Im Maschinenraum des Denkens
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Walter Benjamin, die Not der Flucht und der Nordpol, den wir auch heute noch finden müssen
Lisa Fittko, die Fluchthelferin, wollte Benjamin auf seiner Flucht vor den Nazis davon abhalten, Wasser aus einem schmutzigen Tümpel zu trinken. Aber Benjamin erwiderte, selbst wenn er Typhus bekäme, so wäre trotzdem sein Manuskript dann schon auf der spanischen Seite in Sicherheit. Das wäre das einzige, was zählt.
Walter Benjamin, jüdisch-deutscher Philosoph, Kulturkritiker und Schriftsteller, hätte am heutigen 15. Juli 2022 seinen 130. Geburtstag gefeiert – ein Anlass, an diesen wichtigen Denker des 20. Jahrhunderts zu erinnern.
Sein Leben endete viel zu früh, denn er nahm sich auf der Flucht vor den Nazis 1940 in dem spanischen Grenzort Port Bou das Leben. Er wurde nur 48 Jahre alt und hinterlässt ein umfangreiches, aber auch fragmentarisches Werk, denn er konnte seine Arbeit nicht abschließen. Er hätte noch so viel Wertvolles schreiben und uns hinterlassen können. Seine Frau Dora schrieb über seinen Tod in einem Brief diese ergreifenden und bestürzenden Worte an Gershom Scholem:
Lieber Gerhard, Walters Tod hat ein Vakuum hinterlassen, das langsam aber sicher alle meine Hoffnungen und Wünsche für die Zukunft aufsaugt. Ich weiß, dass ich ihn nicht lange überleben werde. Das wird dich überraschen, denn ich war nicht mehr Teil seines Lebens, aber er war Teil meines Lebens.
Und das nicht so sehr durch seine regelmäßigen Besuche und die Hilfe – wenig genug – die ich ihm geben konnte, sondern mehr als alles andere durch die einfache Tatsache, dass er am Leben ist. Ich dachte und fühlte, dass die Welt, wenn sie in der Lage war, ein Wesen von seinem Wert und seiner Sensibilität am Leben zu erhalten, doch keine so schlechte Welt sein konnte. Es scheint, dass ich mich geirrt habe.
Dora Benjamin am 15. Juli 1941
Was wäre das für eine Welt, in der ein solches sensibles Wesen am Leben bleiben könnte? Und was ist das für eine Welt, in der es nicht überlebt?
Sein unnötiger Tod ist ein Mahnmal für den Irrsinn, die Gewalt und die Unmenschlichkeit, die Menschen anderen Menschen antun. Auch heute sind Menschen auf der Flucht. Sie werden verfolgt, sie hungern, sie frieren. Aber es gibt keine Zuflucht für sie. Wir interessieren uns nicht sonderlich für ihr Schicksal, für ihre Not. Alleine in einer fremden Umgebung, ohne Papiere, ohne Hab und Gut, der Willkür der Ordnungskräfte ausgeliefert.
Benjamin, der enge Beziehungen mit Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Bertolt Brecht, Ernst Bloch, Gershom Scholem und vielen anderen pflegte, die nach dem Krieg berühmt wurden, strandete in einer spanischen Kleinstadt in einem Hotel und sollte an die Gestapo ausgeliefert werden.
Er zog es vor, seinem Leben mit Morphium ein Ende zu setzen. Auf der extrem beschwerlichen Flucht zu Fuß über die Pyrenäen (siehe dazu den Filmbericht von Ronald Engert) trug er nur seine Aktentasche bei sich. Darin befand sich sein letztes Manuskript, das ihm wichtiger war als sein Leben.
Lisa Fittko, eine Antifaschistin aus Berlin, berichtet davon. Sie verhalf später noch hunderten Menschen über diese Route in die Freiheit, darunter Franz Werfel und Lion Feuchtwanger.
Die Tasche ist bei der Polizei in Spanien aktenkundig, auch Papiere unbekannten Inhalts. Beides ist aber verloren, denn erst 1980 wurden die Einzelheiten bekannt, und Scholem begann nach den Dokumenten zu suchen. 1
Ein integrierender Denker
Benjamin war ein integrierender Denker. Er brachte Bereiche zusammen, die landläufig nicht miteinander in Verbindung gebracht werden. Sein Denken war eine dialektische Synthese der Extreme, und seine wichtigste Synthese ist die von Mystik und dialektischem Materialismus. Benjamins mystische Inspirationen aus seiner Frühzeit wurden ab 1923 nach und nach durch marxistisches Gedankengut ergänzt und schließlich von diesem scheinbar abgelöst.
Benjamins frühe Werke, zum Beispiel sein Aufsatz über die Sprache2, schöpften aus jüdischen mystischen Quellen, und er war selbst mit mystischen Einsichten begabt.3 Dabei war ihm dies möglicherweise selbst nicht vollständig bewusst.
Je mehr sich die historische Situation des Nationalsozialismus verschärfte und auch seine eigene persönliche Existenz bedroht war, umso mehr wandte er sich der dialektisch-materialistischen Philosophie zu. "Benjamins Gewissen, das ihn zwang, den Leiden der Welt seine künstlerische Seele zum Opfer zu bringen, siegte."4 Er opferte ihr auch seine mystische Seele.
Gleichwohl blieben Benjamins theologische Inspirationen und seine eigenen mystischen Kompetenzen subliminal erhalten und lassen sich auch im Spätwerk finden. Sie bilden eine unreduzierbare Komponente in der Entstehung seiner philosophischen Erkenntnisse und gehören zu seinem integralen Ansatz, der eine Synthese der Extreme anstrebte, zwingend dazu.
In seinem letzten erhaltenen Text, den "Thesen zum Begriff der Geschichte" gießt er diese Verbindung in das Bild vom Schachautomaten, in dem ein hässlicher Zwerg versteckt ist, der ein Meister des Schachspiels ist.
Anscheinend ist es eine mechanische Puppe, die spielt, aber in Wirklichkeit macht der Zwerg die Züge. Der "hässliche Zwerg" im Schachautomaten sei in der Analogie die Theologie, die Puppe der historische Materialismus. Den Zwerg will zwar niemand sehen, er ist aber letztlich der Akteur im Maschinenraum des Denkens, mit dessen Hilfe die theoretische Analyse erst belastbare Ergebnisse hervorbringt.5
Es wird Zeit, mit diesem Sachverhalt ernst zu machen. Benjamin wurde bisher von den zwei Lagern einseitig für ihre jeweilige Sache in Besitz genommen. Auf der einen Seite standen die theologisch motivierten Menschen, auf der anderen Seite die politisch orientierten.
Der Nordpol
Jede Seite für sich alleine wird aber nicht in der Lage sein, eine vollständige Beschreibung der Wirklichkeit zustande zu bringen. Benjamins Punkt war es, dass eine richtige Theorie, die vom ideologischen Schleier befreit ist, einen unmittelbaren Handlungsimpuls auslösen kann, also direkt in die Praxis führt. Das hat er im Surrealismus-Aufsatz dargestellt:6
Auch das Kollektivum ist leibhaft. Und die Physis, die sich in der Technik ihm organisiert, ist nach ihrer ganzen politischen und sachlichen Wirklichkeit nur in jenem Bildraume zu erzeugen, in welchem die profane Erleuchtung uns heimisch macht. Erst wenn in ihr sich Leib und Bildraum so tief durchdringen, daß (sic!) alle revolutionäre Spannung leibliche kollektive Innervation, alle leiblichen Innervationen des Kollektivs revolutionäre Entladung werden, hat die Wirklichkeit so sehr sich selbst übertroffen, wie das kommunistische Manifest es fordert.
Walter Benjamin, Gesammelte Schriften
Was ist diese profane Erleuchtung? Es ist die Erleuchtung aus der Mystik, die er sehr wohl kannte, auf die physische Welt angewendet. Auch in der physischen Welt gibt es eine tiefere Kraft, nennen wir sie die Anziehung, die die Geschicke der Kollektive bewegt. Sie ist ein Kraft im Sinne des historisch-dialektischen Materialismus. Im Passagenwerk findet sich Benjamins wunderbares Bild vom magnetischen Nordpol:7
Vergleich der Versuche der andern mit Unternehmen der Schifffahrt, bei denen die Schiffe vom magnetischen Nordpol abgelenkt werden. Diesen Nordpol zu finden. Was für die anderen Abweichungen sind, das sind für mich die Daten, die meinen Kurs bestimmen. – Auf den Differentialen der Zeit, die für die anderen die "großen Linien" der Untersuchung stören, baue ich meine Rechnung auf.
Walter Benjamin Gesammelte Schriften V (Hervorhg. v. Benjamin)
Diesen Nordpol gilt es auch heute noch zu finden. Er wäre das theoretische Zentrum einer Theorie, die die dialektische Synthese von Erkenntnis und Handlung wäre, unmittelbare Worte der Kraft, die die direkte Aktion auslösen könnten.
Keine moralisierenden Appelle mehr, keine Parteitagsreden ideologischer Art, keine versteckten Manipulationen, sondern reine Wahrheit. Diese Theorie ist bis heute nicht eingelöst. Sie wartet im Werk Walter Benjamins noch auf ihre Entdeckung.
Weitere Arbeiten von Ronald Engert zum Thema:
Filmischer Erlebnisbericht des Autors zu seiner eigenen Pyrenäen-Überquerung auf der Route Walter Benjamins (2021)
Webseite: www.wbenjamin.de.