Immaterialien
Aus der Vor- und Frühgeschichte der Netzkunst
The Messenger arrived out of breath. The dancers stopped their pirouettes, the torches lighting up the palace walls flickered for a moment, the hubbub at the banquet table died down, a roasted pig's nuckle froze in mid-air in a nobleman's fingers, a general behind the pillar stopped the fingering the bosom of the maid of honour.
"Well, what is it man?" asked the king, rising regally from his chair. "Where did you come from? Who send you? What is the news?" Then after a moment, "Are you waiting for a reply? Speak up man!"
Still short of breath, the messenger pulled himself together. He looked the king in the eye and gasped: "Your majesty, I am not waiting for a reply because there is no message because no one sent me. I just like running."
Robert Zend: The Message (For Marshall McLuhan)
Dieser Text wurde im November 1985 bei dem Telekommunikationsprojekt "Hearsay" von dem kanadischen Künstler Norman T. White über das I.P.Sharp Computernetz um die ganze Welt geschickt, und dabei von einer Sprache in die nächste übersetzt. Nach acht Übersetzungen war ein kaum noch verständlicher, englischer Text übriggeblieben.
Rund um meinen Computer stapeln sich in den letzten Tagen die Bücher. Manche sind aus großen Verlagen, aber die meisten stammen aus kleinen Häusern oder sind sogar im Selbstverlag erschienen; einige sind aus dem Ausland. Obwohl sie alle dasselbe Thema haben, erzählt jedes von ihnen eine andere Geschichte. Manchmal tauchen dieselben Namen auf, manchmal beschreiben sie einige der selben Ereignisse, aber trotzdem trennt diese Bücher mehr, als sie gemeinsam haben.
Das ist darum seltsam, weil all diese Bücher davon handeln, wie Künstler in den letzten Jahrzehnten mit den Mitteln moderner Telekommunikation umgegangen sind. Fast allen Kunstprojekten, die sich mit diesen neuen Kommunikationstechnologien beschäftigten, lag eine ähnliche Idee zugrunde: die Kunst mit Hilfe von Telefon, Fax, Fernschreibern oder mit Computernetzwerken wie dem Internet aus den Museen und Gallerien zu befreien, und in den neuentdeckten Raum der technischen, globalisierten Kommunikation zu überführen. Trotzdem scheinen selbst die Protagonisten dieser Kunstbewegung, die nie eine war, sich untereinander oft nicht gekannt zu haben. Obwohl sie alle mit Medien arbeiteten, die der Verständigung und der Vernetzung dienen sollten, haben vielen von ihnen jahrelang nebeneinander vor sich hin produziert, ohne die Arbeit der anderen zur Kenntnis zu nehmen. Oder sich halt mal eine Email zu schicken...
Die Große Erzählung über Kunst, die mit den Mitteln moderner, elektronischer Telekommunikation arbeitet, ist noch nicht geschrieben. Und auch dieser Aufsatz kann nur einen unvollständigen Überblick über die Methoden geben, mit denen sich Künstler in diesem Jahrhundert mit elektronischen Telemedien auseinandergesetzt haben. Doch jetzt, wenn das Internet viele der Visionen und Utopien, die sich mit den neuen Kommunikationsmitteln verbunden haben, wieder ein Stück näherrücken läßt, ist es angezeigt, auf die Experimente zurückzublicken, die Künstler schon seit Jahrzehnten mit den zu ihrer Zeit "Neuen Medien" durchgeführt haben.
Die "net.art", die sich in den letzten beiden Jahren entwickelt hat, und die gerade durch Ausstellungen wie die documenta 10 oder die ars electronica ins kollektive Unterbewußtsein des Kunstbetriebs einzusickern beginnt, ist nicht aus einem Vakuum entstanden. Sie ist vielmehr die Fortsetzung einer Reihe von künstlerischen Praktiken, die schon seit Jahrzehnten existieren, aber bis jetzt keinen Eingang in den Kanon der Kunstgeschichte gefunden haben. Dabei erscheint die Auseinandersetzung, aber auch die praktische Arbeit mit den elektronischen Telemedien rückblickend als ein wichtiger Subplot der Kunst des zuendegehenden 20. Jahrhunderts. Daß die "Telekommunikationskunst" (nennen wir sie aus Mangel an besseren Begriffen einmal so) der kunstgeschichtlichen Historisierung entgangen ist, liegt zum Teil in ihrer eigenen prozessualen Natur. Die Aktionen und Projekte, die Künstler mit Telemedien durchgeführt haben, haben meist keine Spuren hinterlassen, wenn sie beendet waren. Die Telefonkonzerte, die Faxperformances, die Satellitenkonferenzen der siebziger und achtziger Jahre waren weder zur Aufzeichnung geeignet, noch zu auratischen Unikaten verarbeitet zu werden. Alles, was nach ihrer Beendigung blieb, war die Erinnerung an sie und manchmal ein paar unscharfe Fotos oder Computerausdrucke. Nur in einigen sehr seltenen Fällen vielleicht mal eine Datenbank, die nicht mehr weiter gepflegt wurde und nach dem nächsten Paradigmenwechsel in der Computerhardware auch gar nicht mehr benutzbar war.
Die "Durchdringung von Geist und Materie" in Textverarbeitungsprogrammen
Diese Arbeiten sind Immaterialien im Sinne Jean-Francois Lyotards, der 1985 an einer Ausstellung im Centre Pompidou mit dem gleichen Titel mitgewirkt hat. "Les Immateriaux" hat nicht nur einige der Künstler, die heute mit Telekommunikationsmedien und im Internet arbeiten, stark beeindruckt. In ihrem Rahmen hat auch eins der ersten Experimente mit computergestütztem, kollaborativem Schreiben stattgefunden: Daniel Buren, Michel Butor, Jacques Derrida und etwa 20 andere französische Intellektuelle bekamen einen privaten Minitel-Anschluß (Minitel ist die sehr erfolgreiche französische BTX-Variante) und einige Stichwörter, über die sie online diskutierten, was in der Ausstellung in Echtzeit verfolgt werden konnte. Besonders Schriftsteller, die das Netz für die künstlerische Produktion entdeckten, haben oft gemeinschaftliche Schreibprojekte angeregt - wie Robert Coovers Hypertext-Hotel , die "Imaginäre Bibliothek" von Pool Processing oder den berühmten "längsten Satz der Welt" von Douglas Davis.
Bei dem Begriff 'Immaterial' handelt es sich nun um einen etwas gewagten Neologismus. Damit ist lediglich ausgedrückt, daß heute - und das hat sich in allen Bereichen durchgesetzt - das Material nicht mehr als etwas angesehen werden kann, das sich wie ein Objekt einem Subjekt entgegensetzt. Wissenschaftliche Analysen der Materie zeigen, daß sie nichts weiter ist als ein Energiezustand, d.h. ein Zusammenhang von Elementen, die ihrerseits nicht greifbar sind und von Strukturen bestimmt werden, die jeweils nur eine lokal begrenzte Gültigkeit haben... Die zunehmende gegenseitige Durchdringung von Materie und Geist - gleichermaßen deutlich durch die Benutzung von Textverarbeitungssystem - bewirkt nun, daß sich das klassische Problem der Einheit von Körper und Seele verschiebt.
Jean-Francois Lyotard
Es ist interessant, daß Lyotard ausdrücklich auf die "Durchdringung von Geist und Materie" in Textverarbeitungsprogrammen hinweist. Nicht nur bei der Text-, sondern bei jeder Art von Informationsverarbeitung mit digitalisierten Daten im Computer geht der User mit "Immaterialien" um. Die "Dematerialisierung des Objekts", die Lucy Lippard an der Conceptual Art hervorgehoben hat, ist bei der künstlerischen Arbeit mit Computern und Computernetzwerken zu ihrem technologischen Ende getrieben. Während es bei den konzeptuellen Arbeiten von Lawrence Weiner, Joseph Kosuth oder Jenny Holzer immer noch physische Träger der Botschaft gibt (sei es nun Papier, Wände oder Platinen mit Leuchtdioden), ist es bei der Arbeit mit Telekommunikation und der "Universalmaschine" Computer nur noch immaterielle, in Bits und Bytes zerlegte Information, mit der agiert wird (Interessant in diesem Zusammenhang ist übrigens, daß sowohl Holzer, wie Weiner http://www.adaweb.com/project/homeport/ inzwischen auch Arbeiten im Internet realisiert haben.)
"Das hätte ich sogar übers Telefon tun können!"
Doch die Vor- und Frühgeschichte der Netzkunst geht weiter zurück als zu der Konzeptkunst der sechziger und siebziger Jahre. Schon bei den "drahtlosen Phantasien" der italienischen Futuristen und bei den kosmischen Schwärmereien der russischen Suprematisten spielte die Vorstellung der Aufhebung von Raum und Zeit durch moderne Technologien eine wichtige Rolle. Malewitsch beschrieb den "suprematistischen Raum", der "ohne jede Richtung durch Bezug auf eine Person oder ein Ding ist. Er ist ohne Dimension, ohne Orientation; er irgnoriert rechts und links, hoch und tief, nah und fern" - das klingt wie eine Beschreibung des globalisierten Raums des "Cyberspace".
Dessen Entdeckung ist von Künstlern, die mit Telemedien arbeiten, oft wie ein Offenbarungserlebnis beschrieben wird. Der slowenische Netzkünstler Vuk Cosic nennt seine ersten Erfahrungen mit diesem körperlosen, globalisierten Datenraum des Internet in einem Interview mit Telepolis HIER HOTLINK ZU DEM INTERVIEW
"fast... eine religiöse Erfahrung, auf jeden Fall sehr emotional".
Sowohl die Futuristen wie die russischen Revolutionskünstler haben sich übrigens auch künstlerisch-praktisch mit dem damals wichtigsten zur Verfügung stehenden Telekommunkationsmedium auseinandergesetzt: dem Radio. In Tatlins berühmten "Monument für die dritte Internationale", dessen mit verschiedenen Geschwindigkeiten rotierenden Volumina symbolisch global-kosmische Vorstellungen evozieren sollten, war für die obersten Kugel eine Radiostation vorgesehen.
Auch Marinetti hat seiner Begeisterung für das Radio nicht nur in Manifesten wie "Della Radio" (mit Pino Masnata), "La Radio" und "Manifesto della Radio" Ausdruck gegeben, sondern tatsächlich für das italienische Radio produziert. Am 24. November 1933 sendete Radio Milano die ersten futuristischen Radioprogramme von Fortunato Depero und Marinetti, die eine Fortsetzung ihrer literarischen Experimente der zehner und zwanziger Jahre waren. Der "Radiasta" (Radiokünstler) sollte, nach Marinettis Vorstellungen, "parole in liberta" schaffen: befreite Worte, befreite Rede, wie sie schon in den typographischen Experimenten der futurischen Lyrik visualisiert worden war. Dieser "Freiwortstil" sollte von Tempo, Kühnheit und Synthetik geprägt sein, aber vor allem von der Simultanität verschiedener Ereignisse: Er sollte die "Musik der Gastronomie, der Gymnastik und der Liebe erforschen" und den Lärm der Alltagswelt zu einem konzertanten Erlebnis formen. In der letzten Zeit haben im Netz KünstlerInnen wie Philip Pocock oder Kathy Rae Huffmann und Eva Wohlgemuth Projekte realisiert, die nicht nur die Klänge, sondern auch Fotos, Texte und Videofilme zu subjektiven, multimedialen "Portraits" eines Landes oder einer geographischen Region verschmelzen.
Ähnliche Vorstellungen liegen der Arbeit von Walter Ruttmann in Deutschland zu grunde: In seinem berühmten Film "Berlin - die Symphonie der Großstadt" komponierte er aus (mit versteckter Kamera aufgenommenen) Bildern von Berliner Alltagsleben eine "Symphonie". Weniger bekannt ist seine Radiosendung "Wochenende", die ohne gesprochene Worte, sondern ausschließlich mit Geräuschen eine Wochenendatmosphäre hervorruft. Auch in seinem Film "Melodie der Welt" wird aus Bildern aus allen Teilen der Erde eine Art simultanes Portraits des Globus gezeichnet. Die Idee der Simultanität hat nicht nur viele Vertreter der klassischen, modernen Avantgarde vor dem Zweiten Weltkrieg fasziniert (siehe auch Dziga Vertows Filme "Der Mann mit der Kamera" oder "Enthusiasmus"). Diese Vorstellung von Gleichzeitigkeit und die Faszination damit, daß im Netz soviel gleichzeitig "der Fall ist", schwingt auch in Netzkunst-Arbeiten wie "Refresh" (initiiert von Broeckmann/Cosic/Shulgin, 96) oder Heiko Idensens "24 Stunden vor dem Bildschirm" mit.
Was Marinetti an den Radiosendungen besonders begeisterte, war die Tatsache, daß sich der Rundfunk nicht - wie die Kunst - an ein spezialisiertes Fachpublikum richtete, sondern an "die Massen". Der Wegfall der Trennung zwischen "High und Low", zwischen Hoch- und Populärkultur, ist auch von verschiedenen Netzkünstlern thematisiert worden, zum Beispiel in dem Projekt "Internet Gold Medal" (Shulgin/Baker), bei dem ungewöhnliche Websites ausgewählt, zur Kunst erklärt und mit "found criticism" versehen werden.
Ein anderer Künstler, der in Deutschland über die Möglichkeiten von Kunstproduktion mit Hilfe von Telekommunikationsmethoden nachgedacht hatte, ist der ungarische Konstruktivist Laszlo Moholy-Nagy. In ihrem Dada-Almanach von 1920 hatten bereits die Berliner Dadaisten den Malern empfohlen, ihre Bilder künftig per Telefon beim Schreiner zu bestellen; Moholy-Nagy, der das wahrscheinlich nicht gelesen hatte, machte mit der Idee dennoch ernst: In seiner Autobiographie beschreibt er, daß er 1922 per Telefon bei einer Schilderfabrik fünf Emailschilder als Kunstwerke bestellt hat.
Dabei will er seine Motive auf Konstruktionspapier skizziert haben, und diese dann - ähnlich wie bei dem Kinderspiel "Schiffeversenken" - dem Vorarbeiter der Fabrik per Telefon übermittelt haben - Moholy-Nagys Angaben gingen über die Telefonleitung so wie die Daten, die heute auf unserem Computermonitor eine aus Pixeln zusammengesetzte WWW-Grafik oder diese TELEPOLIS-Seite aufbauen. (Seine Frau Sybil Moholy-Nagy hat freilich später behauptet, daß er diese Bilder persönlich bei der Firma in Auftrag gegeben habe. Als die Bilder geliefert wurden, habe er dann ausgerufen: "Das hätte ich sogar übers Telefon tun können!")
Überall anwesend und doch allein
Mit der Möglichkeit, aus Daten, die der User eingibt, ein Bild oder eine dreidimensionale Struktur zu generieren, spielen auch verschiedene Netzkunstarbeiten. Dazu gehören unter anderem die "Mondrian Machine" von Mark Lewis oder Victoria Vesnas "Bodies Incorporated", bei dem man sich einen eigenen virtuellen 3-D-Körper entwerfen kann. Bei John F. Simons "Every Icon" generiert eine Java-Applikation sogar ganz ohne fremden Einfluß ein eigenes Bild - ein Experiment, das sich nahtlos in die Reihe der seriell oder mechanisch erzeugten Bilder von so verschiedenen Künstlern wie Joseph Albers, On Kawara oder Andy Warhol einfügt, und auch an die Malmaschinen eines Jean Tinguely erinnert.
Moholy-Nagy veröffentlichte in seinem Buch "Malerie, Fotografie, Film" von 1925 vier "drahtlos telegrafierten Bilder", die darauf hindeuten, daß er verstanden hatte, welche Möglichkeiten der Kunst mit den Mitteln der Telekommunikation zur Verfügung stehen könnten. Im selben Buch veröffentlichte er Schwärmereien, die an die Netzutopien heutiger Cyberapostel erinnern: "Die Menschen schlagen einander immer noch tot, sie verstehen bis heute nicht, wie und warum sie eigentlich leben; die Politiker begreifen noch immer nicht, daß die Erde ein ganzes ist, obowhl inzwischen das Fern-Sehen erfunden ist. Morgen werden wir imstande sein, unseren Mitmenschen ins Herz zu blicken, überall anwesend und doch allein zu sein..."
Tausend Jahre selbst bei einer Minute Sendezeit
1952 las Lucio Fontana im italienischen Fernsehen ein Manifest des "Movimento Spaziale" vor:
Wir Vertreter einer raumbezogenen Kunst strahlen zum ersten Mal in der Welt durch das Fernsehen unsere neuen Kunstformen aus... Das Fernsehen ist ein von uns lange erwartetes künstlerisches Mittel, das unsere Konzeptionen integrieren wird... Es stimmt, daß die Kunst ewig ist, aber sie war immer an die Materie gebunden. Wir dagegen wollen sie von dieser Fessel befreien, wir wollen, daß sie - selbst bei einer Minute Sendezeit - im Weltraum tausend Jahre lang dauern soll.
Movimento Spaziale
Auch die Nachkriegsavantgarde hat sich von den Möglichkeiten der Telekommunikation anregen lassen. Als wichtigste Kunstbewegung in den fünfziger und sechziger Jahren ist in diesem Zusammenhang wohl Fluxus zu nennen. Mit viel Verve haben Künstler wie Wolf Vostell und Nam June Paik in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren versucht, das neue Medium Fernsehen zu dekonstruieren. Es ist interessant, daß auch einige Netzkünstler mit besonderer Begeisterung mit den Unzulänglichkeiten und Problemen des Mediums arbeiten. Dazu gehören neben der bekannten Site des Künstlerpaars Joan Heemskerk und Dirk Paesmans alias JODI auch "Snuff" von Harris Skibell und Damon Horowitz und Julia Shers "Securityland".
Besonders interessant in diesem Zusammenhang ist, daß sich aus der Fluxus-Bewegung eine Kunstrichtung entwickelte, die als ein (nicht-technologischer) Vorläufer vieler Telekommunikations- und Internet-Projekte gelten kann: die Mail Art. Der Kunstvermittlung und -distribution per Briefpost widmete sich seit 1962 die Correspondence School of Art, die 1962 in New York von Ray Johnson gegründet wurde. Johnson, ein ehemaliger Student des Blue Mountain Colleges, gab Ende der fünfziger Jahre die Malerei auf, um nur noch Zeichnungen und Collagen zu machen, und wendete sich schließlich ganz Post-Projekten zu. In einem unaufhörlichen Recycling-Prozess arbeitete Johnsons, alles was er per Post bekam, um, und schickte es weiter. In seinem völligen Verzicht auf eine materiell repräsentierbare Kunst war er ein Vorreiter sowohl von Fluxus wie von der Konzeptkunst.
Zur selben Zeit begannen auch verschiedene Fluxus-Künstler wie Emmett Williams, Arthur Koepke oder George Brecht damit, sich auf Postkarten kleine Arbeiten zuzuschicken, diese zu bearbeiten und weiterzuschicken. Obwohl einige dieser Arbeiten heute zum Kanon der Kunstgeschichte gehören (etwa On Kawaras "I am still alive"-Telegramme oder die "Postal Sculptures" von Gilbert & George), ist die Mail Art als Ganzes bis heute ein weitgehend übersehenes Gebiet geblieben. Darin gleicht sie der Netzkunst, die - zumindest bisher - nur die Aufmerksamkeit eines recht zirkelhaften Publikums genießt. Dabei war eine der Ideen, die die Mail Art- Künstler beflügelte, daß man durch die Post Kunst demokratisieren und leichter zugänglich machen könne. Ähnliche Vorstellungen lagen übrigens auch den Multiples zugrunde, die in den sechziger Jahren populär wurden. Doch während die Multiples strukturell noch ein Rundfunks-Medium waren, war die Mail-Art wirklicher "Punktfunk".
Daß die Mail Art nie so recht den Cross-Over in den Kunstbetrieb geschafft hat, liegt an ihren besonderen Eigenschaften, und auch darin gleicht sie der Netzkunst der Gegenwart: Die Mail Art war ihrer Natur nach die Angelegenheit eines Netzwerks, und wie das Internet hatte auch das Mail Art-Netzwerk keine Zentrale und war theoretisch für jeden offen, was ihre öffentliche Sichtbarkeit jedoch paradoxerweise nicht erhöhte. Im Gegenteil, gerade der Netzwerk-Charakter machte die Mail Art-Künstler zu einer geschlossenen Gruppe, zu der man entweder gehörte oder eben nicht.
Der wichtigste Grund, warum sich der Kunstbetrieb nie wirklich für die Mail Art interessiert hat, dürfte allerdings vor allem - wie bei der Netzkunst - am Fehlen von ausstellbaren oder sogar verkäuflichen Werken liegen. Die Arbeiten waren nicht wichtiger als der Kommunikationsprozeß selbst. Seine Relikte waren ohne Kenntnisse der Kommunikationssituation, aus der sie entstanden waren, kaum zu entschlüsseln. Die Mail Art hat sich bis in die Gegenwart an der äußersten Peripherie der Wahrnehmung des Kunstbetriebs gehalten, und während sie von vielen als Hobbykunst von Sonntagsmalern abgetan wird, betrachten sie andere als das letzte Relikt einer Avantgarde, die in den sechziger Jahren versucht hat, sich aus der Umarmung der Institutionen zu befreien.
Der besondere Reiz für die teilnehmenden Künstler lag in der Ambivalenz von An- und Abwesenheit, von Distanz und Nähe, ein Thema, das auch in verschiedenen Netzkunstarbeiten eine wichtige Rolle spielt, zum Beispiel bei "Heaven & Hell" von Olia Lialina und Michael Simon, oder den bereits erwähnten Internet-Reisetagebüchern von Philip Pocock oder Kathy Rae Huffmann und Eva Wohlgemuth.
Hervorgehoben werden sollte an dieser Stelle, daß die Mail Art Szene auch Künstler des damaligen Ostblocks (z.B. die bekannt gewordenen "I am glad"-Mitteilungen von Endre Tot) und aus Lateinamerika einschloß. Gerade für einige der osteuropäischen Künstler, die als Dissidenten vom offiziellen Kunstbetrieb ausgeschlossen waren, war die Briefpost sogar das einzige Mittel, um ihre Arbeiten zu zeigen und im Ausland zu vertreiben. Auch das ist eine interessante Parallele zur Netzkunst: Die Gruppe von net.artists, die sich im letzten Jahr im Umkreis der Mailingliste nettime LINK ZUM LJUBLIANA-Artikel formiert hat, ist wohl die erste gesamteuropäische Kunstbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg, die nicht nur Künstler aus dem Westen, sondern auch aus der Ex-Sowjetunion und Ex-Jugoslawien einschließt. Wie Alexej Shulgin sagt, ist seine Arbeit im Internet sogar ein wichtiges Mittel, um die ethnisierenden Etikettierung als "russischer Künstler" abzuschütteln.
Ich habe bereits darauf hingewiesen, daß die Konzeptkunst einige Elemente der Netzkunst vorgeweggenommen hat. Es ist kein Zufall, daß einige der wichtigsten Etappen in der Geschichte der Conceptual Art schon durch ihre Titel auf Telekommunikation und Computerisierung hinwiesen: die Ausstellung "Art by Telephone" im Museum of Contemporary Art in Chicago (1969), das Symposium "Art without Space" in New York (1969), die Ausstellung "The Machine as Seen at the End of the Mechanical Age" im Museum of Modern Art (MOMA) in New York (1969) oder die Ausstellung "Information" im MOMA (1970).
Besonders die Ausstellung "Art by Telephone", an der unter anderem Joseph Kosuth, Richard Serra, James Lee Byers und Robert Hout teilnahmen, ist in diesem Zusammenhang interessant, weil sie nicht nur in ihrer Konzeption "conceptual" war, sondern den Gebrauch des Telefons sogar ausdrücklich einforderte: 36 Künstler erhielten die Aufgabe, bei dem Museum anzurufen und den Kuratoren ihre Ausstellungsbeiträge telefonisch zu beschreiben. Das Museum führte diese Aufträge dann aus - wohl das erste Beispiel, bei dem Moholy-Nagys Idee der "Telefonbilder" wirklich konsequent durchgeführt wurde. Zur selben Zeit war in Köln unter der Nummer 0221-51 77 83 der "Automatische Anrufbeantworter" von Wolf Vostell zu erreichen, auf dem die Anrufenden erfahren konnten, was Vostell in den letzten Tagen für Ideen gehabt hatte.
Fernsehen als kreatives Medium
Die frühe Periode der Videokunst ist eine Analogie, die immer wieder bemüht wird, wenn es darum geht, die Situation zu beschreiben, in der sich die Netzkunst zur Zeit befindet. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, die Gemeinsamkeiten in punkto Experimentierfreude und künstlerischem Auslotens eines neuen Mediums darzustellen. Hingewiesen sei darum in diesem Zusammenhang nur auf einige frühe TV-Experimente, mit denen Ende der sechziger Jahre versucht wurde, den neuentdeckten, öffentlichen Raum des Fernsehens künstlerisch zu nutzten.
Das bekannteste Beispiel ist sicherlich Gerry Shums SFB-"Fernsehgalerie" von 1969, in der "als fiktiver Ausstellungsort die an den verschiedensten Schauplätzen gesammelten Informationen und Meinungen zu einem bestimmten Kunstthema" vereinigt werden sollten. Zur selben Zeit zeigten Nam June Paik, Ira Schneider und Frank Gillette bei der Ausstellung "TV as a creative medium" in der Howard Wise Gallery in New York Installationen, die mit Feedback und zeitverzögerten Videoaufnahmen arbeiteten. (Anfang der siebziger Jahre hat auch Dan Graham in einigen Ausstellungen mit solchen "Closed-Circuit"-Techniken gearbeitet.) Schneider/Gillet mischten Bilder aus dem regulären Fernsehprogramm mit Aufnahmen von Galeriebesuchern und reklamierten damit einen Platz für die Rezipienten in der Repräsentationsmaschine Fernsehen.
Ein Loch im Raum
Nachdem Hans Haacke und N. E. Thing Co schon Ende der Sechziger Jahre mit Telex experimentiert hatten, kamen in den siebziger und frühen achtziger Jahren die sich entwickelnden Computernetzwerke, Fax und Telekonferenzsysteme ins Visier einer Reihe von Künstlern. All diese Technologien gehörten damals noch in den Bereich der für normale Verbraucher unerreichbaren Hochtechnologien. So mußten Liza Bear, Keith Sonnier und Willough Sharp, die Ende der sechziger Jahre zur Gruppe der Conceptual Artists gehört und 1968 ein "Air Art Event" in Philadelphia organisiert hatten, noch die Hilfe der Nasa in Anspruch nehmen, als sie 1977 über einen Satelliten die Konferenzschaltung "Two Way Demo" organisierten, bei der Künstler von der West- und der Ostküste miteinander diskutierten und die auch im Fernsehen übertragen wurde.
Im gleichen Jahr wirkten Joseph Beuys, Douglas Davis und Nam June Paik bei der Eröffnung der documenta 6 an einer Tele-Konferenzschaltung mit. Die Sendung endete mit der Performance "The last nine minutes", bei der Davis versuchte, den Fernsehschirm zu durchbrechen. Die Sendung wurde live in mehr als 30 Länder übertragen, und hat damit wahrscheinlich die größte Menge von Zuschauern erreicht, die jemals an einem Kunstereignis teilgenommen hatten. Ebenfalls 1977 produzierten Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz alias Mobile Image das "Satellite Arts Project", bei dem zwei Gruppen von Tänzern an verschiedenen Orten miteinander interagierten. Deren Bilder wurden so auf dem Bildschirm zusammengefügt, daß es aussah, als würden die 3000 Kilometer von einander entfernten Menschen miteinander tanzen.
"Satellitenskulpturen" sind in den folgenden Jahren fast zu einem eigenen Kunstgenre geworden, an dem sich so unterschiedliche Künstler wie General Idea, Jean-Marc Phillippe, Pierre Comte, Ingo Günther, Peter Fend, Dennis Oppenheim, Wolfgang Staehle und Paul Sharits beteiligt haben. Eins der bekannteste Projekte dieser Art war "A Hole in Space", eine Kommunikationsskulptur, die ebenfalls von Galloway und Rabinowitz eingerichtet worden war: in Schaufenstern in Los Angeles und New York waren Kameras und große Monitore installiert, die über eine Satellitenleitung verbunden waren. Passanten konnten von einer Stadt zur anderen miteinander Verbindung aufnehmen. Das in Deutschland wahrscheinlich bekannteste Event dieser Art war "Van Gogh TV" von Ponton Media, das bei der Dokumenta 8 Menschen in verschiedenen Städten über Telefon, Fax, Mailbox und Bildtelefon miteinander kommunizieren ließ.
Die Freude am (ASCII-)Text
Vielen von denen, die die Sendungen von "Van Gogh TV" damals nachts im Fernsehen verfolgt haben, sind vor allem endloses "Hallo"-Geschrei und verunglückte Kommunikationsversuche in Erinnerung geblieben. Bei dem nächsten Telekommunikationsmedium, mit dem sich Künstler beschäftigten, war solches wahlloses Aneinandervorbeireden nicht möglich: die allerfrühesten Computernetzwerke waren so unerreichbar teuer, daß die ersten künstlerischen Experimente nur mit einer kleinen Zahl von ausgesuchten Kollaborateuren durchgeführt werden konnten.
1978 lernten sich bei der Konferenz "Artist's Use of Telecommunication" eine Reihe von Künstler kennen, die in den folgenden Jahren an einigen der interessantesten Telekommunikationsprojekten der achtziger Jahre teilnehmen sollten. Die Konferenz fand physisch im San Francisco Museum of Modern Art statt, aber über Satellit und mit dem Computersystem der Firma I.P. Sharp waren Künstler in anderen Städten und Ländern zugeschaltet. Neben dem Organisator Bill Bartlett gehörten unter anderem Gene Youngblood, Hank Bull (Vancouver), Douglas Davis und Willoughby Sharp (New York), Norman White (Toronto) und Robert Adrian X (Wien) zu den Teilnehmern dieses Symposiums.
Aus dieser Konferenz entwickelten sich in den folgenden Jahren über das Time-Sharing-Netzwerk von I.P. Sharp Associates eine Reihe von generativen Schreibkollaborationen. Das Wiener Büro von I.P. Sharp entwickelte ein einfaches "interkontinentales, interaktives, elektronisches Kunst-Austausch-Programm, das für Künstler und alle anderen, die sich für alternative Einsatzmöglichkeiten neuer Technologien interessieren, entworfen worden ist", wie es in einem Flugblatt von damals heißt. ARTEX, so der Name dieser Software "wurde mit Absicht einfach gehalten, so daß auch unerfahrene und unspezialisierte Teilnehmer damit arbeiten können, und die Kosten so niedrig wie möglich gehalten werden können."
Zu dieser Zeit war das Internet noch Herrschaftswissen von wenigen amerikanischen Militär- und Universitätsangehörigen, ein Modem (Akustikkoppler) mußte in Deutschland von der Bundespost lizensiert werden und kostete über tausend Mark, und auch an lokale BBS-Mailboxen, bei denen sich User zum Ortstarif einwählen konnten, hatte zu diesem Zeitpunkt niemand auch nur gedacht. Der Zugang zu den Datennetzen, den sich inzwischen fast jeder Computerbesitzer leisten kann, war noch absolute Zukunftsmusik. Trotz der widrigen technischen Voraussetzungen inszenierten die Mitglieder der "Artex-Community" in den nächsten Jahre einige internationale Telekommunikationsevents. Dazu gehörte zum Beispiel 1982 das von Robert Adrian X geleitete "Die Welt in 24 Stunden", bei dem Künstler in 16 Städten einen Tag lang miteinander kommunizierten und Kunstwerke austauschten.
Im folgenden Jahr organisierte Roy Ascott, der ebenfalls bereits vorher mit Computerkonferenzsystemen gearbeitet hatte, bei der Pariser Ausstellung "Electra" die Telekommunikationsperformance "La Plissure du Text". "Das Vergnügen des Textes" (der Titel war eine Anspielung auf ein Buch von Roland Barthes) war ein kollaboratives Projekt, bei dem Künstler in Australien, Nord-Amerika und Europa über das ARTEX-System gemeinsam ein Märchen entwickelten.
Einige dieser Aktivitäten mögen heute naiv wirken, oft wurden und werden sie vorschnell als High-Tech-L'Art pour l'art abgetan, bei der es weniger um Inhalte als um die Faszination des technisch Machbaren ging. Man sollte bei seinem Urteil allerdings drei wichtige Aspekte dieser Projekte nicht übersehen: Erstens sahen sie recht hellsichtig Methoden der technologisch vermittelten Kommunikation voraus, die inzwischen so alltäglich geworden sind, daß wir sie schon gar nicht mehr als außerordentlich wahrnehmen. Zweitens wirkten diese Telekommunikationsprojekte zeitweise tatsächlich gemeinschaftsstiftend und stellten so für eine gewisse Periode einen eigenen sozialen Raum her, was viele konzeptuelle Arbeiten aus derselben Zeit eher angekündigt als tatsächlich wahrgemacht haben. Und drittens gehörten diese Projekte zu den ersten Versuchen, die Möglichkeit der digitalen Datenkommunikation für etwas anderes als wissenschaftlich-militärische und ökonomische Zwecke zu nutzen, und wenigstens in einem bescheidenen Rahmen einer anderen Öffentlichkeit als der von Geschäftsmännern, Akademikern und Soldaten zugänglich zu machen.
In den folgenden Jahren wurde jedes der damals vorhandenen Telekommunikationsmedien von einer Reihe von Künstlern, die sich in Wien um die Gruppe BLIX und in Vancouver um die Galerie "Western Front" gruppiert hatten, auf seine künstlerische Brauchbarkeit hin überprüft. Zu diesen Experimenten gehörten zum Beispiel vier "Telefonkonzerte", an denen in den Jahren zwischen 1979 und 1983 Musiker in Berlin, Wien, Vancouver und Warschau teilnahmen, die über Telefon und das "Slowscan" Videokonferenzsystem miteinander verbunden waren. Diese Konzertreihe firmierte unter dem Namen "Wiencouver", einer "imaginären Stadt, die zwischen ihren beiden Polen Wien und Vancouver unsichtbar im Raum schwebt", wie Hank Bull es später beschrieb.
Eine der interessantesten Aktionen der "Aesthetics of Telecommunications Group" war das Projekt "Hearsay" von Norman T. White, der einen kurzen Text über das I.P. Sharp Computernetzwerk um die ganze Welt schickte und an jeder Station einmal übersetzten ließ - so lange, bis die letzte Rückübersetzung ins Englische fast keinen Sinn mehr ergab.
In dem Buch "Art + Telecommunication" schreibt Robert Adrian: "Künstler, die wirklich im elektronischen Raum der Telekommunikation arbeiten, müssen in Betracht ziehen, daß der größte Teil der Welt gerade erst beginnt, das Telefon in den Griff zu bekommen und sie müssen darauf Rücksicht nehmen, welche Geräte ihren Partnern in anderen Teilen der Welt zur Verfügung stehen, wenn sie weltweit arbeiten wollen. Und wenn man nicht wenigstens versucht, weltweit zu operieren, dann handelt sich um nicht viel mehr als Spielerei." In der Tat waren die meisten Telekommunikationsperformances der siebziger und achtziger Jahre eine Sache der "ersten" Welt; der größte Teil Afrikas, Asiens und Lateinamerikas war (wie heute bei der Netzkunst) an diesen Projekten nicht beteiligt. Das änderte sich erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, als auch Künstler aus dem Trikont an Telekommunikationsevents teilnahmen, wie zum Beispiel an "Nicaraguan Interactions", bei dem Videobänder aus Nicaragua per "Slow Scan" Video-Übertragung in Boston gezeigt und beantwortet wurden.
In der selben Zeit gab es auch eine Reihe von "Fax-Performances", unter anderem "Fax" (1983 zwischen Wien, Berlin und New York), pARTiciFAX (1984, mit Teilnehmern aus Afrika, Amerika, Asien, Australien und Europa) oder Mondo Faxo (1989). Die große Produktionsfrequenz einiger Teilnehmer führte dazu, daß sich manche Galeristen und Künstler weigerten, weiter an derartigen Aktionen teilzunehmen, weil sie für die Dauer der "Performance" telefonisch nicht erreichbar waren. In den siebziger und achtziger Jahren haben auch Künstler wie Andy Warhol und David Hockney mit dem "Telekopierer" gearbeitet.
Galerien ohne Wände
Der unmittelbare Vorläufer dessen, was sich heute Netzkunst nennt, waren verschiedene Projekte, die mit Mailboxen arbeiteten. Dabei ist zu unterscheiden zwischen den Künstlern, die Mailboxen vor allem dazu benutzten, um einen Raum zu schaffen, der offen für Kommunikation war, und denen, deren Arbeiten, "digital specific" oder "net specific" waren, also als Kunstwerke mit der Technologie arbeiteten, innerhalb derer sie existierten. Als Gestalter eines digitalen Raums, in dem neue Formen der Interaktion möglich gemacht werden sollen, verstehen sich zum Beispiel Rena Tangens und padeluun, LINK ZUM INTERVIEW die nach einigen Aktionen in der Tradition der Konzeptkunst 1989 die BBS-Mailbox Bionic gründeten.
Die Bionic wurde Anfang der neunziger Jahren eine der wichtigsten Mailboxen in Deutschland, über die auch viele politische Initiativen ihrer online-Kommuniaktion abwickelten. In den letzten Jahren liefen unter anderem die Emails des jugoslawischen "Zamir Netzwerkes" über die Bielefelder Computer. Diese Botschaften waren zeitweise die einzige Kommunikationsmöglichkeit zwischen den verfeindeten Staaten Ex-Jugoslawiens, nachdem während des Bürgerkriegs die Telefonverbindungen zwischen Serbien und Kroatien gesperrt worden waren.
Eine ähnliche Funktion hatte auch das Mailbox-Projekt "Electronic Cafe", das Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz anläßlich der olympischen Spiele 1984 in Los Angeles realisierten. In sechs verschiedenen Vierteln der Stadt wurden Mediencafes eingerichtet, in denen die Einwohner über ein Telekonferenzsystem und eine Mailbox miteinander verbunden waren. Diese "Gallerie ohne Wände", in der Bilder und Gedichte ausgetauscht wurden, sollte dazu dienen, die Bewohner der ethnisch verschiedenen Neigborhoods miteinander ins Gespräch zu bringen.
Anders als diese "sozialen Plastiken" (J. Beuys) namens Bionic und Electronic Cafe funktionierten die Projekte, die der Amerikaner Carl Loeffler seit 1986 in seinem Art Com Electronic Network (ACEN) unterhielt. Bei den meisten Arbeiten des ACEN, das in der kalifornischen Mailbox WELL zu finden war, ging es weniger um Kommunikation zwischen den Usern als vielmehr darum, andere Möglichkeiten des neuen digitalen Mediums auszuloten. In diesem Sinn sind viele dieser Arbeiten als direkte Vorläufer von heutigen Netzkunstwerken zu betrachten.
Loeffler war in den achtziger Jahren einer der allgegenwärtiger Advokaten der Kunstproduktionen mit Hilfe von Telekommunikationsmedien, doch er scheint sich aus dieser Diskussion in den letzten Jahren zurückgezogen zu haben. Auch von seinem Online-Kunstmagazin "Art Com" ist offenbar nur die Newsgroup alt.artcom übrig geblieben. Dabei hatte er einige Ideen, an denen sich heute wieder hoffnungsvolle Internet-Unternehmer versuchen, wie zum Beispiel die "Art Com Electronic Mall". Dieses Online-Geschäft war organisiert wie eine Shopping Mall, in der man Software, Videos und Bücher kaufen konnte: "Shoppers can browse the aisles, see descriptions of the art products and purchase items on-line with the checkout cashier", heißt es in einer Beschreibung von 1991 - wenn das nicht klingt wie ein WWW-Einkaufsparadies unserer Tage. Auf eine Idee ist man bei den WWW-Shopping Malls unserer Tage freilich noch nicht gekommen: Eine Künstlergruppe namens Normal Art Group programmierte eine Funktion, mit der man in der "Art Com Electronic Mall" Ladendiebstahl begehen konnte!
Wie eine Recherche mit den gängigen Suchmaschinen ergab, scheint keine der Arbeiten von damals den Paradigmenwechsel von Mailboxen ins Internet überlebt und ihren Weg ins WorldWideWeb gefunden zu haben. Dabei verweisen die Arbeiten, die noch Anfang der Neunziger Jahre bei The Well zu finden waren, bereits auf net.art-Projekte der Gegenwart: Judy Malloy programmierte eine "Bad Information Base", in der die User Fehlinformationen und Lügengeschichten ablegen konnten. The Normal Art Group richtete ein "Virtual Museum of Description of Art" ein, in welchem schriftliche Beschreibungen von Kunstwerken zu finden waren (das erste war übrigens Duchamps "Etant donnes" im Kunstmuseum von Philadelphia.).
Außerdem gab es eine Version von der "Exquisiten Leiche", dem berühmten Gesellschaftsspiel der Surrealisten, bei der jeder User an eine Zeile ASCII-Zeichen, die der letzte Benutzer eingegeben hat, etwas eigenes hinzufügen konnte, und eine Arbeit mit dem Titel "The First Meeting of the Satie Society", die nach den Angaben von John Cage von Jim Rosenberg und Andrew Culver zu Ehren Saties programmiert worden war. Es war, wie es in einem Text aus dieser Zeit heißt, zwar "konzeptuell eine Arbeit von Cage, doch bei seiner Herstellung waren verschiedene Menschen und Programme beteiligt und die Arbeit gibt darum eine Vielheit von (nicht ausschließlich menschlichen) Stimmen wieder. Die Tatsache, daß Cage an seiner Arbeit den Aspekt der Benutzung durch den Leser (sic!) hervorgehoben hat, unterstreicht sowohl die Wichtigkeit des Prozesses (daß Kunst sich nach ihrer Fertigstellung durch den Künstler weiterentwickelt) wie der Partizipation des Benutzers (der Herstellung von anderen Bedeutungen durch den Gebrauch des Kunstwerks)." Diese Sätze stimmen auch noch, wenn man sie auf die meisten Netzkunstarbeiten von heute anwendet...
Der Rest ist (wie man so sagt) Geschichte - allerdings eine, die noch geschrieben werden muß. Anfang der neunziger Jahre wurde das "Being Online" im Kunstbetrieb durch Kunst-Mailboxen wie The Thing und Projekten wie "Wochenschau", bei der Off-Kunstszeneorte in Köln, Düsseldorf, Berlin, New York und Wien miteinander über Mailboxen und Telefonkonferenzen verbunden waren, langsam eingeführt. Einige der Künstler, die über The Thing ans Netz kamen, arbeiten heute noch im und mit dem Internet. Als 1994 mit dem WorldWideWeb eine leicht zu benutzende, grafisch manövrierbare Benutzeroberfläche für das Internet entstand, begannen die ersten der net.artists von heute ihre ersten Exkursionen in den Cyberspace: Paul Garrin legte Fluxus Online an, in Berlin begann die Gruppe Handshake, aus der später die Internationale Stadt (I.S.) hervorging, mit ihren Erkundungen des Internets. Auf dem Server der I.S. ging 1994 Pit Schultz mit seinem Orgasmatron-Projekt online. Im selben Jahr gingen die Digitale Stadt und David Blair mit seinem Wax-Web-Hyperfilm ans Netz. 1994 eröffnete Muntadas seinen "File Room" und Alexej Shulgin sein WWW-Art Centre in Moscow mit "Hotpics", einer Auswahl von Arbeiten russischer Fotografen, die seiner Ansicht nach zu unrecht nicht zu einer Gruppenausstellung in Deutschland eingeladen worden waren.
Im folgenden Jahr ging Jordan Crandalls "Blast Archive" online, und Philip Pocock und Felix Stephan Huber reisten für "Artic Circle" zum Nordpol. Bei der Konferenz "The Next Five Minutes" trafen sich zum ersten Mal einige der europäischen Künstler, die im Internet arbeiteten. Anfang 1996 gab es in Triest ein Treffen, bei dem zum ersten Mal das Wort "net.art" benutzt wurde. Im selben Jahr entstanden die ersten Online-Gallerien wie Adaweb und Turbulence .
All das ist nur eine subjektive Auswahl aus den Aktivitäten, die in den letzten zwei, drei Jahren zu den ersten künstlerischen Projekten führten, die heute als "net.art" bezeichnet werden. In diesem Jahr wird auf Kunstspektakeln wie der Documenta oder der ars electronica der Kunstwelt zum ersten Mal im großen Maßstab Netzkunst gezeigt. Ob das dazu führen wird, daß diese Kunstrichtung in irgendeiner Zukunft in der Literatur neben historischen Kunstbewegungen der Moderne firmieren, oder ob sie so marginal wie etwa die Mail Art bleiben wird, ist abzuwarten und im Augenblick auch egal. Künstlerische Aktivitäten, die sich über den Gebrauch neuer Medien definieren, haben oft eine kurze Halbwertszeit, und ob die net.art eine Zukunft hat, muß sich noch zeigen. Festzuhalten bleibt bis auf weiteres nur dies: "Netzkunst", die künstlerische Arbeit mit Telekommunikationsmedien, hat eine Vergangenheit.
Vielen Dank an Heiko Idensen (Hildesheim/Hannover), Harald Fricke (Berlin), Robert Adrian X (Wien) und Paschutan Buzari (Berlin) für unverzichtbare Hilfe bei der Recherche für diesen Artikel.
Bibliographie:
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