorn.

Erwartungshaltungen

Der Wechsel an der Spitze des französischen Staates ist offenkundig mit den sozialen Erwartungshaltungen eines Teils der Wählerschaft verbunden. Dennoch ist auf keinen Fall mit spektakulären Umverteilungsmaßnahmen oder Veränderungen in der Reichtumsverteilung zu rechnen.

François Hollande. Bild: Jean-Marc Ayrault. Lizenz: CC-BY-2.0

Auch dann nicht, falls die französischen Parlamentswahlen, die demnächst, am 10. und 17. Juni, stattfinden, dem neuen Präsidenten François Hollande eine Mehrheit in der Nationalversammlung verschaffen sollte. Ohne letztere kann er ohnehin keine Gesetze auf den Weg bringen.

Sollte also je die konservativ-wirtschaftsliberale Rechte die Wahl in fünf Wochen gewinnen, wird François Hollande wie seine Amtsvorgänger Jacques Chirac und François Mitterrand zu einer Cohabitation, verurteilt sein: einer Koexistenz mit einem Premierminister aus dem gegnerischen Lager. In solchen Fällen hätte er nur in der Außenpolitik eigene Spielräume und in Teilbereichen der Militärpolitik - bei Auslandseinsätzen der Armee von weniger als vier Monaten Dauer. Danach müssen diese vom Parlament abgesegnet werden.

Reformen, die "Überwindung des Kapitalismus" und die Kehrtwende

Sofern die Parlamentswahl im Juni einen Richtungswechsel gegenüber der bisherigen Zusammensetzung bringt und Hollande eine Mehrheit erhält, sind seine Spielräume dennoch begrenzt. Schon sein Amtsvorgänger François Mitterrand scheiterte beim Versuch der damaligen Linksregierung, die nach Mitterrands Wahl am 10. Mai 1981 eingesetzt worden war, Strukturreformen zur "Überwindung des Kapitalismus" - so wurde es damals noch proklamiert - einzuleiten.

Damals fanden tatsächlich einige Reformen statt, die noch dem ursprünglichen Sinn des "Reform"begriffs entsprachen (also eine Verbesserung der Lebensverhältnis anstrebten). Und nicht dem später vom Neoliberalismus verdrehten und verfälschten Sinngehalt, durch den "Reform" zum Synonym für soziale Einschnitte und Rückschritte geworden ist. Ein gutes Jahr hindurch wurden progressive Veränderungen durchgeführt: Abschaffung der Todesstrafe, Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 40 auf 39 Wochenstunden, Herabsetzung des Rentenalters auf 60 (was damals der durchschnittlichen Lebensdauer bei guter Gesundheit entsprach).

Danach kam die jähe Kehrtwende: Kapitalflucht, der Abwertungsdruck auf den französischen Franc, Drohungen mit der Vernichtung von Arbeitsplätzen und andere Machtinstrumente des wirtschaftlichen Kapitals setzen dem Experiment ein Ende. Ab Ende 1982 war von der anfänglichen Aufbruchseuphorie rein gar nichts mehr zu spüren. Im Frühjahr 1983 wurde le Tournant de la rigueur, "die Wende zur Austeritätspolitik", offen proklamiert. Die Wählerschaft lief den regierenden Linksparteien damals in Scharen davon, und es dauerte Jahre, bis sie sich wieder berappeln konnten. Die Periode 1983/84 markiert zudem den dauerhaften Durchbruch des rechtsextremen Front National zur erfolgreichen Wahlpartei.

Keine Experimente! Lieber nicht zu viel versprechen

Stünde François Hollande der Sinn nach "Experimenten" - ihr Scheitern würde heute nicht mehr so lange benötigen. In Zeiten der verstärkten Einbindung in supranationale Zusammenschlüsse der EU, der Wirtschafts- und Finanzkrise und der (zuletzt insbesondere infolge der "Bankenrettung" ab 2008 massiv gestiegenen) Staatsverschuldung haben Staatenlenker noch wesentlich geringeren Einfluss auf den Lauf der Dinge, als dies 1981 der Fall war.

Schon damals waren viele wichtige Entscheidungen in privaten Händen, etwa beim Industriekapital, konzentriert. Doch waren die damaligen Einflussmöglichkeiten von politischen Entscheidungsträgern noch wesentlich höher als heutzutage. Durch einen Blog der Zeitung Le Monde befragte Wähler in einer konservativ-liberalen Hochburg mit starker Konzentration der obersten Einkommensgruppen, Sceaux in der Nähe von Paris, bejubeln diese Tatsache offen:

Die gute Seite an der wirtschaftlichen Globalisierung ist, dass man 1981 nicht wiederholen kann!

Einzig ein starker Wille zu tiefgreifenden Veränderungen, der über Frankreich hinaus mindestens einen wesentlichen Teil der EU erfassen müsste, könnte diese Ausgangsbedingungen abändern. Ein solcher ist bei François Hollande allemal nicht in Sicht. Der neu gewählte Präsident, der als Kandidat vom rechten Parteiflügel der französischen Sozialdemokratie aufs Schild gehoben war, blieb in all seinen Ankündigungen bewusst und betont vorsichtig.

Denn in diesem Teil der Sozialistischen Partei hat man vor allem eine Lehre aus 1981 ff gezogen: Lieber verspricht man von vornherein nicht zu viel, sondern schraubt seine eigenen Erwartungshaltungen und Ansprüche gleich zurück.

Häufig im Vagen bleibende programmatische Ankündigungen für mehr soziale Gerechtigkeit trugen François Hollande im Wahlkampf den Spitznamen "Flamby" ein, das klingt ähnlich wie sein Vorname. Übernommen worden war der Kosenamen von einem bekannten Pudding, der in jedem französischen Supermarkt im Angebot ist.

Markante Veränderungen

Zwei markantere Veränderungen wird es voraussichtlich geben, deren Aufnahme ins Wahlprogramm François Hollandes der Eigendynamik des zurückliegenden Wahlkampfs geschuldet ist. Denn in zwei Momenten sah Hollande sich aufgrund anwachsender Kritik an seiner Inhaltslosigkeit dazu gezwungen, halbwegs entschieden klingende Ankündigung zu machen. Zuerst war dies im September 2011 der Fall, als die französische Sozialdemokratie sich auf ihre élection primaire vorbereitete - die "Urwahl" zwischen Parteimitglieder und -sympathisanten, die am 09. und 16. Oktober zwischen sechs Bewerbern um die Präsidentschaftskandidatur entscheiden sollten.

Damals kündigte Hollande bei einem Abstecher in Nordostfrankreich überraschend an, er werde 60.000 Stellen im öffentlichen Schulwesen schaffen. Genau betrachtet, handelt es sich dabei aber nur um eine teilweise Reparatur dessen, was die regierende Rechte in den vergangenen Jahren kaputt schlug: Durch die Anwendung der eisernen Regel, jede zweite (durch Verrentungen und andere Abgänge frei werdende) Stelle von Lehrkräften zu streichen statt neu zu besetzen, waren in der fünfjährigen Amtszeit Nicolas Sarkozy 80.000 Lehrerposten verschwunden.

François Hollande. Bild: Copyleft. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Seit 2002, also dem Abtritt der bislang letzten sozialdemokratischen Regierung unter Lionel Jospin, sind es insgesamt sogar über 120.000. Denn die Rechtsregierungen setzten darauf, das Privatschulwesen - in dem in Frankreich rund ein Fünftel der SchülerInnen eingeschult werden, das konfessionell gebunden und kostenpflichtig ist - werde die Lücken füllen. Das Ergebnis ist, dass sich vor allem in den Krisenzonen der Banlieues das Schulwesen in einem katastrophalen Zustand befindet.

Das Versprechen Hollands läuft darauf hinaus, pro Jahr 12.000 abgebauter Stellen wieder einzurichten. Allerdings präzisierte François Hollande im Laufe des Wahlkampfs mehrfach, dass es sich dabei nicht unbedingt um Lehrerposten handeln müsse. Auch neu oder wieder eingerichtete Stellen für Schulkrankenschwestern oder andere Mitarbeiter sollen mit einberechnet werden, um die Zahl 60.000 zu erreichen.

Die zweite Maßnahme, mit welcher Hollande im Wahlkampf ein wenig Rückgrat zu demonstrieren vermochte, ist die inzwischen viel zitierte Millionärssteuer. Dieses Vorhaben verkündete Hollande, kurz nachdem er am 29. Februar in London dem dort konzentrierten Finanzkapital via britische Presse wörtlich versicherte hatte:

"I'm not dangerous."

Daraufhin geriet Hollande in Frankreich von links her, wo das Wahlbündnis aus abgespalteten linken Sozialdemokraten und Parteikommunisten unter Jean-Luc Mélenchon - ungefähr vergleichbar mit DIE LINKE in Deutschland - damals in den Umfragen erstarkte, unter erheblichen Druck.

Nachdem seine Umfragewerte zu sinken begannen, verkündete Hollande dann zur Überraschung seiner eigenen Berater wie Ex-Premier- und Ex-Finanzminister Laurent Fabius und Steuerpolitiker Jérôme Cahuzec, einen Beschluss zur Einführung einer Schwerreichen-Steuer. Ab einem Jahreseinkommen von einer Million Euro pro Haushalt soll auf die oberste Einkommenstranche ein Spitzensteuersatz von 75 Prozent angewendet werden. Diese Ankündigung überraschte seitens des, ansonsten oft puddingweich auftretenden, sozialdemokratischen Kandidaten.

Signal für andere EU-Länder?

Seine Berater schienen dadurch zeitweilig so verwirrt, dass sie den Beschluss zu relativieren oder herunterzuspielen versuchten; Fabius behauptete etwa, es handele sich nur um eine "befristete, einmalige Maßnahme" auf dem Höhepunkt der Staatsschuldenkrise. Nachdem die Linke aufschrie und die Rechte über "diesen Hühnerstall" zu spotten anfing, musste François Hollande jedoch ein Machtwort sprechen: Der Programmpunkt blieb stehen, und es wurde klargestellt, dass die Steuer nicht nur für ein einziges Haushaltsjahr gedacht sei.

Was wirklich daraus wird, das muss sich in den kommenden Monaten herausstellen. Nicht alle in Hollands Partei, falls sie denn regieren wird, sind darüber glücklich - gilt es doch in manchen Augen, nur ja das Kapital nicht zu erschrecken.

Ihnen zu Hilfe kommen könnten die Verfassungsrichter. In einer Stellungnahme hatten diese 2005 einmal behauptet, es sei verfassungswidrig, Einkünfte in Höhe von über 50 Prozent zu besteuern, da dies dem "Recht auf freie Berufsausübung" zuwiderlaufe. Zwar ginge es ohnehin nicht darum, die gesamten Einkünfte einer Person zu 75 Prozent zu besteuern, sondern nur deren oberste Tranche: Wie jeder Steuerzahler, bezahlen auch Einkommensmillionäre für den ersten Teil ihrer Einkünfte ebenso niedrige Steuersätze wie alle anderen auch. Dennoch könnten die "Experten" in den schwarzen Roben zum ernsthaften Hindernis für diese Reform werden, falls sie denn angepackt wird.

Umgekehrt könnte eine höhere Reichen- oder Kapitalbesteuerung auch ein wichtiges Signal für andere EU-Länder darstellen. Entsprechend intensiv wird auch wahrgenommen werden, was sich auf dieser Ebene in Frankreich tut. Weicht François Hollande vor seinen wenigen echten Reformplänen zurück, dann würde dies innen- wie außenpolitisch als fatales Signal wahrgenommen.