Immense Proteste gegen Macrons Renten-Kürzungspläne

Seite 2: Regierung behauptet, Vorhaben sei "sozial gerechter"

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Die Regierung ihrerseits behauptet, ihr Vorhaben sei "sozial gerechter", weil dasselbe Punktesystem künftig für alle gelte. Ansonsten müsse man eben auch dem Umstand Rechnung trage, dass die Bevölkerung im Durchschnitt länger lebe als vor fünfunddreißig Jahren (eine progressive Reform, die letzte ihrer Art, hatte 1981/82 das Mindestalter für die Rente auf sechzig abgesenkt), und deswegen müsse man eben später in Rente.

Die Kritik fragt dagegen: Aber um wie viel stieg die Arbeitsproduktivität im selben Zeitraum, wie viel Werte schafft ein abhängig Beschäftigter heute an einem Tag mehr als 1982?

Foto: Bernard Schmid

Bislang war Frankreich ein Land, in welchem die Altersarmut relativ schwach ausgeprägt war, im Vergleich mit Nachbarländern wie etwa Deutschland. Nun wird befürchtet, dies könne sich mit dem geplanten System umkehren. Es sei denn, die Betroffenen greifen auf private Absicherungen (neben der gesetzlichen Rente) zurück und zahlen etwa in Rentenfonds ein, die das Geld dann etwa in Börsengeschäften anlegen, um zu versuchen, es zu wahren und zu mehren. Genau dies dürfte auch zu den strategischen Zielen der Regierung gehören.

Um dem Protest den Wind aus den Segeln zu nehmen, kündigten zwei französische Ministerien am Vorabend des Streik(beginn)tags vom gestrigen Donnerstag an, ihre Untergegebenen vor solchen Auswirkungen zu bewahren. Innenminister Christophe Castaner verkündete am Mittwoch, die Polizisten jedenfalls würde ihre eigene Sonderregelung für die Rente bewahren - während alle anderen Sonderregelungen, sofern sie günstiger ausfallen als die gesetzliche Regelrente, eingestampft werden sollen.

Foto: Bernard Schmid

Natürlich ging es dabei auch darum, Personal für ein eventuelles repressives Vorgehen gegen "ausufernde" Proteste bei der Hand zu haben, nachdem auch Polizistengewerkschaften und Personalvertreter zuvor eine Beteiligung an den Protesten in Aussicht gestellt hatten. Am Donnerstag waren allein in Paris 6.000 Polizisten (und Gendarmen) mobilisiert, in ganz Frankreich war die Hälfte aller überhaupt vorhandenen Polizisten im Einsatz.

Zusätzlich reagierte das Bildungsministerium auf alarmierende Presseberichte, aus denen hervorging, dass Lehrkräfte - diese werden in Frankreich erheblich schlechter bezahlt als in Deutschland - künftig durch die Renten"reform" bis zu 1.000 Euro monatlich verlieren könnten, wie selbst kreuzbrave Regionalzeitungen schrieben. Prompt reagierte der amtierende Bildungsminister Jean-Michel Blanquer und kündigte an, diesen zu erwartenden Verlust zu "kompensieren", und zwar durch 300 Euro Gehaltsprämie… jährlich.

Dies steigerte die Wut wahrscheinlich noch, da diese Ankündigung durch die Betroffenen als Hohn betrachtet wurde. Auch wenn der zynische alte Herr Serge July - dereinst maoistischer Aktivist im Mai 1968, dann Herausgeber der sozialdemokratischen Tageszeitung Libération, später weiter nach rechts geglitten - in einer Studiodebatte am späten Mittwochabend im Privatfernsehsender BFM TV darüber wehklagte, dass "zwei Minister schon im Vorfeld des Streiks nachgegeben und dadurch die Protestierenden ermutigt, zur Radikalisierung animiert" hätten: In Wirklichkeit ist der Zusammenhang wohl eher ein anderer.

Foto: Bernard Schmid

Der junge Abgeordnete der Linksfraktion (La France insoumise) Adrien Quatennens stellte in einer neuerlichen Studiodebatte beim selben Sender am Donnerstag Abend den Zusammenhang wie folgt dar:

Wenn zwei Ministerien erklären, dass sie ihre Beschäftigten vor den Auswirkungen der Reform besonders schützen müssen, dann widerlegt das den beruhigenden Diskurs der Regierung, die behauptet, es gebe gar keine negativen Auswirkungen.

Adrien Quatennens, La France insoumise

Vor Beginn der Proteste zeigten sich 71 % der Französinnen und Franzosen "besorgt" über ihre Aussichten in Sachen Rente. Den Streik, oder eher den Streikbeginn, an diesem Donnerstag unterstützen, je nach Umfrageinstitut, 58 bis 69 Prozent der Befragten.

Dies sind ähnliche Proportionen wie im Spätherbst 1995. Damals dauerte ein Streik, der seinen Schwerpunkt in den Verkehrsbetrieben SNCF (Eisenbahn) und RATP hatte, jedoch auch andere öffentliche Dienste erreichte, vom 24. November bis kurz vor Weihnachten.

Und endete mit der Rücknahme des "Juppé-Plans", mit dem damals bereits das Rentensystem kahlrasiert werden sollte. Dass sich ein ähnliches Szenario wiederholen könnte - dies stellt den Wunsch vieler Protestierender, und den Alptraum der Regierung dar.