Indien: David schlägt Goliath
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Ein beinahe unbemerkter Sieg gegen Goliaths Wachstumswahn, der jedes Jahr mehr Menschen im Land umbringt als das Virus weltweit. Auch die Folgen der Gegenmaßnahmen könnten verheerender werden als Covid-19
Gestern hat sich Premierminister Modi in einer Ansprache an die Bevölkerung gewendet: Seit Mitternacht sind alle Menschen des Landes aufgefordert, für 21 Tage zu Hause zu bleiben. Das wird internationale Anerkennung bringen. Es könnte aber ein böses Erwachen geben.
An Atemschutzmasken fehlt es in Indien nicht. Laut einer Studie von State of Global Air aus dem Jahr 2019 sterben 1,2 Millionen Inder im Jahr an den Folgen von Luftverschmutzung - andere Studien schreiben von bis zu 2,5 Millionen. Verdrecktes Trinkwasser soll jedes Jahr für 200.000 Todesopfer sorgen.
Dass in Indien neben Luft und Wasser auch die Nahrung vergiftet ist, weil viele Bauern gezwungen sind, das verschmutzte Wasser der Flüsse über ihre Felder zu schwemmen, weiß auch Wilfred d'Costa, der Vorsitzende des Indian Social Action Forum (INSAF), einem Dachverband von 700 NROs in Delhi.
David gegen Goliath
Seit 2013 wirft der indische Staat INSAF vor, die Entwicklung Indiens zu behindern: "Was heißt, dass wir auf die Folgen der katastrophalen Umweltzerstörungen hinweisen", sagt d'Costa Anfang März in seinem kleinen Büro, das auch sein Schlafzimmer ist. 2013 wurde INSAF das erste Mal die Konten gesperrt.
Kurz darauf wurde die soziale Organisation vom High Court freigesprochen, was den Staat nicht davon abhielt, sofort wieder die Konten einzufrieren und INSAF zu verbieten, ausländische Spendengelder anzunehmen.
Im Jahr 2015 ging die Regierung genauso gegen Greenpeace Indien vor. Doch einzig INSAF wagte es, sich mit gerichtlichen Mitteln gegen Goliath zu wehren:
"Letzte Woche hat der Supreme Court unserer Klage Recht gegeben, dass wir ausländische Spendengelder annehmen dürfen. Dazu auch alle anderen Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs) und sozialen Bewegungen, die sich mit Hilfe von Protesten engagieren."
Obwohl Costa weiß, dass der indische Staat sich nun anderes ausdenken wird, um gegen Umwelt und Sozial-Aktivisten vorzugehen, lächelt er gelassen, denn die nächste Runde ist in der Theorie schon entschieden:
Dem Supreme Court ist ein Fehler unterlaufen, denn er hat in seinem aktuellen Urteil alle NROs ausgeklammert, die mit politischen Organisationen zusammenarbeiten. Dabei hat die aktuelle Regierung von Narandra Modi im letzten Jahr ein Gesetz verabschiedet, das selbst politischen Parteien erlaubt, ausländische Spendengelder anzunehmen.
Wilfred d'Costa
Das Interessante an diesem Gesetz: Woher die Spendengelder kommen, ist nicht öffentlich einsehbar, sondern nur für die Regierung. Dazu fand eine Studie von Association for Democratic Reforms (ADR) heraus, dass 94 Prozent der Wahlspenden eh schon an die Regierungspartei BJP gehen.
"In ihrer Wirtschaftspolitik unterscheiden sich Narendra Modis-BJP und die Vorgänger-Regierung des Indian National Congress (INC) nicht groß. Beide setzen sie auf Wirtschaftswachstum, ohne Rücksicht auf Mensch und Natur", sagt d'Costa. Beiden Parteien ist ebenfalls egal, dass 63 indische Milliardäre zusammen ein Vermögen angehäuft haben, das dem indischen Staatshaushalt 2018/19 entspricht.
Worin sich die beiden großen politischen Parteien Indiens unterscheiden, konnte ich Ende Februar im Norden Delhis auf dem Shaheen Bagh beobachten. Dort protestieren seit dem 15. Dezember vorwiegend muslimische Frauen mit einem Sitzstreik gegen ein neues Einbürgerungsgesetz (CAA).
Doch das eigentlich Interessante lag abseits: Obwohl der Protest entfernt von der der G.D Road stattfindet, wurde diese wichtige Hauptverkehrsstraße von der Polizei gesperrt.
Der Hindu-Fanatismus
Die Polizei in Delhi untersteht der Zentralregierung. Mittlerweile ist es kein Geheimnis mehr, dass die Absicht hinter der Straßensperrung war, die Bevölkerung gegen die CAA-Proteste aufzubringen. Ein Blick in die benachbarten Siedlungen, Straßen und Nadelöhre zeigte, dass die Absicht gelang: Alles wurde über zwei Monate vom Stau verschluckt und die überwiegenden Hindus, die dort leben, hatten die Schuldigen ausgemacht: die Muslime.
Keine Woche später, am 23.März, hielt das einflussreiche Mitglied der Regierungspartei Kapil Mishra in Jafarabadder/Nord Delhi eine Hetz-Rede und setzte den Anti-CAA-Demonstranten auch ein Ultimatum - noch während seiner Rede begannen die ersten Jagden auf Muslime. Doch unter den Muslimen hat sich etwas verändert. Viele junge Muslime haben sich durch Bildung von den Alten emanzipiert.
Emanzipation ist keine Einbahnstraße: Als die Angreifer nahten, wollten sie nicht einfach die andere Wange hinhalten und schmissen Steine zurück. Die Polizei Delhis hatte nur darauf gewartet: Videos zeigen, wie sich Polizisten in hinduistische Fanatiker verwandelten und Untersuchungen, wie die Verantwortlichen bewusst wegschauten: 53 Menschen kamen bei den tagelangen Ausschreitungen ums Leben, die meisten Opfer waren Muslime.
Corona-Virus: Chaos vorprogrammiert
Das alles ist im Augenblick in Indien in den Hintergrund gerückt. Was der landesweite Generalstreik der Gewerkschaften am 8. Januar 2020 mangels Beteiligung nicht schaffte, hat nun Corona vollbracht: Indien steht still.
Selbst in Kolkata und Delhi ist die Luft für indische Verhältnisse sauber. Am eindrucksvollsten beschrieb die gegenwärtige Stimmung eine Freundin, die letzte Woche im südindischen Kerala aus ihrem Hotel geschmissen wurde - auf Anweisung der Regierung hatten alle einfachen Hotels zu schließen. Sie bereite sich auf eine 60-Stunden-Fahrt nach Delhi in einem überfüllten Zug vor.
Doch es kam anders: In einem beinahe menschenleeren Zug fuhr sie mehr als zwei Tage durch Bahnhöfe, auf denen mehr streunende Hunde als Menschen zu sehen waren.
Mittlerweile sind auch alle Flüge von und nach Indien ausgesetzt worden, die Metros geschlossen und alle Züge gestrichen.
Die deutsche Botschaft versucht alles Mögliche, die etwa tausend Deutschen in Indien auszufliegen. Doch das wird nicht einfach werden, weil nicht einmal mehr Taxis Ausländer nach Delhi bringen. Im Bundesstaat Himachal Pradesh sollen ausländische Touristen von der Straße direkt ins Krankenhaus abgeführt worden sein - alle sind sie negativ getestet worden.
Dabei irren alleine in Südindien Zehntausende entlassene Arbeiter aus dem Norden des Landes umher: in Indien arbeiten Millionen Menschen mehr als tausend Kilometer entfernt von ihrem Wohnort als Tagelöhner - 90 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ist im informellen Sektor tätig. Was los sein wird, wenn in Indien die Wirtschaft zusammenbricht, ist nur schwer vorstellbar.
Nicht nur wegen der Lebensmittel, sondern auch, woher der größte Teil der Bevölkerung das Geld für ihre Medikamente nehmen soll, die sie für die zahlreichen anderen Krankheiten benötigt. Dazu die aufgehetzte Stimmung zwischen Muslimen und Hindus.
Auch hat die Regierung mit Falschmeldungen ihrer religiösen Organisationen zu kämpfen: Diese bringen in Umlauf, dass Fleisch den Corona-Virus verbreitet.
Sogar BJP-Politiker behaupten dazu, dass das Trinken von Kuh-Urin gegen den Corona-Virus hilft. Ihre Anhänger bekräftigen dies durch sogenannte Kuh-Urin-Trinkpartys. Zumindest die erste Nachricht dementierte die Regierung Tage später.
Schaut man genau in die Gesichter ...
Nun hat Indien im Fall des Sars-CoV-2 einen Vorteil. Die Bevölkerung ist im Schnitt 28 Jahre jung. Doch wer seit Jahren den Teil Indiens durchstreift, in dem knapp die Hälfte der 1,38 Milliarden Einwohner lebt, muss einen großen Nachteil erwähnen: Fast jeder Einwohner zwischen dem Oberlauf des Ganges im Nord-Westen und dem Ausgang des Nebenflusses Hugli im Osten des Landes ist offensichtlich krank.
Wer abendlich durch die illegalen Siedlungen der indischen Großstädte Delhis oder Kolkatas streift, kann dazu Folgendes sehen: Die Alten werden nach draußen geschoben oder getragen, damit sie etwas am Straßenleben teilhaben können. Doch schaut man genau in die Gesichter, wird sichtbar, dass die meisten von ihnen nicht alt sind, sondern erkrankte junge Männer und Frauen.
Am Dienstagabend, den 24. März, waren in Indien 536 Menschen mit dem Corona-Virus infiziert (Überblick von Johns Hopkins). Natürlich wird die Dunkelziffer bei weitem höher liegen, wie bei den meisten anderen Krankheiten in Indien auch. Im Süden des Landes in Kerala ist das Gesundheitssystem bei weitem besser als landesüblich. Auch in der Großstadt Mumbai.
Doch das am dichtesten besiedelte Gebiet Indiens ist nun einmal der Norden des Landes - alleine in den Problem- Bundesstaaten Uttar Pradesh und Bihar leben mehr als 300 Millionen Menschen. Dort ist das Gesundheitssystem schon ohne Corona überlastet und der Apotheker an der Ecke der Facharzt der Armen.
Im Nachbarland Nepal besteht 30 Prozent des Bruttosozialproduktes des Landes aus Geldüberweisungen von Auslands-Nepalesen - wer krank ist und es sich leisten kann, geht in ein Privat-Krankenhaus nach Indien.
Auch in Bangladesch arbeiten mehr als 10 Millionen Menschen im Ausland, und bei Krankheit geht es für viele ebenfalls in ein Privat-Krankenhaus nach Indien. Doch die Grenzen zum großen Nachbarn sind dicht und mit Arbeit sieht es auch im Rest der Welt gerade schlecht aus.