Impfpflicht im Kontext unserer Gesundheitskultur

Seite 2: Angewandte Sozialwissenschaften

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Einmal ein aktuelles Beispiel aus meiner Zeitgeschichte, wie das funktioniert: Vor einigen Jahren wurden im öffentlichen Personenverkehr in den Niederlanden landesweit elektronische Chipkarten eingeführt. Man kauft heute keine übliche Fahrkarte mehr, sondern checkt mit seiner eigenen Chipkarte ein, löst einen Einmalchip an einem Automaten (i.d.R. nur mit EC- oder Kreditkarte möglich) oder lädt sich einen QR-Code auf das Handy, für den man per Online-Banking bezahlt. Damit ist erst einmal ein System geschaffen worden, mit dem anonymes Fahren wesentlich schwerer geworden ist.

Nach Einführung dieser elektronischen Infrastruktur änderten sich die Eingänge der Bahnhöfe: Erst wurden Säulen zum Ein- und Auschecken gebaut. Im nächsten Schritt Durchgangsportale aus Stahl (an manchen Bahnhöfen fast 2m hoch), deren Türen aber noch geöffnet blieben.

Als es dann einmal einen besonders gewaltsamen Übergriff von einem Schwarzfahrer auf einen Schaffner gab, schloss man schließlich die Türen: "Jetzt machen wir Ernst im Interesse der Sicherheit!" Gleichzeitig verbreitete man Informationen über Umfragen, wonach sich die Reisegäste durch die Maßnahme sicherer fühlen würden. Verschiedene Medien publizierten diese kritiklos.

So wurde über verschiedene Zwischenschritte ein weitgehend anonymer und freier öffentlicher Personenverkehr in ein System überführt, in dem so gut wie jeder Schritt überwacht werden kann und Computer anhand von digitalen Signaturen entscheiden, wer ein Bahnhofsgebäude betritt oder verlässt. (Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass es Rufsäulen und Notknöpfe für Störungen gibt.) Die Anzahl der Gewalttaten scheint übrigens im öffentlichen Personenverkehr trotzdem leicht zugenommen zu haben.

Dieses Beispiel hat freilich erst einmal wenig mit der Impfpflicht zu tun, sondern ist vielmehr als Exkurs darüber gedacht, wie die "schiefe Ebene" psychologisch funktioniert. Kritiker werfen den Sozialwissenschaften und der Psychologie gelegentlich vor, irrelevant für die Praxis zu sein. Dieses Beispiel - ebenso wie Werbung oder der Aufbau eines Supermarkts - exemplifizieren aber angewandte Sozialwissenschaften zum Erzielen eines bestimmten Verhaltenseffekts.

Wenn es in einer zukünftigen Gesetzesinitiative wieder einmal um Einschränkung individueller Rechte für das Wohl der Allgemeinheit geht, dann werden manche vielleicht argumentieren: Beim Masernschutz machen wir das ja auch schon so. So funktioniert die schiefe Ebene beziehungsweise der Dammbruch in der argumentatorischen Praxis.

Als Zwischenergebnis sei zu dem genannten Gesetzesentwurf festgehalten, dass der tatsächliche Nutzen doch etwas fraglich und der freiheitsrechtliche Preis nicht ganz unproblematisch zu sein scheint. Im letzten Abschnitt will ich darauf hinaus, dass die Impfpflicht wahrscheinlich auch negative soziale Auswirkungen haben wird.

Diskurs der Ausgrenzung

Es heißt, vor allem "esoterische" Eltern würden gegen Impfungen sein. In den Medien scheint die Rede von den Impfverweigerungen (etwa der Apotheker Zeitung, dem Focus oder der Welt) etabliert. Als erster Google-Treffer erscheint bei mir sogar die Überschrift "Impfverweigerer sind asozial" einer Regionalzeitung. Dann ist ja alles klar.

Mit solchen Begriffen erzeugt man Distanz: Die Anderen sind dumm, unaufgeklärt oder gar asozial. Über die Gründe für die Impfskepsis, um einmal einen neutraleren Begriff zu bemühen, wird so nicht reflektiert. Da scheinen Kontrollen und Strafen die angemessenen, wenn nicht gar einzigen Reaktionen zu sein. Denn mit Asozialen oder Dummen lohnt die Verständigung eh nicht, oder?

Es ist aber ein allgemeiner Trend in der Gesellschaft, dass mehr Menschen allgemeinen Informationen etwa über Gesundheits-, Klima- oder Wirtschaftsthemen nicht mehr trauen. Das Abstempeln der Anderen als doof oder asozial hat meines Wissens noch zu keiner Lösung dieses Problems geführt. Im Gegenteil.

In Deutschland sieht man gerade in allen Parlamenten, dass in einer Demokratie der Ausschluss anderer Meinungen aus der Diskussion nicht funktioniert. Je mehr sich die Mainstream-Parteien und Medien darum bemühten, die AfD zu ignorieren oder als Nazipartei darzustellen, desto mehr Wählerstimmen bekam die Partei, deren Fraktion übrigens geschlossen gegen das Masernschutzgesetz gestimmt hat.

Bleiben wir aber bei diesem Gesundheitsthema, ohne zu weit abzuschweifen: Da ist meine Vermutung, dass wir immer weniger Menschen mit wichtigen Informationen erreichen. Und indem wir diese Menschen ignorieren oder ausgrenzen, verstärken wir schlicht das Problem. Kontrolle und Strafen gießen dann meiner Ansicht nach weiteres Öl ins Feuer.