"Ich fühle, dass mein Mund nach Blut schmeckt."
Seite 2: Anschwellender Sturm
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Vom heutigen Polen zeigt der Film kaum etwas. Sondern Archivaufnahmen. Um so mehr vom heutigen Iran. Man sieht das Land Iran, wie es wirklich aussieht. Normalität, Alltag, Menschen wie wir.
Und ein paar Wahnsinnsbilder aus dem Archiv: Rhythmisch skandierende Männermassen, Menschen, die fünf Stockwerke hoch dicht gedrängt auf einem Gebäude stehen. Ein anschwellender Sturm. Die Bilder zeigen, warum die Geschehnisse im Iran eine Revolution waren, die in Polen "nur" ein Aufstand.
Der Regisseur fragt in seinen Notizen:
"Warum eigentlich sind auf den Filmen und Fotografien aus der Zeit der Revolution im Iran fast immer Menschenmassen zu sehen? Und warum sehen diese Szenen fast immer genau so aus, wie man sich Bilder einer Revolution vorstellt? Und warum suchte ich in den polnischen Archiven vergeblich nach Filmaufnahmen, die unseren Vorstellungen von Bildern einer Revolution entsprechen?"
Vielleicht weil es die Bilder nicht gab. Außer beim Papstbesuch im Sommer 1979, den Hoessli nicht zeigt. Weil "Polen" ein Streik war, ein Protest, aber keine Umwälzung aller Dinge.
Iran aber war für Kapuscinski eine Folie für Polen.
Alle Geschichten über die Revolution beginnen mit einem Kapitel, in dem von der Fäulnis, dem Zerfall der Macht oder den Leiden des Volkes die Rede ist. Dabei sollte sie eher mit einem Kapitel Psychologie beginnen. Das davon handelt, wie ein gepeinigter, furchtsamer Mensch unversehens seine Angst ablegt, und Mut fasst. Dieser ungewöhnliche Prozess, der sich manchmal nur über einen Augenblick erstreckt, wie ein Schock, wie eine Läuterung, müsste bis ins Detail beschrieben werden. Der Mensch schüttelt die Angst ab und fühlt sich frei. Das ist eine Voraussetzung für die Revolution.
"Wenn ich Fragen zur Revolution stelle, stelle ich Fragen über mich selbst."
Negar Tahsili (geb. 1979), eine iranische Künstlerin und zu jung, um dabei gewesen zu sein, setzt andere Akzente:
"Ein Gedanke der einen nicht loslässt: Wenn ich Fragen zur Revolution stelle, stelle ich Fragen über mich selbst. Wenn ich über die iranische Gegenwartsgeschichte nachdenke, dann denke ich in Wahrheit über mich selbst nach. Denn die Revolution hatte einen viel direkteren Einfluss auf mich, als auf jemand in Europa, wenn Atmosphären sich verändern, Spielfiguren umgestellt werden."
Die Menschen, die damals auf die Straße gingen, entschieden für sich selber: Niemand kann mich aufhalten.
Diese Menschen, die an den Protesten beteiligt waren, haben wahrscheinlich andere Gefühle als ich, wenn sie diese Filmbilder sehen, Gefühle, die ich leider nicht haben kann. Nämlich dass sie sich in diesen Bildern selbst suchen. Doch ich weiß nicht, wie und warum: Obwohl es mich damals noch nicht gab, und meine Eltern vielleicht nicht dabei waren... Ich weiß nicht, warum ich mich in diesen Bildern selbst suche. Da ist etwas sehr seltsames auf Bildern, auf denen sehr viele Menschen zu sehen sind, und Du Dich selbst suchen kannst, ein sehr persönliches Gefühl und ich spreche darüber vielleicht zum ersten Mal. Ich fühle, dass mein Mund nach Blut schmeckt.
Glück und Unglück von Revolutionen
Es sind ambivalente Erfahrungen und diese ineinander zu einem komplexen Gesamtbild verschachtelten Ambivalenzen, die man auch einfach "die menschliche Wirklichkeit" nennen könnte, sind das Thema dieses Films.
Das Thema ist die Tatsache, dass es viele Wahrheiten gibt und hinter diesen wahrscheinlich auch eine Wahrheit, dass diese Wahrheit sich aber auch dem aufgeschlossenen Blick immer wieder entzieht und immer gefärbt ist durch die Position dessen, der sie sucht.
"Der nackte König" ist ein faszinierender, ebenso sinnlicher wie kluger und anregender dokumentarischer Essay mit zum Teil atemberaubenden Archivmaterial; ein Film über Glück und Unglück von Revolutionen, der von einer Fülle aufrüttelnder, aber auch nachdenklich und melancholisch stimmender Bilder getragen wird.
Waren diese Aufbruchsstimmungen, von denen ihre Teilnehmer ein ganzes Leben lag zehrten, nur das trügerische, schnell verblassende Zwinkern eines Augenblicks?
"Die Revolte ist ein großes Erlebnis. Ein Abenteuer des Herzens. Der Akt der Revolte befreit uns vom eigenen Ich, vom Ich des Alltags, das uns mit einem Male klein und nebensächlich und alt erscheint."
"In der Stadt herrscht eine neue Moral. Die Menschen sind offen und hilfsbereit. Ein neues Gefühl der Verbundenheit, alle Aggression sind verschwunden. Die Kriminalität auf Null gesunken. Vollkommen fremde Menschen fühlen plötzlich, dass sie sich gegenseitig brauchen." Kapuciskis Notizen, August 1980. Ich lese darin wie in einem Buch über die Stadt der Zukunft.
Die Schönheit des Unbestimmten
War es die Schönheit des Unbestimmten, von der diese Menschen berührt wurden, und nach der sie sich zeitlebens zurücksehnten? Mit solchen und anderen Fragen beschäftigt sich dieser Film in einer poetischen Montage aus atmosphärischen Aufnahmen, historischen Dokumenten und Interviewfragmenten. Einen weiteren besonderen Akzent setzt die durch den Film führende literarische Erzählung, die von Bruno Ganz eingesprochen wurde.
Hannah Arendt schrieb in "Über die Revolution", die Revolution beruhe darauf, dass sie die existenziellen Ängste aufhebe. Arendt spricht vom "verlorenen Schatz" der Revolution, wenn sie in ihrem Buch über die Revolution Gedichte von Rene Char analysiert, dem Angehörigen der Widerstandsbewegung in Frankreich. Er beschrieb das was wir postrevolutionäre Menschen verloren haben. Aber worauf beruht dieser Schatz?
Im Moment der Revolution überwinden wir unsere Ängste, treten aus dem existenziellen Rahmen heraus. Wir leben im Zustand der Euphorie, alles ist möglich. Der Welt wird die Hoffnung zurückgebracht, dass sie besser sein kann. Die Revolution in Iran und das Jahr Chomeinis und der Streik in Polen im Sommer 1980 bedeuteten diesen Zustand. Die Gewißheit, dass man anders leben kann.
"Der nackte König" wird vom Verleih w-film über deren Website im Netz gezeigt.
Frank Bösch: "Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann"; C.H.Beck Verlag, München 2019; 512 Seiten, 28 Euro
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