"Im Nachrichtengeschäft geht es um Interessen, nicht um Wahrheit"
Der Zeithistoriker Kurt Gritsch zum Krieg in Syrien und über die Rolle der Medien
Kurt Gritsch, Historiker, Konflikt- und Migrationsforscher, beobachtet und analysiert seit Jahren die Berichterstattung großer Medien in Sachen Krieg. Im Interview mit Telepolis verweist er auf die Schwächen der Berichterstattung und stellt fest, dass Medien weit entfernt von einem neutralen Journalismus sind, wenn es um Themen wie zum Beispiel Syrien geht. Gritsch, der Projektmitarbeiter des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck ist und als Gymnasiallehrer arbeitet, erklärt im Interview außerdem, wie es zur Eskalation in Syrien kommen konnte und wirft einen kritischen Blick auf die Rolle Deutschlands im Hinblick auf seine Beteiligung an Einsätzen im Ausland. Die Entscheidung, Tornados nach Syrien zu entsenden, hält der in der Schweiz lebende Südtiroler für "weder ethisch vertretbar noch völkerrechtlich abgesichert noch von realpolitischem Nutzen".
Herr Gritsch, Sie setzen sich als Zeithistoriker mit dem Thema Krieg auseinander. Was beobachten Sie in Syrien?
Kurt Gritsch: Syrien ist nach Libyen ein weiterer tragischer Fall im Kontext des "Arabischen Frühlings", bei dem die Hoffnung auf mehr Freiheit von der Realität eines Bürgerkrieges zerstört wurde. Inzwischen geht es um die Neuordnung der gesamten Region einschließlich des Irak im Interesse internationaler wie regionaler Mächte. Um ein neues Sykes-Picot-Abkomme sozusagen, nur diesmal unter Einschluss der regionalen sunnitischen und schiitischen Mächte.
Wie ordnen Sie das, was in Syrien passiert, ein?
Kurt Gritsch: Einerseits geht es um innersyrische Machtkämpfe, andererseits wurde und wird der Krieg durch den Einfluss von außen eskaliert. Im innerstaatlichen Kontext gab es zu Beginn des Jahres 2011 Demonstrationen, die im Zeichen des "Arabischen Frühlings" standen. Viele waren mit dem Regime von Präsident Baschar al-Assad unzufrieden. Es gab Forderungen nach mehr politischen Freiheiten, die Demonstranten prangerten Korruption und Misswirtschaft an. Die Triebfeder waren sozioökonomische Motive, also sowohl Kritik an staatlicher Kontrolle als auch Misswirtschaft und Arbeitslosigkeit.
Und dann? Wie ging es weiter?
Kurt Gritsch: Der Beginn der Demonstrationen verlief friedlich. Und das Regime hat auch darauf reagiert, wenngleich nicht mit sehr weit reichenden Maßnahmen. Aber es gab einen Ansatz von Reformen, und es wurde im April 2011 zum Beispiel der seit 1963 geltende Ausnahmezustand aufgehoben.
Die syrische Opposition reagierte gespalten. Während ein Teil die Reformen begrüßte, forderten andere von Beginn an den Rücktritt von Assad. Zu nennen ist hier vor allem die Muslim-Bruderschaft. Diese steht in Feindschaft zur säkularen panarabischen Baath-Partei, deren Generalsekretär Baschar al-Assad im Jahr 2000 als Nachfolger seines Vaters Hafiz al-Assad wurde. Die Baath-Partei hatte sich 1963 an die Macht geputscht. Und seit damals ist die Muslim-Bruderschaft in Syrien verboten.
1982 gab es das Massaker von Hama, bei dem mehrere Tausend Menschen von Regierungskräften getötet wurden. Zuvor hatte die Muslim-Bruderschaft einen islamistischen Aufstand versucht und zahlreiche Anschläge verübt.
Wie konnte der Konflikt dann aber so eskalieren?
Kurt Gritsch: Da spielt nun eben der internationale Kontext eine Rolle. EU und USA haben mit Beginn der Protestdemonstrationen in Syrien sofort reagiert und den Rücktritt von Präsident Assad gefordert. Bis heute wird ein Kompromiss mit der Forderung nach Machtverzicht von Assad verbunden. Die vom damaligen französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy anfangs 2012 initiierte Gruppe der "Freunde Syriens" arbeitete auf den Sturz Assads hin. Mitglieder dieser Gruppe waren bzw. sind u.a. die USA, GB, Deutschland, Frankreich, die Türkei, Saudi-Arabien, Jordanien, Katar oder die Vereinigten Arabischen Emirate.
Also alles Staaten, die durchaus ein Interesse an einem Regime-Change in Syrien haben, oder?
Kurt Gritsch: So ist es. Diese Staaten haben schon länger indirekt oder direkt - siehe USA - auf einen Regime-Change in Syrien hingearbeitet. Und zugleich bildeten sich im Land paramilitärische Verbände wie die Freie Syrische Armee, die Al-Qaida-nahe Al-Nusra-Brigade oder der IS. Diese Gruppen wurden und werden von verschiedenen Staaten der "Freunde Syriens" militärisch und/oder finanziell unterstützt.
Wandel in der Berichterstattung über den Syrien-Konflikt
Wie nehmen Sie die Berichterstattung der Presse zu Syrien war? Findet eine umfassende Berichterstattung statt?
Kurt Gritsch: Es gibt einen Wandel in der Berichterstattung, den ich feststelle. Zwischen 2011 und 2013 dominierte in Deutschland jener Diskurs, der die Verantwortung für die Eskalation in Syrien ausschließlich dem Regime zuschrieb. Assad habe auf friedliche Demonstranten schießen lassen, Frieden könne es nur nach seinem Sturz geben. Seitdem der IS stärker ins Bewusstsein gerückt ist, hat sich dieser Diskurs geändert.
Worauf beruhen Ihre Beobachtungen?
Kurt Gritsch: Ich untersuche die deutsche, aber auch die internationale Berichterstattung seit Beginn des Konflikts. Im April 2012 habe ich eine Fallstudie erstellt, bei der ich die Syrien-Berichterstattung von ZEIT, FAZ und ARD-Tagesschau über einen Monat hinweg untersucht habe.1 Ich habe die Ergebnisse dann mit meiner Untersuchung der Berichterstattung der englischsprachigen Ausgabe von Al Jazeera und mit jener von Ria Novosti (jetzt Sputniknews.com) verglichen. 2
Zu welchen Ergebnissen sind sie gelangt?
Kurt Gritsch: Die ZEIT gehörte zu vehementen Befürwortern einer militärischen Intervention in Syrien zum Sturz von Präsident Assad. Das war wenig überraschend, da das Wochenblatt ja seit dem Ende des Kalten Krieges in zahlreichen großen Konflikten eine pro-interventionistische Linie vertreten hat. Das mag auch damit zusammenhängen, dass Josef Joffe als Herausgeber enge Kontakte zu transatlantischen Think-Tanks pflegt, wie Uwe Krüger in seinem Buch "Meinungsmacht" nachgewiesen hat. Und die Antwort solcher Think-Tanks auf internationale Krisen ist ja meist, wie es Claus von Wagner in der "Anstalt" trefflich formuliert hat, "mehr Rüstung, mehr NATO".
Haben die übrigen untersuchten Medien ähnlich einseitig berichtet?
Kurt Gritsch: Die FAZ hat ebenfalls lange den Interventions-Diskurs unterstützt. Einzig in den Beiträgen von Jürgen Todenhöfer wurde ein komplett anderer Ansatz thematisiert. Wobei man sagen muss, dass die einseitigsten Artikel, also auch journalistisch fragwürdige Arbeiten, weil z.B. nur eine oder gar keine Quelle genannt wurde, in beiden Zeitungen die internationalen Agentur-Meldungen waren. Die ARD-Tagesschau wiederum hat zwar ebenfalls den Anti-Assad-Diskurs bedient, zugleich aber wiederholt darauf hingewiesen, dass die Herkunft bestimmter Quellen nicht überprüfbar sei.
Der Verweis auf eine schwierige Quellenlage sollte selbstverständlich sein.
Kurt Gritsch: Ja, da haben Sie natürlich Recht. Aber wenn ich die Syrien-Berichterstattung der deutschen Leitmedien mit ihrer Kosovo-Berichterstattung vergleiche, dann komme ich nicht umhin festzustellen, dass die Syrien-Berichterstattung weniger Verstöße gegen die journalistische Sorgfaltspflicht aufweist. Auch wenn sie noch weit entfernt von neutraler Berichterstattung war. Von Friedensjournalismus, wie ihn der norwegische Friedensforscher Johan Galtung konzipiert hat, ganz zu schweigen.
Also Licht und Schatten bei der Berichterstattung?
Kurt Gritsch: So kann man es zusammenfassen. Unter anderem auch deshalb sehe ich die Verwendung des Begriffs "Lügenpresse" als problematisch an.
Wo liegt das Problem bei dem Begriff?
Kurt Gritsch: Er suggeriert u.a., dass so etwas wie Wahrheit oder Lüge bei einer bestimmten Seite verortet werden könne. Dabei geht es um ein Geschäft. Das Nachrichtengeschäft ist unterwandert von PR-Aktivitäten. Im Nachrichtengeschäft geht es um Interessen, nicht um Wahrheit oder Wahrhaftigkeit. Und Journalisten sind dabei selbst oft Opfer von Täuschungen und Manipulationen.
So war die Syrien-Berichterstattung in der Ria Novosti beispielsweise keineswegs sachlicher oder neutraler. Dort wurde einfach im Interesse der russischen Regierung eine Art Gegen-Bild dargestellt. Will heißen: Böse Rebellen, böses Ausland, Assad verteidigt sich nur. Auch das greift zu kurz. Als Korrektiv zur Darstellung der Leitmedien war aber diese Sichtweise wieder recht brauchbar.
Als "alternative Quelle" gibt es auch noch Al Jazeera. Was halten Sie davon?
Kurt Gritsch: Dort wurde ebenfalls Politik mittels Nachrichtenberichterstattung betrieben. Das war für viele Journalisten ungewohnt, weil die Chefs aus Katar den Sender lange Zeit relativ frei hatten gewähren lassen.
Katar befürwortete den Regime-Change in Syrien. Also unterstützte Al Jazeera den Anti-Assad-Diskurs. Der Diktator lasse auf seine eigenen unbewaffneten Bürger schießen. Was nicht ins Bild passte, wurde einfach nicht gesendet. So hatte der Ex-BBC-Kriegsreporter Ali Hashem, inzwischen bei Al Jazeera, im Mai 2011 bewaffnete Männer, Syrer und Libanesen, gefilmt, die Waffen vom Libanon aus nach Syrien brachten. Während also die Militarisierung der ursprünglich friedlichen Proteste in Syrien durch Waffenschmuggel aus dem Ausland bereits im Mai 2011 dokumentiert war, hielt Al Jazeera am einseitigen Bild einer angeblich friedlichen Revolution, welche von den Sicherheitskräften brutal niedergeschlagen werde, fest.
Deutschland hat sich nach 1990 in atemberaubendem Tempo zu einer Krieg führenden Macht entwickelt
Nun hat Deutschland Tornados nach Syrien geschickt. Was halten Sie von der Entscheidung?
Kurt Gritsch: Sie ist weder ethisch vertretbar noch völkerrechtlich abgesichert noch von realpolitischem Nutzen, im Gegenteil. Darauf hat vor wenigen Wochen sogar ein Gast-Kommentar in der ZEIT hingewiesen.
Wenn deutsche Tornados über Syrien eingesetzt werden, weil in Frankreich terroristische Anschläge von einer nach offiziellen Angaben internationalen Täterschaft durchgeführt wurden, dann kann ich mit einer solch schwammigen Begründung von angeblicher Beistandspflicht prinzipiell weltweit Krieg führen. Und zugleich hat der Kampf des US-Militärs seit 9/11 verdeutlicht, dass Terrorismus durch Krieg nicht nur nicht bekämpft, sondern sogar noch gestärkt wird. Heute haben wir hundertfach mehr Terroristen weltweit als vor 15 Jahren.
Der Bundestag hat den Einsatz schnell beschlossen. Vor nicht allzu langer Zeit wäre das so noch undenkbar gewesen.
Kurt Gritsch: Naja, das hängt davon ab, wie man das definiert. Wenn man sich anschaut, welche Debatte zum Beispiel noch dem deutschen Kriegseinsatz im Kosovo 1999 vorausgegangen ist, dann ja. Andererseits hat sich Deutschland seit der sogenannten Wiedervereinigung in einem Tempo zu einer Krieg führenden Macht entwickelt, das atemberaubend ist.
Was ist da passiert? Wie konnte es dazu kommen?
Kurt Gritsch: Entscheidend waren die 1990er Jahre und die Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Da hat die Bundeswehr ihre Chance gesehen, wieder international tätig zu werden. Seit der Gründung der BRD war sie ja ausschließlich auf Verteidigung konzipiert gewesen. Selbst eine Teilnahme an internationalen Peace-keeping-Einsätzen unter UN-Mandat war ursprünglich nicht vorgesehen. Nach ersten kleinen Einsätzen im Rahmen der UN zu Beginn der 1990er Jahre wurde dann der Jugoslawien-Diskurs durch die Zuspitzung der Darstellung auf "eingreifen oder zuschauen" zum Wendepunkt.
Wie ging es weiter?
Kurt Gritsch: Nachdem SPD und Grüne als Oppositionelle noch gegen eine deutsche Beteiligung an einer - wohl gemerkt unter UN-Mandat stehenden - friedenserhaltenden Operation im ehemaligen Jugoslawien waren, brachte der sogenannte Kosovo-Krieg die Wende. Dort gelang einer Linksregierung aus SPD und Grüne, was CDU und FDP wohl kaum jemals geschafft hätten: Deutschland in einen Krieg zu führen, der ohne UN-Mandat stattfand und damit völkerrechtlich als Angriffskrieg definiert war.
Mit welchen Folgen?
Kurt Gritsch:.Schröder und Fischer führten ihren Krieg aus transatlantischer Solidarität, aber auch aus Eigeninteresse: Die Bundeswehr wurde ein "normaler" Partner innerhalb der NATO. Seit 1999 führt Deutschland weltweit Kriege. Der Out-of-area-Einsatz der Bundeswehr wird nicht mehr prinzipiell in Frage gestellt.
Die Begründung für die Kriegsbeteiligung im Rahmen der NATO-Operation "Allied Force" war eine moralische. Man behauptete, man wolle durch den Einsatz "ein neues Auschwitz" (Joschka Fischer) verhindern. Doch weder die UNO noch die OSZE teilten diese Sicht, ja nicht einmal die Nachrichtenoffiziere des Bundesverteidigungsministeriums vermochten diese Behauptung mit Fakten zu untermauern
Gehen wir nochmal auf die Medien ein. Wie haben sich aus Ihrer Sicht die Medien bei dieser Entwicklung verhalten?
Kurt Gritsch: In der Kosovo-Berichterstattung haben die deutschen Leitmedien über Monate hinweg den Kriegs-Diskurs unterstützt. Ich habe die Berichterstattung von FAZ, Süddeutsche, taz, ZEIT und Spiegel über viele Monate hinweg analysiert, und alle untersuchten Medien haben den Kosovo-Konflikt im Großen und Ganzen simplifiziert dargestellt. 3
Anstatt von einem Bürgerkrieg zwischen der paramilitärischen UÇK und serbischen Anti-Terror-Einheiten zu sprechen, wurde das Bild des bösen Diktators Milošević strapaziert, der die armen Albaner unterdrücken lasse. Es gab brutale serbische Aktionen im Kosovo, es gab Massaker, ja. Aber es war kein potentieller neuer Holocaust, wie deutsche Politiker (Scharping, Fischer) behaupteten. Die UÇK hatte zwischen 1996 und 1998 sogar mehr Albaner als Serben getötet, um die Stimmung nationalistisch aufzuheizen.
Kriege werden seit mehreren Jahrzehnten wie Produkte vermarktet
Gibt es in der Berichterstattung ein Beispiel, das, im negativen Sinne, besonders herausragt?
Kurt Gritsch: Die Berichterstattung über das angebliche Massaker von Račak vom 16. Januar 1999 stellt bis heute ein beeindruckendes Beispiel journalistischen Versagens dar. Die deutschen Leitmedien sind damals ihrer Rolle als Kontrolle der Macht nicht nachgekommen. Die NATO wollte sich vom Verteidigungsbündnis zum Interventionsbündnis wandeln, und Deutschland wollte mit dabei sein. Diese Interessen der Regierenden wurden ignoriert, und anstatt die Kriegsdynamik der NATO zu hinterfragen, wurde Milošević als "neuer Hitler" dämonisiert.
Gibt es weitere Beispiele?
Kurt Gritsch: Ja, schon im Rahmen des Holbrooke- Milošević-Abkommens im Oktober 1998 schrieb die ZEIT (und andere Leitmedien) davon, dass Deutschland bei einer NATO-Operation gegen Serbien seiner Bündnispflicht nachkommen müsse. Diskutiert wurde gar nicht mehr, ob deutsche Soldaten im Ausland töten sollten oder ob es dafür überhaupt einen echten Kriegsgrund gab. Diskutiert wurde nur noch, ob dies nur mit oder auch ohne UN-Mandat geschehen könne.
Welche Antriebe liegen dieser Berichterstattung zu Grunde?
Kurt Gritsch: Das sind mehrere. Folgt man der Indexing-Hypothese, dann bilden die Leitmedien ja im Wesentlichen den parlamentarischen Konsens oder Dissens zu einem Thema ab. Und im Fall Kosovo waren alle Parteien mit Ausnahme der PDS für einen deutschen Kriegseinsatz.
Tatsächlich haben auch nur Neues Deutschland, Junge Welt, Konkret oder Freitag von Anfang an gegen den NATO-Militärschlag mit Fakten argumentiert. Ein weiterer Grund liegt in den persönlichen Verquickungen zwischen Journalisten und der NATO. Uwe Krügers "Meinungsmacht" habe ich ja schon erwähnt. Wichtige Journalisten - Herausgeber, Ressortleiter etc. - sitzen in NATO-nahen transatlantischen Thinktanks wie der Atlantikbrücke, The German Marshall-Fund of the United States oder dem Aspen Institute. Hier gibt es offensichtlich Interessenüberschneidungen.
Und dann haben wir noch einen dritten Punkt, und zwar die professionelle PR. Kriege werden seit mehreren Jahrzehnten wie Produkte vermarktet. Auch hier sollen Kunden erreicht werden. Wir sollen nur statt Produkte eine Meinung kaufen bzw. übernehmen. Die PR-Industrie (z.B. Hill & Knowlton, Ruder Finn) vermarktet einen Krieg oder Konflikt im Auftrag ihres Kunden. Das Ziel ist es, die Zustimmung der Bürger zu bestimmten Ereignissen (Auslandseinsätze etc.) zu erreichen.
Worauf sollten Mediennutzer, die die Nachrichten über Kriege und Konflikte verfolgen, achten, um keiner Propaganda auf den Leim zu gehen?
Kurt Gritsch: Dazu gibt es mehrere Möglichkeiten. Wir sind nicht wie das Kaninchen vor der Schlange. Wie schon die Römer wussten: Audiatur et altera pars. Sich also andere Quellen anzuhören, alternative Quellen zu nutzen. Das heißt aber nicht, dass man dann glauben darf, zum Beispiel Russia Today würde einem nun die Wahrheit erzählen. Da muss ich genauso skeptisch sein wie bei unseren Leitmedien.
Womit ich beim zweiten Punkt wäre: Cui bono? Wem nützt es? Wenn ich mich bei Friedensforschern informiere, kriege ich zum Beispiel einen erweiterten Blickpunkt auf Konflikte, der eine nicht-militärische Herangehensweise in den Mittelpunkt rückt. Und zu guter Letzt sollten wir unsere Kritikfähigkeit nutzen und uns immer fragen: Wer will, dass ich etwas so oder anders glaube? Wer hat einen Nutzen davon? Und: Kann das so oder so überhaupt sein?
Wenn heutzutage jemand Fragen wie "Cui bono?" stellt, auf Interessen, auf konkret handelnde Akteure verweist, ist schnell der Vorwurf der Verschwörungstheorie auf dem Tisch.
Kurt Gritsch: Da muss man unterscheiden. Wenn jemand pauschal alles ablehnt, was von denLeitmedien kommt und diese als "Lügenpresse" abtut, um gleichzeitig einer anderen Informationsquelle unreflektiert zu vertrauen, dann ist die Übernahme einer Verschwörungstheorie naheliegend. Es besteht offensichtlich bei vielen Menschen das Bedürfnis nach einer geschlossenen Erzählung, die alles erklären soll. Und wenn die Erzählung der Leitmedien nicht überzeugt, weil sie unvollständig, widersprüchlich oder offenkundig interessengeleitet ist, greifen viele zu einer Art Gegenerzählung.
Interessant ist, dass diese dann meist völlig unkritisch für wahr gehalten wird, unabhängig davon, wie plausibel oder belegbar oder ebenfalls interessengeleitet sie ist. Hier verwechseln viele echtes kritisches Hinterfragen (nach Interessen, Absichten etc.) mit reflexartiger Ablehnung der einen Position, verknüpft mit automatisierter Übernahme der Gegenposition. Ich denke, die Sehnsucht nach einer Erzählung, die uns die Welt erklärt, ist sehr menschlich. Wenn man ihr aber zu sehr nachgibt und auf das mühsame empirische Überprüfen von Behauptungen verzichtet, dann ist man auf Glauben angewiesen. Und das ist in gewissem Sinne das Gegenteil von Wissenschaft. Wissenschaft muss empirisch belegen, muss sich auf Fakten berufen. Sie wirkt aufklärerisch. Verschwörungstheorien wollen uns aber eine Weltanschauung verkaufen. Sie wirken anti-aufklärerisch. Sie haben durchaus auch einen sektiererischen Aspekt.
Ihr Fazit?
Kurt Gritsch: Kritisches Denken bedeutet eben gerade nicht, das eine Erklärungsangebot (z.B. der Leitmedien) abzulehnen und es durch ein anderes, häufig weit absurderes, zu ersetzen. Kritik im Sinne der Aufklärung ist immer der Vernunft verpflichtet. Und der Toleranz. Das sollten wir nicht vergessen. Jeder Erklärungsversuch, der anstelle von Verstehen Emotionen schürt, und womöglich noch negative wie Wut oder Hass, sollte abgelehnt werden.