Impfpflicht: Placebo gegen Pandemie

Die Kritik aus Bayern an der berufsbezogenen Impfpflicht sorgt für Aufregung. Mehr Ehrlichkeit und weniger Moral würde der Debatte gut tun. Ein Kommentar

Die inzwischen etablierte Shitstorm-Politik hat in der Coronapandemie mit medialer Unterstützung ein neues Ziel gefunden: den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU). Weil dessen Landesregierung eine vom Bund angekündigte Impfpflicht für Einrichtungen der Gesundheitsversorgung und Pflege Mitte März nicht mehr umsetzen will, hagelt es allerseits Kritik.

"Ein politisches Armutszeugnis" stellte tagesschau.de dem Christsozialen aus und schrieb von einem "verheerenden" bis "fatalen" Signal. Die Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Claudia Moll, sah ein "Desaster", ihre SPD-Genossin und Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, nannte den Vorstoß aus München "verantwortungslos" und eine "rücksichtslose parteipolitische Taktik".

All diese empörten, fast wütenden Reaktionen haben eines gemein: Sie sind emotional, moralinsauer und weitgehend abgekoppelt von der Realität. In der wahren Welt außerhalb des politischen Elfenbeinturms würde eine gesetzliche Pflicht der sinnvollen und unterstützenswerten Impfkampagne wohl nur wenig helfen, stattdessen aber die Probleme auf verschiedenen Ebenen verschärfen.

Die Ampel-Koalition versucht von dem andauernden Unvermögen abzulenken, das die Pandemiepolitik von der Großen Koalition bis hin zum Ampel-Bündnis auf Bundesebene prägt.

Tatsächlich sind die Gesundheitsämter nach zwei Jahren Pandemie vielerorts heillos überlastet, die Mitarbeiter ausgebrannt. Zahlreiche Bürgerinnen und Bürger konnten das angesichts der massiv steigenden Infektionszahlen durch die zwar ansteckendere, aber weniger aggressiv wirkende Omikron-Mutante des Sars-CoV-2 zuletzt erleben: Allenthalben erreichten die Menschen förmlich zugestellte Quarantäne-Bescheide erst, als die Empfänger schon längst wieder an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt sind und die Kinder wieder in Kitas und Schulen gehen.

Dieselben Verwaltungsinstanzen, die täglich mit dem Versand unzähliger sinnfreier, weil überholter Bescheide befasst sind – und damit belegen, in welchem Maße der Staat am Ende des zweiten Krisenjahres überfordert ist –; dieselben Ämter also sollen zusätzlich noch eine partielle oder womöglich gar allgemeine Impfpflicht umsetzen.

Eine andere Pandemiepolitik ist möglich

Fakt ist, dass SPD, Grüne und FDP an einem Placebo-Gesetz feilen, weil sie scheinbar nicht anders können: Denn eine Abkehr von der verzweifelten Hoffnung, Impfstoffe – welche auch immer und wie oft auch immer verabreicht – würden die Pandemie zu kontrollieren oder gar überwinden helfen, wäre ein mehr als unbequemer Bruch mit den bisherigen Dogmen.

Im politischen Berlin aber hat sich eine Stimmung verfestigt, in der eine solche Neuausrichtung der Pandemiepolitik als Zugeständnis an die neuen Schmuddelkinder der Republik gewertet würde: "Schwurbler", "Querdenker" – womöglich sogar Rechte!

Nichts könnte der realen Lage ferner liegen: Eine Abkehr von der unbedingten Fokussierung auf die Impfpflicht würde den Weg zu einem flexiblen Krisenmanagement mit einer mehrsäuligen Strategie zur Eindämmung der Infektion ebnen und wäre mithin ein Fortschritt.

So aber trifft ein starrsinnig anmutender Politikbetrieb auf einen äußerst veränderungsfreudigen Krankheitserreger. Ein Glück, so gesehen, dass wir zwei Jahre nach Ausbruch der Seuche nicht schlechter dastehen.

Wenn Söder und seine Mitstreiter nun als Saboteure eines vermeintlich effektiven und alternativlosen Krisenmanagements dargestellt werden, dann sagt das mehr über die Sender als über die Adressaten dieser Kritik aus. Die Autoren und Verfechter einer gesetzlichen Impfpflicht nämlich ignorieren beharrlich alle Warnungen aus Städten und Kommunen.

Der Berliner Amtsarzt Patrick Larscheid sprach gegenüber dem Focus angesichts der aktuellen Probleme und der unklaren Umsetzung einer partiellen Impfpflicht von einer "absolut unerträglichen Situation". Ein Amtsmitarbeiter aus Süddeutschland habe die Pläne des Bundes "Wahnsinn hoch drei" genannt, so das Magazin.

Darauf hatte auch Bayerns Gesundheits- und Pflegeminister Klaus Holetschek (CSU) hingewiesen, als er argumentierte, man wolle kurzfristig angeordnete Betretungs- oder Tätigkeitsverbote ungeimpfter Beschäftigter in medizinischen Einrichtungen und Pflegeeinrichtungen vermeiden.