Idlib: Wie lange bleibt die Türkei?

Foto: Kremlin.ru/CC BY 4.0

Die syrische Armee feiert die Wiedereroberung des strategisch wichtigen Saraqib. Die großen strategischen Fragen zur Zukunft Nordsyriens aber werden zwischen Putin und Erdogan ausgemacht, wahrscheinlich zulasten der Kurden

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Operation Frühlingsschild lautet der Name für die völkerrechtswidrigen Angriffe der Türkei in Syrien, so der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar, der sie als Antwort auf den "heimtückischen Angriff des syrischen Regimes auf türkische Truppen" am vergangenen Donnerstag darstellt. Hinzugefügt wird von der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu Agency (AA) eine Erfolgsmeldung.

Abgeschossen, zerstört oder getötet - "neutralisiert" - wurden: "Eine Drohne, acht Hubschrauber, 103 Panzer, 19 gepanzerte Truppentransporter, 72 Artillerie-Waffen, 3 Luftabwehrsysteme, 56 gepanzerte Fahrzeuge, 9 Munitionslager und 1.212 Soldaten der syrischen Armee sowie 'Elemente'".

Iran und Russland

Mit dem ominösen Ausdruck "Elemente" könnten Kämpfer der Hisbollah und der iranischen Revolutionswächter gemeint sein, auf deren Verluste der belgische Journalist Elijah J. Magnier am Wochenende aufmerksam machte. Das dürfte das Verhältnis zwischen der Türkei und Iran strapazieren, weswegen die Nachrichtenagentur sich hier bedeckt hält. Iran hat die Türkei angeblich sogar aufgefordert, ihre Truppen aus Syrien abzuziehen, ansonsten müssten sie mit Angriffen iranischer Raketen rechnen.

Das halbstaatliche Medium Press TV relativiert die Drohung heute etwas im Ton. Die Türkei solle mit "mehr Klugheit und Zurückhaltung" vorgehen, so der Ratschlag aus Iran. Angedeutet wird aber auch, dass es zu Vergeltungsschlägen kommen kann, sollten weiterhin von der Türkei auch Ziele angegriffen werden, wo sich "iranische Militärberater" aufhalten.

Iran ist nicht der einzige heikle "Faktor" im syrischen Kriegsgeschehen, über den die Meldung der türkischen Nachrichtenagentur hinweggeht. Der andere ist die Rolle Russlands. In der AA-Darstellung wird so getan, als ob lediglich die syrische Armee für die 34 getöteten türkischen Soldaten am vergangenen Donnerstag verantwortlich ist.

Der Verlauf der Kampfhandlungen mit ihrer Vorgeschichte - Manpads- und Drohnen-Angriffe auf die russische Militärbasis Khmeimim; vorgeworfen wird, dass türkische Soldaten daran beteiligt waren -, wie er von al-Monitor geschildert wird, berichtet von Angriffen zweier russischer Flugzeuge auf die türkischen Truppen.

Erdogan: "Geht uns aus dem Weg und lasst uns alleine mit Assad"

Der Bericht stützt sich auf lokale Quellen. Demnach haben zwei russische Sukhoi Su-34 und zwei syrische Su-22.Kampfflugzeuge den Konvoi mit türkischen Soldaten auf der Straße zwischen al-Bara und Balyun angegriffen. Von offizieller russischer Seite gab es dazu ein Dementi. Die türkische Regierung achtet in offiziellen Statements darauf, diese militärische Konfrontation möglichst nicht zu erwähnen. Im Visier steht dort "das syrische Regime", dem de facto mehr oder weniger der Krieg erklärt wurde.

Beide Seiten, die Regierungen in Moskau und in Ankara, wissen, was geschehen ist. Jetzt wartet man auf das Treffen zwischen Putin und Erdogan, das laut türkischer Berichte auf kommenden Donnerstag, den 5. März, angesetzt ist.

Der türkische Präsident soll markige Äußerungen an die Adresse Russlands gerichtet haben, wie türkische Medien berichten: "Geht uns aus dem Weg und lasst uns alleine mit Assad und seinem Regime!"

Heute gab es aus Russland die Warnung, dass man für die Sicherheit der türkischen Flugzeuge nicht mehr garantieren könne, die syrische Regierung habe den Luftraum über Idlib gesperrt. In der Tass ist zudem eine Erfolgsmeldung vonseiten der syrischen Armee zu lesen. Der sei es gelungen, Saraqib zurückzuerobern.

Der Ort liegt an den beiden wichtigen Schnellstraßenverbindungen M4 und M5, deren Kontrolle strategisch von großer Bedeutung ist. Die Kämpfe um die Stadt spielten eine Rolle beim Kriegsgeschehen am vergangenen Donnerstag. Der Eroberung Saraqibs durch die Dschihadisten mit türkischer Unterstützung folgte großer Jubel von dieser Seite.

Nun hat sich das Blatt dort wieder gewendet, allerdings wird auch gemeldet, dass die dschihadistischen Milizen mit kräftiger Unterstützung der Türkei Eroberungen im Süden Idlibs gemacht haben, was die militärischen Berichte von Ende vergangener Woche seitenverkehrt spiegelt.

Die Kriegsaktionen werden besonders auf Twitter und den Nachrichten- und Webseiten der jeweiligen Lager mit propagandistischen, zum Teil bizarren Überzeichnungen begleitet - gestern Nacht waren türkische Truppen angeblich schon kurz vor Damaskus. Herausgestellt wird einerseits der türkische Luftkrieg mit Drohnen und "technisch überlegenen Flugzeugen", anderseits ist auch von Murks die Rede, etwa anhand der Bilder, die jubelnde Dschihadisten zeigen, die angeblich eine türkische Drohne abgeschossen haben, weil sie diese für einen syrischen oder Kampfjet gehalten haben.

Was sich nun mit der Sperre des syrischen Luftraums, die Russland unterstützt, ändert, wird sich sehr bald zeigen. Auch bei der Wiedereroberung von Saraqib durch die syrische Armee wird die ausbleibende türkischen Luftunterstützung eine Rolle gespielt haben.

"Idlib gehört zur Türkei"

Die große Frage ist eine andere. Wie lange werden Erdogans Truppen in Idlib bleiben? Schon der eingangs genannte Operationsname für die türkischen Angriffe zeigt Parallelen zu den vorhergehenden Syrien-Offensiven der Türkei. Einen Rückzug gab es bislang weder aus Afrin noch aus der im Oktober angegriffenen Zone zwischen Tal Abyad (kurdisch Gire Spi) und Ras al-Ain (kurdisch: Sere Kaniye).

Die Türkei bleibt in Syrien, wie Erdogan vor AKP-Abgeordneten am Wochenende bekräftigte: "Wir haben nicht die Absicht, Syrien zu verlassen, bevor die syrische Bevölkerung sagt: 'Die Sache ist vorbei'." Für die Dschihadisten, die Idlib beherrschen, ist die Sache klar: Sie sind auf der Seite der Türkei und die Türkei ist auf ihrer Seite.

So werden die Kurden dem Gespräch zwischen Erdogan und Putin mit einiger Bangigkeit entgegensehen. Weder bei Putin noch bei Erdogan dürfte es ein großes Interesse an einer Eskalation der militärischen Konfrontationen der jüngsten Zeit geben. Erdogans Feind Nummer 1 in Syrien ist nicht die Regierung in Damaskus, sondern die kurdische Selbstverwaltung, die auch der Feind der HTS-Dschihadisten und ihrer Waffenbrüder sind.

Es wäre keine Überraschung, wenn es Erdogan gelänge, neue Gebietsansprüche, zynisch "Sicherheitszone" genannt, für Umsiedlungsprojekte durchzusetzen. In Kobane und benachbarten Gebieten fürchtet man solches. Putin kam in Kommentaren und Hintergrundberichten von Beobachtern zuletzt nicht gut weg, ihm wird vorgeworfen, dass er Erdogans Ziele - "Idlib gehört zur Türkei" - nicht richtig eingeschätzt hat. Er sei ihm politisch entgegengekommen.