"Ich heiße Max Müller, arbeite bei der Sparkasse Oberhaunsfeld und bin schwul"
Über die neue Offenheit in sozialen Online-Netzwerken
Im normalen Leben überlegen wir uns ziemlich genau, wer von uns was erfahren darf: Dass wir gestern in der Disco hinter die Bar gekotzt haben, dafür rausgeflogen sind und Hausverbot bekommen haben, das mögen die Kumpels erfahren, falls sie nicht sowieso dabei waren, doch Mutti und Chef sicherlich nicht. Im „Web 2.0“ ist diese Art gesunder Menschenverstand dagegen oft Mangelware.
In den frühen Datennetzen gab es immer zweierlei Arten von Identitäten: Realnamen und Pseudonyme. Während die klassischen Hacker üblicherweise mit Pseudonym unterwegs waren, wurde in manchen Mailboxnetzwerken wie dem FIDO der echte Name erwartet. Damit dieser auch wirklich real war, musste sich der Teilnehmer bei der Mailbox seines Vertrauens unter Vorlage eines Ausweises anmelden. Natürlich war das System nicht 100% sicher, da Mailboxbetreiber ohne weiteres falsche Identitäten einschleusen oder gar sich selbst noch 12 zusätzliche Namen geben konnten.
Wer dann im FIDO in der SEX.GER brav unter Realnamen bekannt gab, dass er gar nicht so brav seine Hunde noch etwas mehr liebte, als die meisten anderen Menschen dies tun würden, brachte nicht nur die Mehrzahl der Mitleser gegen sich auf, sondern durfte auch mit baldigem Polizeibesuch rechnen. Eigentlich eine Frage der Vernunft, derartig ausgefallene Vorlieben nicht unter seinem eigenen Namen bekanntzugeben, selbst wenn man selbstständig arbeitet und beruflich keine Konsequenzen zu befürchten hat, weil den Kunden dies egal ist. Doch der Glaube an die Online-Gemeinschaft war bei dem Betreffenden zu groß, ebenso wie sein Wunsch, seine persönliche Vorliebe salonfähig zu machen, indem er offen dazu stand.
Zu jener Zeit ein ungewöhnlicher Ausnahmefall – die meisten, die sich über sexuelle Vorlieben unterhalten wollten, suchten sich lieber andere Netze oder Mailboxen, in denen sie Pseudonyme verwenden konnten und die SEX.GER war deshalb die meiste Zeit eine Quasselbude, in der viel Unsinn geredet wurde und wenig ernst gemeint war.
Realname oder Pseudonym?
Im zu jener Zeit allgemein zugänglich werdenden Internet herrschte in den Newsgroups ebenso Realnamenpflicht, anderswo verrieten sich die Teilnehmer eher mal über ihre E-Mail-Adressen, als Freemailer noch nicht den kostenlosen Zweit- und Drittaccount möglich machten. In Deutschland verlangen Datenschutzgesetze heute, dass Teilnehmer an Foren unter Pseudonym schreiben können, um sich nicht vor aller Welt zu entblößen, der Realname wird dann nur herangezogen, wenn etwas Strafbares geschrieben wurde. Ähnlich verhält es sich bei den Freemailern.
Auch bei den sozialen Netzwerken wie Friendster, Orkut, OpenBC & Co. sollte es beide Sorten geben: Geschäftsorientierte Netzwerke wie OpenBC, in denen selbstverständlich der Realname anzugeben ist, in denen allerdings private Dinge eher außen vor bleiben, weil sie sonst den professionellen Eindruck zunichte machen könnten: in einem Forum von OpenBC eine Kollegin nicht beruflich zu kontaktieren, sondern plump privat anzubaggern, dürfte berechtigterweise zum sozialen K.O.s führen. In Sexnetzwerken ist es dagegen absolut üblich, unter Pseudonym aufzutreten.
Doch diese Trennung, welche die Vernunft eigentlich gebietet, wird von immer mehr Teilnehmern an sozialen Netzwerken freiwillig aufgehoben: selbst wenn sie ein Pseudonym verwenden, hinterlegen sie so viele Informationen über sich, dass es nicht wirklich schwierig ist, die Person zu identifizieren. Wenn dann das Profil besagt, dass der Betreffende gerne mal einen Joint durchzieht, die meisten Drogen zumindest einmal ausprobiert hat und beide Arme voller Tattoos hat, sind dies bestimmt keine guten Voraussetzungen für ein Bewerbungsgespräch, wenn der Personaler – was heutzutage längst gang und gäbe ist – den Namen des Bewerbers probehalber in eine Suchmaschine gibt und dabei auch auf die Pseudonyme des Betreffenden stößt. Das passiert, wenn dieser sie beispielsweise an anderer Stelle im Web wie in seinem Blog, das aber getreu den deutschen Vorschriften auch ein Impressum mit seinem Realnamen und seiner Adresse enthält, bekannt gegeben hat, damit seine Freunde wissen, unter welchem Namen sie ihn in den Netzwerken finden können.
Proteste gibt es nur bei erzwungenen Outings
Während Orkut ziemlich frech gleich zu Beginn die sexuellen Vorlieben seiner Mitglieder abfragt und dann auch bekannt gibt, kann bei professionell aufgezogenen Netzwerkseiten durchaus genau eingestellt werden, welche Informationen welche Kontakte zu sehen bekommen und welche nicht. Doch auch hier gehen die Benutzer extrem sorglos vor. Nur wenn die Dienste von sich aus die Privatsphäre der Benutzer durch neue Features reduzieren, sind Proteste die Folge. Doch 22% der jugendlichen Facebook-Nutzer gaben laut einer im Juni diesen Jahres gelaufenen Untersuchung ihren Namen von sich aus öffentlich frei, 40% ihren Stundenplan. Eine Befragung der US National Association of Colleges and Employers, die im Juli veröffentlicht wurde, ergab andererseits, dass 27% der Arbeitgeber nach dem Namen von Bewerbern in Google oder gar in sozialen Netzwerken gesucht haben.
Um das Problem der verschiedenen Identitäten auf dem Ehemaligen-Netzwerk der Schule, einem beruflichen Netzwerk, einer Datingsite und einem Hobbynetzwerk in den Griff zu kriegen, sollen nun Dienste wie Claim-ID helfen, die kontrollieren, wer bei der Suche von außerhalb über Google noch was zu sehen bekommen kann. Dabei können natürlich digitale Jugendsünden nicht aus dem Netz entfernt werden; es geht vielmehr dazu, sich – insbesondere bei Namensgleichheiten oder absichtlicher Sabotage (Alles nur ein Fake?) durch einem nicht wohl gesonnene Personen – zu Postings, Webseiten und Accounts explizit bekennen oder aber sich davon distanzieren zu können.
Die Vernunft sollte auch so weit gehen, dass man nur Dinge in sozialen Netzwerken oder Blogs unter seinem Namen bekannt gibt, die man auch seinem Chef und seiner Familie sagen würde. Doch die Anonymität der Leserschaft macht leichtsinnig ("Mein Blog liest ja sowieso kein Schwein"), auch wenn man selbst nicht anonym ist oder zumindest relativ leicht enttarnt werden kann. Während man sich ziemlich dämlich dabei vorkäme, einem Unbekannten im Bus mal eben ungefragt die eigene Telefonnummer oder den Geburtstag bekanntzugeben, entfällt diese automatische Hemmung, wenn man im Internet sein Gegenüber nicht sieht. Die sozialen Netzwerke erscheinen intim und persönlich, man denkt, man teile seine persönlichen Informationen wirklich nur mit Freunden, obwohl sie mit mehr oder weniger Mühe jedem zugänglich sind.
Online-Offenheit ist berufsabhängig
Und während hier Teenager, die noch kein bedeutendes öffentliches Leben haben, oft viel zu großzügig sind und sich so privat und später auch beruflich in Gefahr bringen, hängt es bei den Erwachsenen vom gewählten Beruf ab: Im New Scientist berichtet Lindsey, eine Jurastudentin in Philadelphia, dass Freunde, die als Discjockeys, Plattenverkäufer oder Grafikdesigner arbeiten, im Netz weit offener sind als jene in traditionelleren Berufen. Völlig aus den sozialen Netzwerken heraus halten sich die Lehrer unter ihren Bekannten – verständlicherweise, denn die Schüler würden jeden Schwachpunkt ausnutzen:
Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn Du in Deine Klasse marschierst, um Mathematik zu unterrichten und die Schüler Dein Strandbild vom letzten Urlaub ausgedruckt auf den Bänken liegen haben.