Ich sehe was, was Du nicht siehst … - und das ist unsichtbar!
Seite 2: Schlüssel zum Film
Plausibel wird mit dieser Lesart, dass das Grauen unsichtbar bleiben muss. Der Film bezieht sich auf das Sehen, auf Sehgewohnheiten selbst, etwa den suchtartigen Vergleich von Nutzerprofilen, das unablässige Überprüfen von Likes, die Hatz nach Anerkennung, die Wahrnehmung von Kommentaren. Das Sehen, die Wahrnehmung an sich, muss dabei prinzipiell unsichtbar bleiben. Visuelle Wahrnehmung wäre genauso wenig möglich, wäre das Medium der elektromagnetischen Wellen selbst sichtbar, wie auditive, würde das Medium der Schallwellen selbst Geräusche erzeugen.1
Ebenso wird in dieser Lesart klar, dass Selbstdestruktion die Folge dieses Schreckens sein muss. Es sind die Folgen individueller, persönlicher Wahrnehmung, die der Film thematisiert, nicht der Horror, der Personen von außen aufgezwungen wird. Von daher führt der Film plausibel vor, dass der unsichtbare Schrecken in letzter Konsequenz zum Selbstmord führt.
Plausibel wird in diesem Zusammenhang auch, dass der Film das Problem als Apokalypse inszeniert. Es sind Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten, die sich im gesellschaftsweiten Maßstab im Wandel befinden. Wie schon erwähnt, Tik Tok verfügt über monatlich eine halbe Milliarde aktive Nutzer. Anwendungen wie Instagram oder Facebook warten gar mit einer, bzw. zwei Milliarden monatlichen Nutzern auf (Quelle: statista.com).
Warum aber gibt es Überlebende - und wer sind diese Überlebenden? Im Film wird eher beiläufig thematisiert, dass es wohl Insassen einer psychiatrischen Klinik sind, die offenkundig nicht nur immun sind gegen das unsichtbare Grauen, sondern den Horror mit Begeisterung konsumieren. Im Kontrast dazu ist es gerade die offenkundig freundliche, vernünftige, sympathische Schwester der Figur Sandra Bullocks (Sarah Paulson), die dem Grauen als eine der ersten zum Opfer fällt. - Auch diese Perspektive des Films ergibt Sinn.
Es sind in der Nutzung, wie im Konsum von sozialen Medien starke Abweichungen vom Üblichen, Außergewöhnliches, Provokantes, das für Aufmerksamkeit und allenfalls Anerkennung sorgt.2 Es ist die Nutzung des Mediums selbst, die es zu einem Ort des Horrors werden lässt, indem gewissermaßen sozialdarwinistisch ein gegenseitig deviant angepasster Personenkreis "überlebt".
In der Nutzung von sozialen Medien wie Tik Tok bzw. musical.ly korrespondiert deshalb zwangsläufig die Anerkennung für Videos von besonders "freizügigen" Teenagern (sich ausdrückend in der Anzahl von Klicks, Likes oder anerkennenden Kommentaren) mit der Attraktivität dieser Medien für pädophil veranlagte Konsumenten.
Die Thematisierung des Films einer Blindenschule als rettenden Zufluchtsort mag zwar im Kontext einer Gefahr, die im Sehen schlechthin liegt, nicht sonderlich überraschen, ist aber dennoch klug gewählt. Denn eine Blindenschule muss aus funktionalen Gründen als ein Gegenentwurf zur Welt der sozialen Medien gelten, zur Welt des visuellen Vergleichs, einer Welt, die Anerkennung nicht im Persönlich-Individuellen sucht, sondern - als Reputation - in Bezug auf ein Publikum in Form von massenhaft vorliegenden, gleichartigen Nutzerprofilen.3
Angesichts des fehlenden Gesichtssinns ist nämlich, in Beschränkung wesentlich auf Gehör- und Tastsinn, für Blinde funktional notwendig, sich hochkonzentriert wahrnehmend auf die Äußerungen von individuellen, vorzugsweise körperlich anwesenden Personen einzulassen. Äußerste Aufmerksamkeit, gespannte Achtsamkeit ist demnach für Blinde von funktionaler Notwendigkeit für das Überleben.
Dies im Gegensatz zur Welt der sozialen Medien, in der offenkundig eher ein schneller, oberflächlicher Vergleich, die vordergründige Wahrnehmung von Bedeutungen, oder eine tendenziell fragmentarische, flüchtige Lektüre den angemessenen Modus der Beobachtung darstellt. Der den sozialen Medien antagonistische Charakter der Blindenschule wird in Bird Box sehr schön durch eine Szene verdeutlicht, die an ein antikes Symposium erinnert. Sich körperlich nahe kommende, berührende Menschen, im intensiven, hochkonzentrierten Austausch oder Zwiegespräch.
Die filmischen Intentionen
Es ist unklar, ob die Regisseurin oder der Schriftsteller des dem Film zugrundeliegenden Romans (Josh Malerman) unsere Interpretation intendiert haben. Zumal diese, so sollte es nun zumindest scheinen, recht nahe liegende Deutung des Films in bisherigen Filmkritiken nicht gesehen wird.
Die Interpretation von Kunstwerken, wie die eines Films oder eines Romans, ist nicht abhängig von den Intentionen ihrer Autoren oder Autorinnen, sondern kann eine gesellschaftliche Eigendynamik entwickeln, die es gerade komplexen Werken erlaubt, immer wieder neu, dem Zeitgeist angepasst, interpretiert zu werden.
Künstler haben oft - selbst unbewusst - ein feines Sensorium für gesellschaftlich latente Strukturen, lediglich unterschwellig existierende Gefahren, noch im Verborgenen lauernde Bedrohungen. Es bedarf Beobachtern dieser Beobachter, gewissermaßen Beobachtern 2. Ordnung, um die Latenz dieser Strukturen explizit sichtbar zu machen.4 Erst so lässt sich konkreter vor diesen Gefahren warnen, etwa zum Schutz von Heranwachsenden.
Gewiss arbeiten Parabeln - als die wir hier Bird Box interpretieren - im Sinne ihres intendierten Erkenntnisgewinns, aufgrund didaktischer Überlegungen, mit Übertreibungen, dramatisieren allenfalls Gefahren. Auch deshalb bleibt zu hoffen, dass das sich in Selbstmorden ausdrückende destruktive Potential, das der Film thematisiert, auf der (virtuellen) Ebene der Nutzerprofile der sozialen Medien angesiedelt ist, es im Regelfall lediglich um das eigenhändige Löschen von Nutzerprofilen geht.
Allerdings muss mit Sicherheit auch in anderen Regionen der Gesellschaft mit allenfalls destruktiven Konsequenzen gerechnet werden. Dies schlicht deshalb, weil soziale Medien heute die Produktion und Reproduktion der Gesellschaft substantiell mit vollziehen.
Der oder die werte Leser/in mag versucht sein, aus dem hier konstruierten Troja des Zeitgeistes weitere Fundstücke auszugraben. Etwa: Kann sich Sandra Bullocks Figur in der parabolischen Logik des Films nur deshalb so lange in den sozialen Medien tummeln - bevor sie das Sanktuarium der Gemeinschaft von Personen mit gelöschten Nutzerprofilen erreicht -, weil sie anfänglich relativ krude (deviante) Vorstellungen von Mutterschaft an den Tag legt?
Diese Suche ist möglicherweise eine sinnvollere Herausforderung, als die BirdBoxChallenge, von Nutzern der sozialen Medien, die ihr Nutzerprofil noch nicht gelöscht haben.