In der Krise liegt die Kraft
Warum Plattenfirmenangestellte jetzt schon vor dem Aufstehen koksen und Konzertveranstalter sich zu Recht über die Meckereien der Plattenfirmen ärgern
Es ist wirklich ekelig: Alle sind am Meckern. Plattenfirmenangestellte koksen jetzt schon vor dem Aufstehen, weil die Angst vorm Jobverlust so mächtig ist. Musikjournalisten verscheuern Promo-CDs auf Ebay, weil die Aufträge immer rarer werden. Musiker verachten ihre Fans, weil die alle keine CDs mehr kaufen sondern (Legen Sie jetzt bitte Hass in ihre Stimme.) downloaden. Es ist alles ganz furchtbar. Die Umsätze sinken, die Anzeigen bleiben aus, das Abendland geht unter - die Musikindustrie steckt in einer dicken, fetten Krise. Die Soße steht ihr bis zum Mittelohr. Und alle sind am Meckern - alle, bis auf einen kleinen Haufen permanent telefonierender Organisationsorakel. Das sind die Konzertveranstalter.
Die Konzertveranstalter sagen, es sei alles gar nicht so schlimm. Es sei alles sogar recht gut, nein, eigentlich total famos. Die Umsätze der Konzertveranstalter steigen nämlich seit 1999 ständig, weil sich Musikfans von horrenden Eintrittspreisen nicht schrecken lassen und weiterhin artig in die strömen. Zum Glück kann man Konzerterlebnisse nicht downloaden. "Also alles im Lot bei den Jungs an der Live-Front", denkt der am Wohl der Allgemeinheit interessierte Bürger beruhigt - da fangen die Konzertveranstalter jetzt auch noch an zu meckern. Sie meckern über die Meckerer. Weil nämlich einige Plattenfirmen-Bosse seit drei Jahren auf teilweise unwürdigste Art und Weise die große, böse Krise der Musikindustrie beweinen, sehe es so aus, als verscheuere die Veranstalterbranche auch schon das gute alte Silberbesteck.
Macht sie aber nicht, weil der Laden läuft. Vielmehr hat sie keinen Bock mehr, "fortwährend in den negativen Trend der Tonträgerindustrie einbezogen zu werden", wie der Präsident des Bundesverbands der Veranstaltungswirtschaft (IDKV), Jens Michov, jüngst in einer Pressemitteilung klar stellte. Es ist nämlich ungenau, wenn es wie oben heißt, der "Musikindustrie" gehe es schlecht. Denn die Musikindustrie besteht aus drei wesentlichen Elementen: den Tonträgerhändlern (Plattenfirmen und Vertrieb), den Medien (Musikzeitschriften, Radiosender und Clip-Kanäle) und den Konzertveranstaltern. Dreckig geht's vor allem den Händlern, nicht aber den Veranstaltern. Allein im Jahr 2002 sank der Umsatz des deutschen Tonträgermarktes um knackige 11,3 Prozent auf 1,97 Milliarden Euro.
Die Konzertveranstalter machten dagegen allein 1999 einen Umsatz von 2,7 Milliarden Euro; Tendenz steigt stetig. Der Umsatz der Plattenfirmen betrage außerdem noch nicht mal ein Zehntel von dem der Veranstalter, erklärt Präsident Michov. Wie er zu diesem Ergebnis kommt, ist uns zwar rein rechnerisch nicht ganz klar, aber fest steht: Finanziell gesehen sind die Konzertmacher weit gewichtiger als die Kollegen von der Konserven-Front. Verständlich also, dass sie sich verleumdet fühlen, wenn nach dem Wort "Musikindustrie" ständig das Wort "Krise" fällt. Die Probleme der Plattenindustrie seien "hausgemacht", schiebt Michov noch dolchstoßartig hinterher - und hat natürlich Recht. Wer seit Jahren auf der Jagd nach dem schnellen Geld nur noch schnelllebige, seelenlose Plastikprodukte mit Plattenverträgen versorgt, braucht sich nicht zu wundern, wenn die Kunden keinen Respekt mehr vor der Kunst haben. Ein Grund zum Meckern ist das nicht. Denn in der Krise liegt die Kraft.
Die Musikindustrie (die Konzertveranstalter jetzt mal ausgeschlossen) ist ein riesengroßer Luftballon, der so prall gefüllt ist, dass es nur noch zwei Möglichkeiten gibt: Luft raus lassen oder platzen, umdenken oder abdanken. Ein einfaches Beispiel: Majorlabels wie Universal und EMI feuern Mitarbeiter im Wochentakt, weil ihr Riesenapparat viel zu viel Kohle verbrennt, um funktionieren zu können. Kleinere Plattenfirmen wie die Berliner Pop-Hipster von Kitty-Yo, die Kölner Minimal-Elektroniker von Kompakt oder die Hamburger Befindlichkeits-Rocker vom Grand Hotel Van Cleef erleben gerade goldene Zeiten, weil sie mit kleineren Mannschaften flexibler sind und mit innovativen Musiken den Majors die Kunden klauen.
Die Übersättigung mit Kurzlebigem schafft Aufmerksamkeit für Längerwährendes. Und noch der ignoranteste Plattenfirmen-Mogul hat mittlerweile erkannt, dass man echte und gute Künstler aufbauen und unterstützen muss, um die Zielgruppe wieder für Musik zu interessieren. Ohne Substanz wird auch der größte Superstar zum Rohrkrepierer. Und Superstars sucht die Musikwelt derzeit mit allen Mitteln. Klappt aber noch nicht. Bisher sind die meisten rohrkrepiert.