Impfen gegen Corona: Ab wann haben wir die Kontrolle?

Anmerkungen zum Thesenpapier des Robert-Koch-Instituts vom 5. Juli, zu Inzidenzwerten und zur Auslastung der Intensivstationen

Das Robert-Koch-Institut (RKI) hat Anfang vergangener Woche ein Papier zur Frage, "Welche Impfquote ist notwendig, um COVID-19 zu kontrollieren?", veröffentlicht (EpidBull 27/2021). Darin verficht das RKI die These, dass "es notwendig, aber auch (…) erreichbar ist, die Impfkampagne mit hoher Intensität weiterzuführen, bis mindestens 85 Prozent der 12 bis 59-Jährigen bzw. 90 Prozent der ≥60-Jährigen vollständig gegen COVID-19 geimpft sind" (S. 4).

Als Stichtag für das Erreichen der genannten Impfquote scheint dabei der 21. September angesetzt zu sein (S. 3):

Aufgrund der sich schnell ausbreitenden Delta-Variante ist es jedoch entscheidend, dass die noch ungeimpfte Bevölkerung motiviert wird, das Impfangebot noch im Sommer wahrzunehmen, um die notwendigen Impfquoten möglichst bald zu erreichen.

These von der Erreichbarkeit des Ziels

Die These von der Erreichbarkeit ergibt sich daraus, dass nach einer Erhebung im Zeitraum vom 7.5. bis 9.6.21 bereits

  • 19,3 Prozent der 18- bis 59-Jährigen und 42,5 Prozent der Älteren vollgeimpft waren und
  • in beiden Altersgruppen 66,9 Prozent der Befragten angaben, sich "auf jeden Fall impfen" oder "eher impfen" lassen zu wollen.
  • Daraus errechnet das RKI dann eine Impfakzeptanz von 83,9 bzw. 92,8 Prozent (S. 9).

Inzwischen sind

  • 36,6 Prozent der Jüngeren (18 bis 59 Jahre) und 65,1 Prozent der Älteren vollgeimpft (Impfquotenmonitoring [Datei v. 5.7.], Tabelle 2 [Zeile 21, Spalte L & M])
  • Das entspricht überschlägig einer Verdoppelung bei den Jüngeren und ein Anstieg um 50 Prozent bei den Älteren.

Würde sich dies linear fortsetzen, so wäre das vom RKI genannte Impfziel in der Tat locker zu erreichen: Bei den Älteren würde ein weiterer Anstieg um 50 Prozent genügen. Bei den Jüngeren würde – oberflächlich betrachtet – etwas mehr als eine weitere Verdoppelung genügen.

Allerdings bezieht sich das RKI mit seinem Impfziel auf die 12- bis 59-Jährigen; die beiden anderen Werte beziehen sich dagegen auf die 18- bis 59-Jährigen. Von den unter 18-Jährigen sind bisher aber erst 1,2 Prozent vollständig geimpft (ebd., Spalte K).

Von denjenigen, die 60 Jahre oder älter sind, wurden bisher 82,9 Prozent mindestens einmal geimpft (ebd., Spalte I). Im Falle dieser Leute kann wohl vermutet werden, dass sie sich, soweit erforderlich, weitgehend auch ihre zweite Dosis abholen ("Von denjenigen, die bereits einmal […] gegen COVID-19 geimpft sind, gaben 98,3 Prozent an, sich auf jeden Fall die zweite Impfstoffdosis verabreichen lassen zu wollen." [S. 10]).

Wie viele neue Impflinge in dieser Altersgruppe noch hinzukommen, scheint mir dagegen weniger gewiss zu sein. (Mindestens weitere sieben Prozent dieser Altersgruppe werden vom RKI als erstrebenswert angesehen.)

Von den 18- bis 59-Jährigen sind bisher 55 Prozent, von den unter 18-Jährigen 3,5 Prozent mindestens einmal geimpft (ebd., Spalte H & G.)

Tatsächlich hat sich allerdings die Zahl der im Tagesdurchschnitt durchgeführten Impfungen seit Ende ersten Juni-Drittels etwas vermindert (Impfdashboard [Datei v. 6.7.], Spalte C und eigene Berechnung des Sieben-Tage-Mittelwertes).

These von der Notwendigkeit der Zielsetzung

Die These von der "Notwendigkeit" der Erreichung dieses Ziels ergibt sich daraus, dass:

  • mit einer Vollimpfungs-Quote von nur 75 Prozent unter den Zwölf- bis 59-Jährigen für den – für Anfang Januar 2022 erwarteten – Höhepunkt der vierten Welle mit einem Höchststand von über 2.000 Covid-19-Intensivpatient:innen zu rechnen ist;
  • Das wären deutlich weniger als auf den Höhepunkten der zweiten und dritten Welle, aber nur etwas weniger als dem Höhepunkt der ersten Welle.

Würde dagegen in der genannten Altersgruppe nur eine Vollimpfungsquote von 65 Prozent erreicht, so würde sich in der vierten Welle ein Höchststand von Covid-19-Intensivpatient:innen ergeben, der die Höchststände der bisherigen Wellen übersteigt (s. zu beiden Szenarien die Abbildung auf S. 8).

Mit einer Vollimpfungsquote von 85 Prozent unter den Zwölf- bis 59-Jährigen sähe es dagegen deutlich besser aus.

Dies gilt allerdings nur unter der Annahme, dass zusätzlich zur Impfquote noch zwei weitere Faktoren (Basishygienemaßnahmen; Kontaktreduktion bei steigender ITS-Auslastung) hinzukommen. Speziell zu den Impfquoten "85 Prozent der Zwölf- bis 59-Jährigen bzw. 90 Prozent der ≥ 60-Jährigen" schreibt das RKI (S. 3):

Unter Annahme dieser Impfquoten und in Kombination mit Basishygienemaßnahmen und einer geringfügigen Reduktion des Kontaktverhaltens [bei herbstlichem Wiederanstieg der Intensivstationen-Belegung] sollte es im Herbst/Winter nicht mehr zu einem starken Anstieg der COVID-19-bedingten Intensivbettenbelegung kommen.

Wie sich Inzidenzen und der Bestand an Covid-19-Intensivpatient:innen verändern würde, wenn zwar die Ziel-Impfquoten erreicht, aber Basishygienemaßnahmen im geringen Maße eingehalten und Kontaktreduktionen nur im geringeren Ausmaß erfolgen, ist in Abbildung 3 auf Seite 9 anhand der hellsten blauen Kurve zu sehen (rote Markierungen hinzugefügt).

Von der Dynamik der Entwicklung teilweise bereits überholt

Erscheint auch die Impfquoten-Prognose einigermaßen realistisch, scheinen andere Annahmen des Papiers schon bei Veröffentlichung überholt zu sein:

Hinsichtlich der sozialen Kontakte macht das RKI-Papier folgende Annahmen (S. 6):

Hinsichtlich der Kontakte wird vor dem 15.03.21 aus der Modellkalibrierung (d. h. der Anpassung des Modells an die tatsächlichen Melde- und Todesfälle) von 3,9 Kontakten pro Person und Tag ausgegangen. Anschließend wird von einer zweistufigen Zunahme der Anzahl der Kontakte ab dem 15.03.21 um 1 Kontakt und ab dem 01.08.21 um weitere 6,5 Kontakte ausgegangen. Ab dem 01.08.21 werden im Modell also 11,4 Kontakte pro Person und Tag angenommen. 15,5 Kontakte pro Person und Tag entsprächen laut den Daten der POLYMOD-Studie einem präpandemischen Niveau.

  • Den in FN 18 als Quelle für die POLYMOD-Studie genannten Aufsatz gibt es bei PLOS Medicine
  • Darin heißt es: "Ein Kontakt wurde definiert als entweder Haut-zu-Haut-Kontakt, wie z. B. ein Kuss oder ein Händedruck (ein physischer Kontakt), oder ein Gespräch mit drei oder mehr Worten in der physischen Gegenwart einer anderen Person, aber ohne Haut-zu-Haut-Kontakt (nicht-physischer Kontakt)."
  • Die Zahl von "15,5 Kontakte pro Person und Tag" konnte ich dort allerdings nicht finden. Vielmehr heißt es dort: "Insgesamt wurden 97.904 Kontakte mit verschiedenen Personen aufgezeichnet (Mittelwert = 13,4 pro Teilnehmer und Tag). Im Durchschnitt berichteten deutsche Teilnehmer die wenigsten täglichen Kontakte (Mittelwert = 7,95 [...] und Italiener die höchste Anzahl (Mittelwert = 19,77)." Dieser Abweichung (15,5 vs. 13,4) bin ich nicht weiter nachgegangen.
  • Wenig realistisch erscheint mir allerdings die Annahme, dass die "Anzahl der Kontakte ab dem 15.03.21" lediglich um einen Kontakt pro Tag zugenommen haben soll. Falls dagegen 6,5 zusätzlichen Kontakte ab 1. August (das kann ich nicht beurteilen) eine Überschätzung darstellt, würde sich Unter- und Überschätzung unter dem Strich (teilweise) ausgleichen.
  • Wie schon zitiert, nimmt das RKI ab 1. August "11,4 Kontakte pro Person und Tag" an. Ob das – verglichen mit 15,5 oder 13,4 in Vor-Corona-Zeiten – realistisch ist, bleibt schwer zu beurteilen.

Zum Einfluss der Delta-Variante

Zur Varianten-Verteilung nimmt das RKI folgendes an (S. 6):

Für die Delta-Variante wird angenommen, dass diese sich zwischen dem 15.06. und dem 30.09.21 in Deutschland ausbreitet und bis Ende September zur dominanten Variante mit einem Anteil von 100 Prozent wird.

Das dürfte – nach den in der vergangenen und dieser Woche veröffentlichten Zahlen, die in dem Papier, das insgesamt auf dem Erkenntnisstand von Mitte Juni zu sein scheint, noch nicht berücksichtigt sind – den 100 Prozent-Zeitpunkt deutlich zu spät ansetzen und daher zu optimistisch sein:

Nach dem Datenstand von vergangener Woche entwickelte sich der Delta-Anteil unter den "zufällig für die Sequenzierung ausgewählten Proben" in den letzten vier Wochen wie folgt:

  • KW 21 - 3,6; KW 22 - 7,9; KW 23 - 17,0 und KW 24 - 36,7 Prozent (VoC-Bericht v. 30.6., S. 9).
  • Das heißt: Es waren auf dem Stand von KW 24 weniger als zwei weitere Verdoppelungen nötig, damit die Delta-Variante einen 100-Prozent-Anteil hat.
  • Inzwischen haben wir aber bereits KW 27; sind also drei Wochen weiter. Da die Sequenzierung Zeit benötigt, hängen die veröffentlichten Zahlen der tatsächlichen Entwicklung zwangsläufig hinter.

Nach dem aktuellen Datenstand ergibt sich für KW 25 ein Delta-Anteil von 59,4 Prozent; die Anteile für die Vorwochen haben sich leicht verschoben (VoC-Bericht v. 7.7., S. 9). Dies dürfte bedeuten, dass in der laufenden Woche fast nur noch Delta-Fälle gibt.

Dies hat auch Folgen für die Datierung des Tiefpunkts zwischen der dritten und vierten Welle: Nach Augenschein – Grafiken auf S. 7 unten / S. 8 oben – zu urteilen, datiert das RKI-Papier diesen Tiefpunkt sowohl in Bezug auf die Inzidenz als auch in Bezug auf den Bestand an Covid-19-Intensivpatient:innen ungefähr auf Ende August/Anfang September.

Aktuell deutet aber einiges darauf hin, dass dieser Tiefpunkt in Bezug auf die Inzidenz bereits vor einigen Tagen erreicht war (RKI-Datei Fallzahlen_Kum_Tab.xlsx v. 7.7., Tabelle 4; siehe die letzten mit Daten belegten Spalten) und in Bezug auf den C-19-Intensivpatient:innen-Bestand in Kürze erreicht werden wird.

Das RKI selbst schreibt zu den "Limitationen" des Papiers (S. 10):

Es ist nicht sicher vorhersehbar, ab wann die Delta-Variante in Deutschland den Anteil der zirkulierenden SARS-CoV-2-Viren vollständig dominieren wird und ob weitere Virusvarianten (gegen die die Impfstoffe ggf. auch weniger gut wirken) zum Tragen kommen. Unklar ist darüber hinaus aktuell auch, welche Schutzdauer die verfügbaren Impfstoffe haben und ob ggf. bereits zum Ende des Jahres die Immunität bei einem Teil der Bevölkerung nachlässt und eine Auffrischimpfung notwendig machen wird.

Auch hinsichtlich der (geringeren) Schutzwirkung der Impfstoffe in Bezug auf die Delta-Variante ist das Papier noch nicht auf dem neusten Stand (S. 4):

Mittlerweile liegen mehr als 15 Studien vor, in denen nach vollständiger Impfserie die Effektivität der COVID-19-Impfung bzgl. Schutz vor jeglicher Infektion wie auch vor asymptomatischen Infektionen im Beobachtungszeitraum üblicherweise zwischen 80 und 90 Prozent lag. […]. Die in der o. g. systematischen Übersichtsarbeit identifizierten Studien berücksichtigten jedoch vor allem die Alpha-Variante; für die Delta-Variante stehen bislang nur eingeschränkt Daten zur Verfügung.

Im Februar hatte das israelische Gesundheitsministerium sogar mitgeteilt, "der Impfstoff von Pfizer/Biontech verhindere eine Corona-Erkrankung zu 95,8 Prozent". "Seit dem 6. Juni sei die Wirksamkeit der Impfung bei der Verhinderung einer Infektion in Israel auf 64 Prozent gesunken.

Dies sei auch bei der Verhinderung einer Erkrankung mit Symptomen der Fall." Allein in Bezug auf schwere Verläufe besteht auch gegenüber der Delta-Variante weiterhin eine hohe Wirksamkeit, denn "die Impfung (wehre) zu 93 Prozent eine schwere Erkrankung und Krankenhausaufenthalte ab." (FAZ vom 6.7.21)

Außerdem heißt es in dem RKI-Papier zu den Zwölf- bis unter 18-Jährigen (S. 11):

Bei zunehmender Impfstoffverfügbarkeit, mehr Daten und Erfahrungen zur Jugendlichen-Impfung insb. aus den USA und anderen Ländern mit allgemeiner Jugendlichen-Impfempfehlung sowie bei Zunahme der Infektionszahlen unter Kindern aufgrund einer erhöhten Übertragbarkeit der Delta-Variante wird die STIKO das Thema der Jugendlichen-Impfung voraussichtlich nochmals beraten bzw. wird die Impfung auch ohne explizite STIKO-Empfehlung in dieser Altersgruppe vermutlich mehr zur Anwendung kommen. Daher wurden in der hier vorliegenden Modellierung Impfungen in allen Altersgruppen, für die gegenwärtig ein Impfstoff zugelassen ist, angenommen. Alternativ müsste die Impfquote bei den 18- bis 59-Jährigen weiter gesteigert werden, wobei sich niedrige Impfquoten unter Kindern und Jugendlichen aufgrund der üblicherweise milden Krankheitsverläufe in dieser Altersgruppe insbesondere auf die Meldeinzidenz und weniger auf die ITS-Belegung auswirken.

RKI-Resümee und Kritik

Das RKI resümiert wie folgt (S. 11):

Je niedriger im Herbst die erreichten Impfquoten sind, desto weniger sind bei Dominanz der Delta-Variante die Basishygienemaßnahmen ausreichend und weitere kontaktreduzierende Maßnahmen wären notwendig.

Allerdings gilt auch umgekehrt: Je stärker bereits im Sommer die sozialen Kontakte reduziert werden und je geringer daher die Ausgangsinzidenz bei Herbstbeginn ist, desto eher könnten auch geringere Impfquoten oder Komplikationen mit weiteren Virusvarianten verkraftet werden.

Zu kritisieren ist auch an diesem Papier wieder - wie generell an der staatlichen Politik - der implizite Fokus allein auf die Verhinderung bloß eines (sehr) "starken Anstieg[s] der Covid-19-bedingten Intensivbettenbelegung" (S. 3).

Statt die Intensivkapazitäten – einschließlich Verschiebung von aufschiebbaren Operationen – auf den Höhepunkten der Wellen bis zum letzten auszureizen, sollte die Infektionsschutzpolitik sich mindestens als Ziel setzen, die Infektionszahlen so niedrig zu halten, dass die Intensivstationen auch ohne Verschiebung von Operationen nicht überlastet werden.

Darüber hinaus sollte darauf orientiert werden, dass die Auslastung der Intensivstationen – auch mit Covid-19-Patient:innen und ohne OP-Verschiebungen – bloß innerhalb der Bandbreite der letzten Jahre schwankt. Denn auch für diejenigen, die auf den Intensivstationen gerettet werden, ist ein solcher Aufenthalt kein Zuckerschlecken.

Statt eine solche Politik zu verfolgen, tut der "deutsche Staat (…) gerade soviel für den Infektionsschutz, wie nötig ist, um die unschönen Bilder überlasteter Intensivstationen zu vermeiden", so bereits meine – dort weiter ausgeführte – These vom 3. Dezember 2020 bei scharf-links.

Der Fehler der staatlichen Strategie liegt dabei – nach den Worten von Virologin Melanie Brinkmann – im Folgenden (FAZ vom 6.7.21):

Wenn man [...] auf die Auslastung der Intensivbetten wartet, ist es immer schon zu spät bei dieser dynamischen Infektionskrankheit und man braucht schrecklich lange, um von diesen hohen Zahlen wieder runterzukommen.

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