Identitätspolitik: Woke und weltfremd

Seite 2: Neuauflage einer gefährlichen Illusion

Identitätspolitik gründet auf dem eigentlich noblen Gedanken, die gesellschaftliche Position und den Einfluss historisch benachteiligter Gruppen zu verbessern, ob Frauen, Einwanderer, Homosexuelle oder People of Color. Identitätspolitik ist die Forderung nach gleicher gesellschaftlicher Teilhabe für alle Gruppen und äußert sich beispielsweise im Ruf nach Frauenquoten, gendergerechter Sprache oder im Engagement gegen Alltagsrassismus.

Das Problem liegt im fast ausschließlichen Fokus auf tatsächlich oder vermeintlich oder benachteiligte Gruppen. Dieses Gruppendenken, das teilweise schon ins Tribale umschlägt, wie im Falle der niederländischen Übersetzung der afroamerikanischen Dichterin Amanda Gorman, als einer weißen Übersetzerin aufgrund fehlender "Erfahrungswelt" die Fähigkeit und Berechtigung abgesprochen wurde, ein Gorman-Gedicht ins Niederländische zu übertragen, zieht zwischen mutmaßlich Privilegierten und Benachteiligten klare Grenzen.

Das ausschlaggebende Kriterium, ob jemand benachteiligt ist und daher besondere politische Vertretung braucht, war für Linke traditionell der sozioökonomische Status einer Person, der sich aus verschiedenen Faktoren, wie formalen Bildungsabschlüssen, Beruf und Einkommen, kultureller Praxis, Möglichkeiten gesellschaftlicher und politischer Teilhabe, Wohnort und Eigentumsverhältnissen ergibt. In der Identitätspolitik sind die Trennlinien aber klarer, das vordergründige Kriterium für Benachteiligung ist hier die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, die sich meistens schnell an äußerlichen Merkmalen erkennen lässt.

Das erleichtert die Einordnung einer viel zu komplexen Welt ungemein: Privilegiert, wenn nicht sogar Ausbeuter und Unterdrücker, sind automatisch weiße heterosexuelle Männer, benachteiligt sind dagegen unter anderem Frauen, Afroamerikaner, Migranten, LGBT-Personen und alle intersektionalen Gruppen, die sich daraus ergeben können. Identitätspolitik perpetuiert auf diese Weise die gefährliche Illusion, Unterdrücker und Unterdrückte anhand äußerlicher Merkmale schnell und unkompliziert erkennen zu können - eine "linke" Wahnvorstellung, die mit der Eliminierung von Brillenträgern unter Pol Pot einst ihren traurigen Höhepunkt erreicht hat.

Der weiße Mann: privilegiert und moralisch minderwertig

Wenn die Frage, wer von linken Parteien repräsentiert werden soll, sich hauptsächlich durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Minderheiten entscheidet, fallen automatisch unzählige Menschen durch das grobmaschige Netz dieser neuen linken "Awareness" hindurch: beispielsweise die Millionen weißer männlicher Arbeiter, die sich in den meisten westlichen Staaten politisch nicht mehr vertreten fühlen und als Konsequenz in Scharen rechten Populisten zulaufen.

Der Unmut ist einigermaßen nachvollziehbar: Warum sollte ein schwarzer Homosexueller, der beruflich erfolgreich ist und ein hübsches Einfamilienhaus mit Garten bewohnt, allein aufgrund seines Minderheitsstatus mehr politische Aufmerksamkeit verdienen als ein weißer unterbezahlter Arbeiter, der nebenan im Plattenbau wohnt?

Doch für die Gerechtigkeitsdebatten der neuen Linken spielt das sozioökonomische Prekariat kaum eine Rolle mehr. Was die großen Konzerne am meisten freuen dürfte. Eine Marketing-Abteilung nach der anderen hat in den letzten Jahren die linke Identitätspolitik und die neue "Woke"-Kultur, also das Bewusstsein für die politischen Anliegen vermeintlich oder tatsächlich benachteiligter Minderheiten, für sich entdeckt. Das Ergebnis sind Werbe-Spots, die politische Positionen transportieren, indem Black-Lives-Matter-Slogans benutzt werden oder toxische Männlichkeit verurteilt wird.

Die Kritik daran ist nicht von der Hand zu weisen: Warum gaben sich dieselben Konzerne nicht genauso aufgeklärt und vom Guten überzeugt, als es noch um faire Löhne und menschenwürdige Arbeitsbedingungen ging? Sollte es nicht zu denken geben, wenn ein Jeff Bezos die linksliberale Washington Post aufkauft? Nicht um sie auf Kurs zu bringen, sondern weil sie mit ihren Inhalten bereits einen Kurs vertritt, der für einen Multimilliardär, der immer wieder mit Vorwürfen der Ausbeutung und Steuerflucht konfrontiert ist, kein Problem mehr darstellt.

Vor "Mikroaggressionen" kann kein Gesetz schützen

Allein schon der Anspruch der neuen Linken, durch Politik zu bewirken, dass alle Menschengruppen im Alltag gleichbehandelt werden und keine "Mikroaggressionen" erfahren, ist irreführend. Im Gegensatz zur Diskriminierung, gegen die ein Martin Luther King ankämpfte, lässt sich die Alltagsdiskriminierung kaum durch legislative Eingriffe, sondern durch gesellschaftliche Sensibilisierung bekämpfen.

Der Handlungsspielraum der Gesetzesgeber ist hier also beschränkt - ganz im Gegensatz zu sozioökonomischen Benachteiligungen, die nicht durch Sensibilisierung, sondern nur durch politische Maßnahmen der Umverteilung oder bessere Bildungschancen beseitigt werden könnten.

Es gibt eben kein Gesetz, das Menschen vor Kommentaren wie "Und wo kommen deine Eltern her?" schützt und es gibt - zum Glück - auch kein Gesetz, das fragwürdige "Indianerkostüme" verbietet. Aus diesem Grund muss Identitätspolitik auf neue Disziplinierungsmaßnahmen zurückgreifen: Shitstorms, öffentliches Ächten und anonymes Melden bei der Personalabteilung oder beim Universitätsrektorat - die Konsequenzen sind auch als "Cancel Culture" bekannt.

In den USA, die in diesem politischen Trend Vorreiter sind, wurden Studenten bereits aus Universitätskursen entfernt weil sie festgestellt haben, dass Homosexualität in der Bibel als Sünde gilt, und ein Journalist bereits gefeuert, weil er in einer Diskussion über Rassismus beispielhaft das N-Wort ausgesprochen hatte.

An deutschsprachigen Universitäten bleibt es vorerst nur bei Ausladungen und Protestaktionen – zum Beispiel Niederbrüllen – gegen umstrittene Vortragende, aber auch hier konstatierte das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit im März dieses Jahres ein zunehmend einschüchterndes Klima für abweichende Positionen.

Befeuert wird diese Welle öffentlicher Anklagen durch eine gesellschaftliche Entwicklung, die unter Soziologen als "victimhood culture" bekannt ist. Während in archaischen Gesellschaften - sogenannten "honour cultures" - das Opfer eines Übergriffs durch das widerfahrene Unrecht auch an moralischem Status einbüßt und diesen Ehrverlust nur dadurch wiedergutmachen kann, dass es selbst zum Täter wurde, etwa durch einen Akt der Blutrache, haben moderne Gesellschaften mit einem funktionierenden Rechtsstaat eine sogenannte "dignity culture", in der Recht und Unrecht Sache der Justiz ist und der moralische Status des Opfers weder erhöht noch geschmälert wird.

Die "victimhood culture" ist dagegen eine Gesellschaft, die der "honor culture" diametral entgegensteht: Hier gewinnt das Opfer an moralischem Status, während der Täter ihn verliert. Menschen, denen ein tatsächliches oder vermeintliches Unrecht widerfahren ist, haben in einer solchen Gesellschaft den Anreiz, sich mit ihrer Unrechtserfahrung nicht (nur) an ein Gericht, sondern an die Öffentlichkeit wenden und den Täter öffentlich anklagen zu können: Public Shaming. Das sichert dem Opfer allgemeine Aufmerksamkeit, Gehör und Zuwendung.

Da sich in einem identitätspolitisch aufgeladenen Umfeld die Frage nach Privilegien und Schuld nicht durch Lebensumstände und persönliches Handeln, sondern bereits durch unveränderliche Zugehörigkeiten entscheidet, steht der weiße und heterosexuelle Mann zwangsläufig in einer Position der moralischen Bringschuld. Wie kann er seinen von vorneherein niedrigeren moralischen Status verbessern?

Die identitätspolitisch geprägte Linke kennt darauf eine eindeutige Antwort: Woke sein. In anderen Worten: Schweigen. Den Kampf von historisch benachteiligten Minderheiten um immer neue Rechte zwar unterstützen, sich selbst aber zurücknehmen und die tatsächlich oder vermeintlich Benachteiligten für sich selbst sprechen lassen.