Idlib: Die Wut der Dschihad-Milizen auf die Türkei
Erdogan wird "Verrat" vorgeworfen, am syrisch-türkischen Grenzübergang Bab al-Hawa kam es zu Protesten
Seit heute Morgen, 6 Uhr Ortszeit, soll im syrischen Idlib ein Waffenstillstand gelten. Das "russische Zentrum für die Versöhnung der Kriegsparteien in Syrien" hatte ihn gestern einseitig verkündet, mit dem Appell an Milizenführer, "dass sie ihre Provokationen unterlassen und sich dem Prozess einer friedlichen Regelung in den Zonen, die sie kontrollieren, anschließen". Die syrische Nachrichtenagentur Sana bestätigte am Samstagmorgen, dass sich die syrische Armee der Vereinbarung anschließen würde, abhängig von den Aktionen der gegnerischen Seite.
Die Erklärung aus Damaskus erfolgt nach der nächsten Etappe strategisch wichtiger Eroberungen im südlichen Idlib. Nach der Einnahme von Khan Scheichun setzte die syrische Armee ihren Vormarsch fort und brachte das Gebiet um den Ort Al-Tamanah, wichtige Anhöhen, Dörfer sowie den Ort selbst unter ihre Kontrolle. Damit rückt die syrische Armee nach Ansicht von Beobachtern "unaufhaltsam in Richtung Idlib vor".
Begleitet wurden die Vorstöße der syrischen Armee bei Al-Tamanah von massiven russischen Luftangriffen auf Ziele in Maarat Al-Numan und Umgebung, wie Medien melden, die der Regierung in Damaskus nahestehen.
Maraat al-Numan könnte das nächste Ziel sein, spekulieren Beobachter. Die Stadt ist ein Verkehrsknotenpunkt, sie liegt an der Magistrale M5 und hat eine Verbindung zur anderen bedeutenden Fernstraße M4. Die Kontrolle über die beiden Schnellstraßen ist für Damaskus essentiell.
Flucht
Die neue Waffenruhe solle die "Situation stabilisieren", berichtete die Tagesschau gestern vom Statement des russischen Versöhnungszentrums. Er wurde auf jeden Fall zu einem für die syrische Regierung günstigen Zeitpunkt ausgerufen und setzt zunächst ein Signal gegen die Empörung über die Angriffe und die seit Monaten immer wieder aufkommende Befürchtung in den Medien, dass eine große Offensive bevorsteht, die zu katastrophalen Folgen für die Zivilbevölkerung führt. In sozialen Medien wird von Angst unter der Zivilbevölkerung berichtet und von Fluchtbewegungen.
Schätzungen, die an dieser Stelle nicht überprüft werden können und die sich auf oppositionsnahe Gruppen und Organisationen wie dem "Idlib Gesundheitsdirektorat" (Idlib health directorate) berufen, geben Zahlen von bis zu 900.000 Binnenflüchtlingen aus Idlib seit April an. Tausend Familien sollen sich in provisorischen Lagern unter freien Himmel aufhalten, berichtet Middle East Eye.
Für Aufsehen sorgte gestern der Ansturm einer aufgebrachten Menge auf den syrisch-türkischen Grenzübergang Bab al-Hawa. Darunter waren Flüchtlinge, die in der Türkei Zuflucht suchen, aber auch Wütende, die gegen die Türkei protestierten; auch Mitglieder des al-Qaida-Abkömmlings Hayat Tahrir al-Scham sollen mitgemischt haben.
Nach dem Freitagsgebet stürmten in al-Bab Tausende Männer die Straßen und zogen unter der Parole "Verräter Türkei" zum Grenzübergang al-Hawa. Türkische Soldaten schossen daraufhin Tränengas in die Menge und gaben Warnschüsse ab. Wie es heißt, soll es zu einer Vielzahl von Verletzten gekommen sein. Zeitgleich brachen auch auf der anderen Seite der Grenze Proteste aus. In Reyhanlı in der türkischen Provinz Hatay versuchten Demonstranten zum Grenzübergang zu marschieren, wurden jedoch daran gehindert.
ANF
Der Vorwurf des Verrats, der der Regierung Erdogan gemacht wird, ist, wie berichtet wird, zu einem Slogan geworden, der innerhalb der Milizen in Idlib verstärkt die Runde macht. Dem Vorwurf zugrunde liege die Ansicht, dass die Türkei verantwortlich für die "Verteidigung der Bewohner von Idlib" sei und sich von ihnen abgewendet habe. Insbesondere Dschihadisten sollen "superwütend" sein, wie auf sozialen Netzwerken verbreitet wird, gezeigt wird das Verbrennen von Fahnen mit dem Konterfei Erdogans.
Türkisches Einlenken
Was genau Erdogan mit Putin auf der Waffenmesse besprochen hat, wo der russische dem türkischen Präsidenten ein Eis kredenzte, gibt viel Stoff für Spekulationen und Überlegungen. Einerseits wurde mit dem Besuch Erdogans auf der Waffenmesse noch einmal klar, dass sich Erdogan dort die Unterstützung für einen Kurs holt, der sich von den USA unabhängiger macht (der neue US-Verteidigungsminister hatte kürzlich deutliche Worte dagegen geäußert).
Zum anderen wird das Treffen von Beobachtern als türkisches Einlenken gewertet: Ankara wird sich auf Dauer der Übernahme Idlibs durch die syrische Armee nicht entgegenstellen. Das ist das Fazit, das der gut unterrichtete Beobachter Maxim A. Suchkov aus dem Treffen zieht und das aus dem Bericht Amberin Zamans über die Pressekonferenz der beiden Präsidenten Putin und Erdogan durchscheint, trotz der Vorwürfe und Drohungen Erdogans Richtung Damaskus.
Grund dafür waren Angriffe auf den türkischen Beobachtungsposten im Süden Idlibs, die Erdogan der syrischen Armee zuschreibt. Auch der kürzliche Angriff auf den türkischen Konvoi , der offiziell mit der Versorgung des Beobachtungspostens betraut war, aber sehr viel wahrscheinlicher vor allem der Unterstützung der mit der Türkei verbundenen islamistischen Milizen diente (Erdoğan und Assad: Konflikt um Khan Scheichun), war ein deutliches Signal, dass Moskau und Damaskus gewillt sind, der bisherigen Politik der Türkei in Idlib ein Ende zu setzen.