"Ich habe das Gefühl, wir sitzen auf einer Zeitbombe"
Die Schweiz debattiert über ihre Stellung als Drehscheibe für Rohstoffe
Die Debatte über die umstrittenen Rohstoffhändler in der Schweiz schwelt schon das ganze Jahr. Nun wurden einige neue Zahlen bekannt, die zeigen, wie mächtig die Rohstoffhändler geworden sind, und die Diskussion um Steuern, Transparenz und internationales Recht erreicht grundsätzliche Fragen zum Modell Schweiz und einen neuen Höhepunkt. Es wird befürchtet, dass die Geschäftsmethoden der Rohstoffkonzerne einen Imageschaden für das Land nach sich ziehen. Während NGOs, Journalisten und Politiker sich einig sind, dass die Angelegenheit problematisch ist, zögert das Parlament zu handeln.
Es gibt Zahlen, die zumindest irritieren, und einige sind mittlerweile in der Schweizer Öffentlichkeit angekommen: Bei Öl und Getreide geht ein Drittel des gesamten Welthandels über die Schweiz, bei Kaffee die Hälfte, bei Baumwolle ein Fünftel, bei Kupfer, seltenen Erden und weiteren Rohstoffen dürfte die Quote etwa ein Viertel betragen. Was den Rohstoffhandel angeht, ist die Schweiz eine Weltmacht.
Die Rohstoffkonzerne haben ihren Umsatz in den vergangenen zehn Jahren verzehnfacht und sind dabei, die Banken als nationalen Goldesel zu ersetzen. Mit Wachstumsraten, die weit über dem der Volkswirtschaft liegen, macht der Rohstoffhandel bereits drei Prozent des BIP aus. Das ist mehr als der Maschinenbau oder Tourismus, wie die Medien besorgt konstatieren. Denn was bei anderen Branchen Jubel auslösen würde, regt hier eher zum Grübeln an. Schweizer Politiker und Journalisten befürchten, die Rohstoffhändler würden der Schweiz das schlechte Image als "Piratenhafen" einbrocken und international für Unstimmigkeiten sorgen.
Im Rahmen des Rechtsstaates
Rund 400 transnationale Konzerne, von denen allenfalls Glencore öffentlich bekannt ist, wickeln mit etwa 10.000 Mitarbeitern den sogenannten Transithandel ab: Die Rohstoffe gehen nur virtuell über die Schweiz. Der Bärenanteil des Gewinns am globalen Rohstoffhandel bleibt so vornehmlich in den Kantonen Genf und Zug hängen, während über den meisten Produzentenländern wie Sambia, Kongo oder Kolumbien weiterhin der Rohstofffluch haftet. Der ungleiche Handel ist moralisch zwar schwer verdaulich, doch er respektiert (zumindest formal) den rechtsstaatlichen Rahmen, was ihn international schwer angreifbar macht. Erfolg ist nicht strafbar. Stärkere Sorgen bereiten den Schweizern daher die wiederholten Vorwürfe, die Konzerne nehmen es im Ausland mit dem Recht weniger genau: Umweltzerstörungen, Umsiedlungen, Kinderarbeit, Steuerverschleierung, Korruption - das gibt kein sympathisches Bild ab.
Manche Politiker sehen hier zwar Probleme, finden aber, dass das Bild der profitgierigen Konzerne überzogen sei und diese auf dem Weg zur Besserung wären, weshalb Selbstkontrolle durch Einsicht zu bevorzugen sei vor einer das Wachstum abwürgenden (Über-)Regulierung. Rund 50 NGOs zweifeln, dass die Konzerne ohne gesetzlichen Druck Ethik und Nachhaltigkeit vor Profit setzen. Sie haben am 11. Oktober mit gut 135.000 Unterschriften eine Petition ins Parlament gebracht, die fordert, dass die Schweiz einen Rechtsrahmen schafft, um Konzerne für im Ausland verübte Rechtsverstöße vor Schweizer Gerichte zu bringen.
"Was läuft da eigentlich?"
Aber viele Schweizer stellen sich auch die andere, vielleicht wichtigere Frage: "Was läuft da eigentlich?" Warum wurde gerade die Schweiz zur wichtigsten Drehscheibe des weltweiten Rohstoffhandels? Manche sagen, es läge an den gut ausgebildeten Fachkräften, der stabilen Demokratie, der hohen Lebensqualität, dem guten wirtschaftlichen Umfeld. Die meisten sagen, es sind die Sondersteuergesetze in Kantonen wie Zug oder Genf.
Wer mehr als 80 Prozent seines Umsatzes im Ausland macht, muss den Gewinn unter Umständen nicht versteuern. Null. Klar, dass man da hin will. Nicht umsonst hat Coca-Cola eine wichtige Zentrale von Griechenland nach Zug versetzt, und nicht ohne Grund hat der weißrussische Diktator Lukaschenko unlängst zum Unbehagen der Schweizer Öffentlichkeit angekündigt, eine Tochterfirma seines Ölkonzerns im Kanton Zug anzusiedeln. Die Schweiz braucht keine Steuereinnahmen, die Präsenz der schwerreichen Rohstoffhändler ist wie ein Konjunkturpaket. Die Erklärung von Bern beklagt, der durch den Sondersteuerstatus ins Land gelockte Reichtum trockne die Finanzen anderer Länder aus und trage damit zur Ausbeutung des Südens bei, und eine Denkfabrik schätzt, dass die Schweizer Steuerpolitik in anderen Staaten Steuerausfälle von 30 bis 36 Milliarden Franken verursacht.
Internationaler Wendepunkt
In jedem Fall ist der Sondersteuerstatus eine vielbeachtete Einladung, die Gewinne in die Schweiz zu bringen und die buchhalterische Phantasie spielen zu lassen. Es ist zumindest komisch, dass Glencore in seinen sambischen Minen 2010 angeblich gar keinen Gewinn gemacht hat. Aber im Detail ist so etwas schwer zu prüfen und sowieso kaum einzuklagen. Wo es keine Kontrolle gibt, gibt es keinen Kläger. Und die Rohstoffkonzerne gelten als schweigsam.
Das ist das dritte Thema: Die berühmte Schweizer Diskretion. "Ich habe das Gefühl, wie sitzen auf einer tickenden Zeitbombe", sagte ein ehemaliger Ständerat auf einer Konferenz. Das Thema Transparenz droht, die Schweiz zu isolieren. Denn international haben sich die Spielregeln bereits geändert. Kofi Anan sprach sogar von einem Wendepunkt. Die US-amerikanische Börsenaufsicht hat im Juli bestimmt, dass Rohstoffhändler ab 2013 alle Transaktionen an Regierungen offenlegen sollen, nachdem ein Skandal ans Licht gekommen war, in dem Rohölkonzerne und die nigerianische Regierung verwickelt waren. Das im Rohstoffhandel wichtige Kanada ist nachgezogen, ebenso die EU.
Intellektuelles Kapital ohne Copyright
Während der kantonale Sondersteuerstatus zwar wiederholt angeprangert wird, aber politisch ein Tabu-Thema bleibt, gab es in diesem Jahr politische Initiativen, in Sachen Transparenz international aufzuholen. Ende Mai hat der Bundesrat nach dem Vorstoß einer Berner SP-Nationalrätin eine Plattform eingesetzt, die die Transparenz bei den Geschäften und Geldströmen der Rohstoffkonzerne verbessern sollte.
Dagegen macht sich Widerstand breit. Einerseits protestiert die Branche. Ein Vertreter der Rohstoffhändler brachte es anlässlich der Herbsttagung des wirtschaftsfreundlichen Think Tanks Avenir Suisse auf die Formel, die Schweizer Firmen arbeiteten mit intellektuellem Kapital, auf das kein Copyright gilt: "Wenn wir der Welt sagen, wie wir unseren Profit machen, kopiert man uns über Nacht."
Zum Verständnis für die Geheimniskrämerei der verschwiegenen Branche kommt eine altbekannte Furcht: dass die Konzerne auswandern. Dass diese Gefahr nicht unrealistisch ist, demonstrierte bereits der Ölkonzern Trafigura, als er seinen Hauptsitz nach Singapur verlegte. Angeblich nicht wegen der Transparenzvorstöße, sondern wegen der (noch) besseren Steuerbedingungen, wie der Konzern unumwunden zur Kenntnis gab.
Dementsprechend erstaunt es nicht, dass erste Statements zu politischen Reformen ernüchternd ausfallen. Die Departements sind gespalten - ob überhaupt Handlungsbedarf besteht. Der Leiter des Außendepartements Claude Wild ließ etwa verlauten, die Schweiz respektiere die neuen Transparenzvorschriften der USA und der EU, sei aber selbst "noch nicht an diesem Punkt." Auch der Petition von Recht ohne Grenzen gab das Außendepartement eine Absage.
Vom Tisch ist das Thema jedenfalls nicht. Die zuständige Kommission hat die Bedeutung des Anliegens von Recht ohne Grenzen bestätigt. Und die SP-Abgeordnete Hildegard Fässler hat erst vor kurzem in einer Motion gefordert, dass die Schweiz die Transparenzregeln analog zu den USA verschärft - mit Unterstützung fast aller politischen Parteien.