Ignorierte nationale Minderheiten - Krux der EU

Seite 2: Im Norden Italiens

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Außerhalb des Landes werden die Unabhängigkeitsverlangen im Norden Italiens unterschätzt und medial weitgehend ausgeblendet. Die politische Klasse in Rom muss hingegen im Blick auf die möglichen Folgen des Brexit und angesichts wachsender regionaler Erosionserscheinungen eine Art "Dominoeffekt" befürchten.

Bestrebungen, sich von Italien zu lösen, gewannen letzthin besonders im Veneto an Boden. In einem Online- Referendum zum Thema Unabhängigkeit Venetiens, an dem sich seinerzeit 2,36 Millionen Wahlberechtigte (73 Prozent der Wählerschaft der Region) beteiligten, antworteten 89 Prozent auf die Frage "Willst Du, dass die Region Veneto eine unabhängige und souveräne Republik wird?", mit einem klaren "Ja".

In unmittelbarer Nachbarschaft zum Veneto ergriff die Lega Nord in der Lombardei eine ähnliche Initiative. Die Schlacht um die Unabhängigkeit sei wieder aktuell, sagt daher Lega- Chef Matteo Salvini. Und fügte am Tag nach dem Brexit-Volksentscheid hinzu: "Es lebe der Mut der freien Briten. Herz, Verstand und Stolz besiegen die Lügen, Drohungen und Erpressungen. Danke UK, jetzt kommen wir dran." Die Gegnerschaft zu seinen Bestrebungen sieht er in Rom und Brüssel. Rom macht er für hohe Steuern und Abgaben verantwortlich. Zudem spricht er sich für den Austritt Italiens aus der Euro-Zone aus. Gegen Rom und Brüssel könne man nur gewinnen, wenn sich Lombardei, Piemont und Venetien zusammenschlössen, sagt Salvini.

Die von seinem Stellvertreter Roberto Maroni geführte Mitte-Rechts-Koalition im lombardischen Regionalparlament verlangt die Umwandlung der Lombardei in eine Region mit Sonderautonomie, einen Status, den die Autonome Region Trentino-Alto Adige innehat, in welcher die Provinzen Trient und Bozen-Südtirol seit Ende des Zweiten Weltkriegs (zwangs)vereint sind. Doch just diese "Privilegien" sollen gemäß der (Staats- und Verfassungs-)Reform des italienischen Regierungschefs Matteo Renzi beseitigt werden, womit die bestehenden (Sonder-)Autonomien zwangsläufig gekappt würden. Ob die "Schutzklausel", die Renzi den Südtirolern zugesichert hat, das Papier wert ist, auf dem sie - nicht eindeutig auslegbar - fixiert ist, muss sich erst noch erweisen.

Die römischen Parlamentarier der seit Ende des Zweiten Weltkriegs zwischen Brenner und Salurner Klause dominanten Südtiroler Volkspartei (SVP) haben alle Warnrufe - der deutschtiroler Oppositionsparteien und selbst jene von ehedem langjährigen politischen Verantwortungsträgern der eigenen Partei - in den Wind geschlagen und dem Reformvorhaben zugestimmt, über das im Herbst die Italiener abstimmen sollen. Die SVP hat sich damit aus selbstgewähltem Koalitionszwang mit dem Südtiroler Ableger von Renzis Partito Democratico (PD) politisch eindeutig positioniert; eine Festlegung, die sie - als "Minderheiten-Partei" - aus gutem Grund, nämlich der Äquidistanz zu allen italienischen Parteien, gut sechs Jahrzehnte nie traf.

Möglicherweise zeitigt das Experiment "Autonomiekonvent", auf welches sich die SVP - wiederum, um ihrem Koalitionspartner PD in Bozen und dessen Vormann Renzi in Rom zu willfahren - eingelassen hat, noch fatalere Folgen. Dieser "Konvent" soll die Vorgaben liefern, mit denen das Zweite Autonomiestatut des Jahres 1972, auf welchem die politischen, ökonomischen und sozialen Gestaltungsmöglichkeiten im Rahmen der selbstverwalteten Provinz Bozen-Südtirol fußen, den "veränderten Gegebenheiten" angepasst werden soll.

Faktum ist indes, dass Italien die autonomen Befugnisse des ihm nach dem Ersten Weltkrieg zugeschlagenen südlichen Tiroler Landesteils seit dem mit der österreichisch-italienischen Streitbeilegungserklärung im völkerrechtlichen Sinne beendeten Südtirol- Konflikt 1992 mittels gesamtstaatlicher, d.h. römischer "Ausrichtungs- und Koordinierungsbefugnis" und spürbarem Finanzmittelentzug, auf den sich die SVP einließ, sukzessive entwertete. Faktum ist zudem, dass die nicht zu leugnende, aber - wiederum wider Mahnungen von Opposition und "Altpolitikern" der Partei - von der jetzigen SVP-Führung ignorierte Gefahr besteht, dass die Ergebnisse des "Konvents" in ein "Drittes Autonomiestatut" münden, dessen politischer und - vor allem rechtlicher - Rahmen bei weitem hinter jenem des Zweiten zurückbleiben dürfte.

"Los von …"

Angesichts dessen muss man sich nicht wundern, dass die Befürworter des "Los von Rom" in Südtirol immer mehr Zulauf erhalten. Und sich, wie unlängst der in Bruneck veranstaltete "Unabhängigkeitstag" erwies, mit den politischen Kräften jener Bewegungen verbünden, welche das "Los von London, Madrid, Paris, Brüssel ….." für sich beanspruchen sowie die Gewährung und Ausübung des Selbstbestimmungsrechts verlangen.

Hätte sich die EU beizeiten auf eine vernünftige Politik zum Schutz der "alten" Minderheiten eingelassen und einen verlässlichen kollektiven Rechtsrahmen zum Schutz der "kleinen Nationen" und Volksgruppen geschaffen, so wären die zwischen Hebriden und Karpatenbogen dräuenden Fliehkräfte mutmaßlich nicht so stark angewachsen. Und erhielten auch nicht zusätzlichen Auftrieb durch den britischen Exit.