Identitätspolitik der Ukraine: Was heißt Dekolonisierung?

Arm, aber stolz? Was bedeutet Identitätspolitik in einem Kriegsland für die unteren Klassen? Symbolbild: David Peterson auf Pixabay (Public Domain)

Soziale Ungleichheit steht in der Ukraine nicht zur Disposition. Stattdessen geht es oft um Tilgung russischer Sprache und Kultur aus der Öffentlichkeit. Auch ukrainische Intellektuelle sehen das teils kritisch.

Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg wird oft von "Entkolonialisierung" oder "Dekolonisierung" gesprochen. Zum Teil wird darunter die Entfernung von russischem Kulturgut aus der Öffentlichkeit und russischer Literatur aus dem Bildungssystem des Landes verstanden.

"Die radikaleren Dekolonisierer, die auch im Westen zu finden sind, möchten die Russische Föderation in mehrere kleinere Staaten zerfallen sehen, schrieb unlängst Volodymyr Ishchenko, stellvertretender Direktor des Zentrums für Gesellschaftsforschung in Kiew, in einem Beitrag für die britische Zeitschrift New Left Review.

Im akademischen Kontext ist damit laut Ishchenko aber vor allem eine Identitätspolitik der Ukraine gemeint: Das Denken in den Sozial- und Geisteswissenschaften gilt im gesamten postsowjetischen Raum als vom russischen Kulturimperialismus durchdrungen. Daher soll das Denken "dekolonisiert" werden. Als Antwort auf die russische Invasion hat diese Identitätspolitik Fahrt aufgenommen: Auch längst verstorbene russische Autoren von Weltruhm wie Tolstoi und Puschkin landen im Altpapier.

Nationale Befreiung ohne soziale Revolution

Ishchenko vermisst beim Thema Dekolonisierung die Frage nach den Macht- und Eigentumsverhältnissen. "Nationale Befreiung wird nicht länger als untrennbar mit sozialer Revolution verbunden verstanden, die die Grundlagen von Kapitalismus und Imperialismus in Frage stellt", schreibt er.

Geht es also bei der Entkolonialisierung nur darum, dass die Reichen und Mächtigen die "richtige" kulturelle Identität haben? Und wenn ja: Was ist für mittellose Ukrainer damit gewonnen, wenn diese Reichen und Mächtigen nicht sozialer eingestellt sind als die mit der "falschen" kulturellen Identität?

Ishchenko spricht in diesem Zusammenhang von "defizienten Revolutionen" des Maidan-Typus, die aus seiner Sicht "weder die Festigung der liberalen Demokratie erreichen noch die Korruption beseitigen". Es gehe mehr um Symbole und Identität als um soziale Transformation, wie sie bei der Dekolonisierung im Globalen Süden nach dem Zweiten Weltkrieg angestrebt wurde.

Bisher hat die "Entkolonialisierung" der Ukraine nicht zu einer robusteren staatlich-interventionistischen Wirtschaftspolitik geführt, sondern fast genau zum Gegenteil. Paradoxerweise fährt die Ukraine trotz der objektiven Notwendigkeiten des Krieges mit Privatisierungen fort, senkt Steuern, streicht Arbeitsschutzgesetze und bevorzugt "transparente" internationale Unternehmen gegenüber "korrupten" einheimischen Firmen.


Volodymyr Ishchenko, New Left Review, Nov/Dec 2022

"In der Ukraine wird der neoliberale Umbau vorangetrieben"

Dies bestätigen auch die Eindrücke der Leipziger Linke-Politikerin Juliane Nagel von einem Ukraine-Aufenthalt im Januar. Sie hatte dort Gewerkschafter und Mitglieder legaler Organisationen getroffen, die sich als links und emanzipatorisch verstehen – "orthodoxe Hammer-und-Sichel-Parteien", wie sie Nagel nennt, sind dort bereits verboten.

Von einem Vertreter der Lokführergewerkschaft erfuhr die Reisegruppe, dass auch gewerkschaftliche Kämpfe in der Ukraine durch den Generalverdacht der Feindbegünstigung erschwert werden:

Es gibt Einschränkungen beim Streikrecht und beim Versammlungsrecht, die Arbeitszeit wird erhöht, die Löhne werden gekürzt. Und wer dagegen einen Streik anzettelt, der riskiert, als Russland-Kollaborateur denunziert zu werden. Klar ist: In der Ukraine wird der neoliberale Umbau vorangetrieben, und es ist für die Gewerkschaften unter den Umständen des Krieges sehr schwer, dagegen vorzugehen.


Juliane Nagel im Gespräch mit der Tageszeitung Neues Deutschland, 22. Februar 2023

Nagel betonte zugleich, dass alle ihre Gesprächspartner für die Selbstverteidigung der Ukraine und für Waffenlieferungen seien, da sie "nicht unter russischer Okkupation leben" wollten.

Wenn auch das Reden mit russischen Kriegsgegnern als verdächtig gilt

Volodymyr Ishchenko kritisiert in New Left Review, dass im Rahmen der ukrainischen Identitätspolitik oft schon das Reden mit Russen – selbst wenn sie eindeutig Kriegsgegner und Putin-Kritiker sind – als problematisch gilt. Wenn den Westen nach dieser Lesart eine Schuld trifft, dann die des Zauderns gegenüber Russland – und diese Schuld hat der Westen durch bedingungslose Unterstützung der Ukraine zu tilgen, auch wenn dies für das Land eine starke Abhängigkeit vom Westen bedeutet.

Ishchenko sieht das kritisch: "Für diese Politik ist das Problem der russische Imperialismus, nicht der Imperialismus im Allgemeinen. Die Abhängigkeit der Ukraine vom Westen wird tendenziell überhaupt nicht problematisiert", schreibt er.

Aus seiner Sicht versuchen die westlichen Eliten, eine "marode internationale Ordnung zu retten", während russische Eliten eine neue anstreben; und für sich selbst einen besseren Platz darin. Keine Seite könne aber erklären, wie davon jeweils der Rest der Menschheit profitieren soll.

Vor diesem Hintergrund hält er die gegenwärtige Identitätspolitik bei zugleich hoher Abhängigkeit vom Westen für selbstzerstörerisch. Für Ukrainerinnen und Ukrainer stelle sich die Frage, "ob das wirklich das ist, was wir brauchen".