In Serbien wird es dunkel

Die NATO schont die Zivilisten und zerstört die Infrastruktur

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Die NATO tötet keine Zivilisten, zumindest versucht sie, dies nicht zu tun. Das sollten wir ihr zugestehen. Und sie haben nicht die Absicht, die Serben aus Serbien zu vertreiben. Doch die Auswirkung des Versuchs, keine Zivilisten zu töten, während man sie schrittweise allem beraubt, was man zum Überleben benötigt, kann letztendlich zum selben Ergebnis führen.

Die NATO-Angriffe sind in dem Aspekt einzigartig, daß sie versprechen, den Feind nicht zu töten. Die serbische Reaktion ist elementar: Wir würden es eher ertragen, daß ihr uns tötet, als daß wir uns unterwerfen müssen. Milosevich benutzt die bislang im Verhältnis zu den eingesetzten Bomben geringe Zahl an menschlichen Opfern in Kombination mit der übertriebenen Anzahl der von der serbischen Artillerie abgeschossenen amerikanischen Flugzeugen (bei meiner letzten Zählung waren es 48), um sich selbst als den Gewinner des Kriegs darzustellen. Überdies siegte er im amerikanischen Medienspiel: CNN und andere Medien können nur sehen, was er sie sehen lassen will. Daher sahen wir niemals all die Luftabwehrstützpunkte, von denen die NATO behauptet, sie habe sie zerstört, aber wir sehen ausgiebig Bilder der von Tomahawks verstümmelten Zivilisten. Sie erinnern auf seltsame Weise an die Bilder vom Markt von Sarajewo. Ich schätze, daß Sprengkörper unabhängig von der Gesellschaftsform, in der sie hergestellt wurden, immer dieselbe Wirkung haben.

Der jüngste Schlag, den die NATO dem "kriegslüsternen Tyrannen" versetzte, zielt darauf, Serbien ins dunkle Mittelalter zurückzuwerfen oder, wie es jemand in der New York Times formuliert hat: "... ihr wollt 1389? Wir können das machen ..." Mit "weichen" Bomben oder "Graphitbomben", die über dem Ziel explodieren und einen Film aus Graphitstaub über es ausbreiten, erzeugte die NATO Kurzschlüsse in der serbischen Stromversorgung - zwei Drittel des Landes haben noch immer keine Elektrizität. Soweit ich weiß, wurden dabei keine Zivilisten getötet.

Die Hoffnung besteht darin, daß dies ein Signal für die serbischen Menschen ist, daß sie ganz offensichtlich nicht den Krieg gewinnen werden, weil sie keinen Strom haben. Kein Strom bedeutet auch kein Fernsehen. Kein Strom bedeutet, daß die Kriminalität in den Straßen steigt (man stelle sich nur einmal New York vier Tage lang ohne Strom vor). Die Opfer würden wahrscheinlich Menschen sein, die keine Verbindung mit dem Regime von Milosevich haben oder in Opposition zu ihm stehen. Seine Gang besitzt die meisten Waffen, daher würde sie niemand angreifen. Überdies wurde das Signal von vielen Serben als reiner Terror verstanden. Und für viele Amerikaner wurde es schwierig, nicht ein wenig der traditionellen Sympathie mit dem Underdog zu empfinden.

Das Problem ist, daß man den Menschen, wenn man ihnen die Zivilisationsstandards wegnimmt, auch die Zivilisation selbst, ihre Gesetze und ihre Prinzipien wegnimmt. Im Fall von Serbien haben wir es, das räume ich ein, mit einem verbrecherischen Regime zu tun. Wenn Serbien ein amerikanisches Unternehmen wäre, würde Milosevich verhaftet und vor ein Gericht gestellt werden. Wenn wir also in einer Stadt die Elektrizität abschalten, dann verändern wir auch die soziale Ordnung dieser Stadt: bei Stromausfällen ergreift der bestialischere Teil von uns Besitz.

Der Angriff mit den Graphitbomben wurde ausgeführt, nachdem Jesse Jackson die Freilassung der drei amerikanischen Soldaten erreichte. Ich nehme an, die NATO wollte, daß die Jungs nicht ohne ElektrizitätAHand dasitzen. Macht ist arrogant. Macht muß keine Dankbarkeit zeigen. Die Serben verhielten sich genauso, als sie mit ihrer schweren Artillerie das hilflose Sarajewo unter Beschuß nahmen. Geht es bei diesem Krieg also um Rache, weil das Kosovo von den Serben gesäubert und von der NATO zerstört wird?

Mein Bruder in Zagreb sagt, daß "die Belgrader jetzt erleben, was wir erlebt haben ...". Dabei denkt er an die kurze Zeit, als sich Zagreb in der Reichweite der Raketen der jugoslawischen Armee befand. Daher gingen in Zagreb die Sirenen los und mein Bruder mußte ohne Grund fünf Stockwerke bis in den Keller hinunterrennen -und dann wieder hinaufgehen, weil es keinen Aufzug gab.

Milosevich hat im Allgemeinen keine Freunde. Alle Nachbarn Serbiens helfen der NATO bereitwillig bei der Zerstörung der gesamten Infrastruktur Serbiens. Da er alles zu seinen Gunsten benutzt, setzt er diese Tatsache ein, um bei den Serben eine Bunkermentalität aufzubauen. In diesem Bunker das Licht auszuschalten, könnte für alle nicht die beste Hilfe sein.

Aus dem Englischen übersetzt von Florian Rötzer