Immense Proteste gegen Macrons Renten-Kürzungspläne
- Immense Proteste gegen Macrons Renten-Kürzungspläne
- Regierung behauptet, Vorhaben sei "sozial gerechter"
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Über eine Million war gestern in Frankreich auf den Straßen. Wie lange der Streik dauert, ist offen
Mindestens eine Million Demonstrierende in Frankreich, wo am gestrigen Donnerstag in 250 Städten protestiert wurde - das ist für einen ersten Mobilisierungstag in einer absehbaren Abfolge von Protestterminen ein beachtlicher, ein gewaltiger Auftakt. Auf 806.000 bezifferte am Abend das französische Innenministerium ihre Gesamtzahl. Der Gewerkschaftsdachverband CGT - als einer der Hauptveranstalter - sprach von 1,5 Millionen.
Solcherlei Abweichungen zwischen Veranstalter- und Polizeizahlen zählen in Frankreich zu den Klassikern bei sozial- und innenpolitischen Auseinandersetzungen. Allgemein wird damit gerechnet, dass die Zahl von einer Seite unter-, von anderer Seite her übertrieben angegeben wird. Florian Bachelier, Abgeordneter der Regierungspartei LREM und einer der Quästoren (eine Art Parlaments-Vizepräsidenten) der französischen Nationalversammlung, räumte gestern gegen 23 Uhr in einer Fernsehdebatte ein, eine Million seien es wohl gewesen.
Die Streiks
Am selben Tag wurde gestreikt: in den Transportbetrieben (Nah- und Fernverkehr; Buslinien, Métro und Eisenbahn), im Bildungswesen - im Grundschulzweig betrug die Streikbeteiligung unter den Lehrkräften 70% und insgesamt bei 55%, in Paris lag sie dagegen insgesamt gar bei 78% -, in den Krankenhäusern (weswegen eine Reihe von Demonstrierenden weiße Blusen und Atemschutzmasken trugen), aber auch in der Chemie- und der petrochemischen Industrie.
Die entscheidende Frage stellt sich nun ab dem heutigen Freitag: jene der reconduction, also der allüberall in Personalversammlungen zu treffenden Entscheidung darüber, ob die Basis den Arbeitskampf fortsetzen oder aber abbrechen möchte. In vielen Bereichen, vor allem bei der Eisenbahn und in anderen Transportunternehmen, wird mit einer Fortsetzung auch über den Wochenbeginn hinaus gerechnet.
Bei der RATP, also den Pariser Verkehrsbetrieben, wurde er am Donnerstagabend bereits bis mindestens kommenden Montag verlängert. Es sei daran erinnert, dass in Frankreich Lohnabhängige selbst über ihre Ausübung des Streikrechts entscheiden - nicht Gewerkschaftsvorstände wie in Deutschland, wo Streiken ohne erklärte gewerkschaftliche Unterstützung überdies als rechtswidrig gilt, nicht so in Frankreich -, allerdings auch kein Streikgeld erhalten, sondern im Fall des Arbeitskampfes auf ihr Einkommen verzichten.
Dieser Ausstand im Transportwesen führt notwendig auch zu Beeinträchtigungen - aus Arbeitgebersicht - in anderen Wirtschaftszweigen, etwa zum Fernbleiben oder Zuspätkommen von Beschäftigten. Wer ein Auto nutzt, ist zwar nicht auf die RATP angewiesen, steht dafür nun jedoch im Stau.
Am Donnerstag war dieses Phänomen noch nicht derart ausgeprägt, doch war zu beobachten, dass viele abhängig Beschäftigte an diesem 05. Dezember zunächst einmal einen Urlaubstag genommen oder einen Tag Freizeitausgleich angemeldet hatten. Dies zeigte sich auch beispielsweise an der außerordentlich hohen Zahl von Pariser Einwohnern, die man just an diesem Donnerstag Weihnachtsbäume schleppen oder bei anderen Besorgungen sehen konnte, oft in Begleitung von Kindern, deren Schulunterricht ausfiel.
Wirklich spannend wird es ab dem Beginn nächster Woche werden bezüglich der Frage, wie es weitergehen wird. Dann wird das eigentliche Kräftemessen beginnen, wenn die Privatwirtschaft ernsthafte Verlangsamungen verzeichnet.
Worum geht es? Die Rentenreform, die eine Kürzung ist
Einmal wieder, einmal mehr wird in Frankreich eine Renten"reform" angekündigt. Begriffe ändern ihre Geschichte.
Wurde vor vierzig Jahren von "Reform" gesprochen, dann wusste man, dass das Gegenüber sich für gesellschaftliche Veränderungen einsetzte, für sozialen Fortschritt, ein besseres Leben anstrebte - jedoch eine Revolution für unnötig oder zu riskant hielt. Hört man hingegen heute aus dem Fernseher oder aus dem Radio, dass eine neue "Reform" angekündigt wird, dann weiß oder ahnt man: In naher Zukunft wird man bestohlen werden.
Nicht vierzig Jahre, jedoch über ein Vierteljahrhundert ist es her, seit in Frankreich am Rentensystem herumgedoktert wird. Es geht jetzt um ein weiteres Mal, ein weiteres "Reform"vorhaben nach dem von 1993 - der "Balladur-Reform" -, nach der "Fillon-Reform" von 2003 unter dem damaligen Sozialminister François Fillon und Präsident Jacques Chirac, nach der "Woerth-Reform" von 2010 unter der Präsidentschaft Nicolas Sarkozys sowie der "Touraine-Reform" 2013/14 unter Präsident François Hollande.
Die Beitragsjahre
Einmal mehr soll, wenig originell, das Eintrittsalter in die Rente angehoben werden. Zuletzt war das Mindestalter von 60 auf 62 angehoben worden (2010), doch hatten die bisherigen "Reformen" vor allem an einer anderen Stellschraube gedreht, nämlich jener, die die Zahl der erforderlichen Beitragsjahre zur Rentenkasse anhebt.
Diese betrug bis zu der rückschrittlichen "Reform" unter Premierminister Edouard Balladur von 1993 noch 37,5 Jahre für alle Beschäftigten, danach 40 Jahre in der Privatwirtschaft; mit der ebenfalls regressiven "Reform" von 2003 wurde sie nun auch in den öffentlichen Diensten auf 40 angehoben, und mit jener von 2010 auf 41,5 Beitragsjahre für alle Lohn- oder Gehaltsabhängigen.
Seit der bislang letzten so genannten "Reform" von 2013/14 wird die Anzahl der Beitragsjahre, mit Übergangsregelungen (die sich von 2020 bis 2035 hinziehen), sukzessive auf künftig 43 steigen.
Das offizielle Renteneintrittsalter
Doch noch blieb bislang das offizielle Renteneintrittsalter von 62, wie es 2010 eingeführt worden war (mit voller Wirkung ab 2018), unangetastet. Im europaweiten Vergleich liegt es eher im relativ niedrigen Bereich. Allerdings hat es auch bislang eher einen theoretischen Gehalt.
Denn wer weniger als die erforderlichen Beitragsjahre aufweist, muss entweder bis zum Alter von 67 (gültig seit 2017) mit der Pensionierung warten, um eine volle Rente beziehen zu dürfen, oder aber wird mit finanziellen Abzügen an der Pensionszahlung bestraft. Nunmehr soll das Minimalalter auf 64 angehoben werden. Darunter soll eine Verrentung zumindest mit Strafabzügen verbunden sein.
Zuletzt wurde in Frankreich eine Renten"reform" im Jahr 1995, in Gestalt des so genannten "Juppé-Plans" - nach dem damaligen Premierminister Alain Juppé benannt - durch eine mächtige Streikbewegung verhindert. Durch das Kippen der damaligen Regierungspläne wurde etwa das Vorhaben gestoppt, die günstigeren Sonderregelungen für die Rente in einzelnen Bereichen, insbesondere bei den Beschäftigten in Verkehrsbetrieben wie der Eisenbahngesellschaft SNCF, aufzuheben.
Angleichung nach unten
Diese sollen nunmehr nach dem Willen der aktuellen Regierung erneut angegriffen werden: Die Rentenregelungen sollen für alle Beschäftigten aneinander angeglichen werden, allerdings "nach unten", also im Sinne einer Verschlechterung für alle. Dieses Vorhaben wird von Regierungsseite im Namen von "Gerechtigkeit" und der "Abschaffung von Vorrechten und Privilegien" gerechtfertigt.
Doch schenkt man den Umfragen auch der bürgerlichen Institute Glauben, dann gehen zwei Drittel der Gesellschaft diesem vordergründigen "Anti-Privilegien"-Diskurs nicht auf den Leim, sondern lehnen seine Kernaussage ab.
Neuberechnung der Rentenhöhe
Ein weiteres Kernstück der "Reform", mit deren genauen Inhalten die Regierung am liebsten nur scheibchenweise herausrücken möchte - im September dieses Jahres sollte sie bereits auf dem Tisch liegen, doch dann entschied sich Premierminister Edouard Balladur für sukzessive Ankündigungen bis im Juni kommenden Jahres -, besteht in der Neuberechnung der Rentenhöhe.
Diese hing bislang von einem Parameter ab, welcher in der Privatwirtschaft und in den öffentlichen Diensten unterschiedlich ausfällt. In der Privatwirtschaft wurde bis zur "Balladur-Reform" von 1993 ein Prozentsatz (theoretisch 50 Prozent, aufgrund zahlreicher Zusatzregeln real durchschnittlich rund 70 Prozent) des Lohns während der zehn Berufsjahre mit dem besten Verdienst zur Berechnungsgrundlage genommen.
Der Grund lag darin, dass man davon ausging, dass der Verdienst in den letzten Berufsjahren zumeist am höchsten ausfällt - jedenfalls besser als in den Anfangsjahren - und dass man denen, die von der Arbeit in Rente abgehen, keinen allzu starken Abfall ihres Einkommensniveau zumuten dürfe. Infolge der "Reform" der Rechtsregierung aus dem Jahr 1993 wurde diese Berechnungsgrundlage auf die 25 "besten" Berufsjahre, statt zuvor zehn, gestreckt. Das senkt natürlich den Durchschnittswert.
In den öffentlichen Diensten gilt die Regel, dass die Berechnungsgrundlage im Gehalt der letzten sechs Monate vor der Verrentung liegt; von ihr ausgehend werden 75% des zuletzt empfangenen Gehalts genommen. In den öffentlichen Diensten liegen die Einkünfte oft niedriger als in der Privatwirtschaft, jedoch verlaufen die beruflichen Laufbahnen meistens entsprechend relativ klar vorgestanzter Linien von unteren in höhere Lohngruppen, wenn dem keine negative Benotung entgegensteht.
Die geplante neue "Reform" soll die Berechnungsgrundlage auf die gesamte Berufskarriere strecken, also künftig auf alle 43 erforderlichen Beitragsjahre (möchte man ohne Abzüge in Rente gehen), statt auf die 25 besten Jahre im privaten Wirtschaftssektor, respektive die letzten sechs Monate bei den Staatsbediensteten sowie Kommunalangestellten.
Zugrunde liegen soll ihr ein Punktesystem; pro gearbeitetem Vierteljahr soll ein bestimmte Anzahl an "Punkten" angesammelt werden. Der Clou dabei ist, dass der einem Punkt entsprechende Geldwert jährlich vom Parlament neu festgelegt werden soll. Theoretisch - so kündigt es jedenfalls die Regierung denen, die ihr Glauben schenken wollen, an - geht es dabei um eine Anpassung an die Lohnerhöhung für die aktive Erwerbsbevölkerung, also eine Anhebung.
Nichts garantiert jedoch, dass es nicht, etwa in Krisenzeiten oder auch wenn die Arbeitgeberbeiträge zu den Sozialkassen gesenkt werden sollen, auch eine schlichte Absenkung des Punkt-Wertes geben kann. Jean-Paul Delevoye, Sonderberichterstatter der Regierung für die Rentenpolitik, hat mündlich angekündigt, der Kostenfaktor für die Rentenbevölkerung, derzeit 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, solle künftig auf gleicher Höhe stabilisiert werden.
Da jedoch gleichzeitig die Anzahl der Senioren an der Gesamtbevölkerung steigt, kann dies wohl nur gehen, wenn zugleich jede und jeder einzelnen von ihnen künftig eben weniger an Rente erhält.