Indien: Der schöne Schein einer Supermacht
Die indische Regierung investiert viele Kräfte in Illusionen - die Auswirkungen für die Masse der Bevölkerung sind schon jetzt katastrophal und werden es auch für den Rest der Erde
Auf dem nordindischen Bahnhof New Jalpaiguri regnet es in Strömen. Am äußersten Ende des Bahnsteiges geraten zwei Obdachlose in einen Streit, weil der eine dem anderen den Zutritt unter das schützende Dach verwehrt.
Beide tragen sie zerlumpte Kleider und mit ihren müden Bewegungen, bei denen sie die Füße kraftlos über den Boden schleifen, haben sie eine Ähnlichkeit mit Zombies. Doch nach einem langen Hin- und Her schlagen sie plötzlich mit Eisenruten aufeinander ein, jeder Schlag reine Wut - voller Energie. Dann kommt ein zweiter Obdachloser angeschlurft und schlägt dem Schutzsuchenden ein Bambusrohr über den Kopf. Reflexartig greift der Getroffene den neuen Angreifer am Hals.
Ein paar Augenblicke später kommt ein halbes Dutzend Zerlumpter angehinkt - Eisenstangen und mit Nägeln gespickte Holzlatten in den Händen, die sie von einer nahen Baustelle haben: Der erste Schlag trifft krachend den Kopf des Einzelkämpfers. Da immer noch niemand eingreift, stehe ich auf, springe dazwischen und schreie: "Bas (Schluss)."
Sofort weichen die Schläger ein paar Schritte zurück und starren mich an. Aus ihren trüben Augen dringt nicht mehr viel Menschliches, außer Instinkt. Instinkt, der ihnen sagt, dass ich wohl einer höheren Kaste angehöre. So reicht ein weiteres "Bas!" aus, um die Situation aufzulösen. Das ist keine Heldentat. In Indien hält die Religion mit Hilfe des hinduistischen Kastensystems die Gesellschaft noch immer halbwegs unter Kontrolle.
So beobachtete ein übergewichtiges Ehepaar die Szene auch in aller Seelenruhe. Der Mann nur ab und zu von seinem Handy aufblickend, als betrachte er ein paar Ameisen, die an einem Insekt zehren, und die Frau, in dem sie dabei etwas Frittiertes in sich hineinstopft. Unwichtig, auch für die indische Kriminalitätsstatistik, die trotzdem langsam, aber stetig steigt. Auch die Straßenkinder auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig sind für das Paar aus der Mittelklasse nicht vorhanden: Wesen, die Klebstoff schnüffeln und sich "spielerisch" treten und in den Schwitzkasten nehmen, bis der andere heult - immer groß gegen klein.
Laut der Organisation Save the Children sollen zwei Millionen Kinder vorwiegend auf den Straßen und Bahnhöfen von Indiens Großstädten leben. Es gibt auch Schätzungen, die von über drei Millionen ausgehen. Nach Erfahrungen von Hilfsorganisationen schnüffeln 80 Prozent der indischen Straßenkinder täglich Klebstoff.
Die Zeilen sollen nicht als Indiz dafür gelten, dass Indien ein gewalttätiges Land ist. Zwar geht es außerhalb der Zentren für die Mittelklasse und den Disneylands für die Touristen im Verteilungskampf um die Brosamen immer ruppiger zu, aber im Verhältnis zur Armut ist Indien ein beeindruckend friedliches Land, wenn es um offene Gewalttätigkeiten geht.
Aber schon ein Blick abseits eines Bahnsteiges reicht aus und der Schein bricht zusammen, den die Regierung vermitteln will. Der Schein, Indien sei eine fortschrittliche Supermacht, die ihren Bürgern bald den gleichen Lebensstandard bietet wie ihre westlichen Vorbilder.
Ähnliches erlebte die Vorsitzende der Regierungspartei Bharatiya Janata Party des Bundestaates Punjab, als sie notgedrungen in einen normalen Expresszug steigen musste: Ihr Ziel erreichte sie mit 10 Stunden Verspätung. Als Reaktion auf dieses Stück indischer Realität, außerhalb der teuren Rajdhani-Züge für die Mittelklasse, forderte sie ihren Chef Narendra Modi auf, den geplanten Raketenzug zu vergessen und sich doch bitte um die Masse der indischen Reisenden zu kümmern.
Doch ein 300-Stundenkilometer-Schnellzug zwischen Mumbai und Ahmedabad für die obere Mittelklasse passt natürlich besser zum Indien-Bild Modis, das er dem Rest der Erde verkaufen will, als einstürzende Bahnhofsbrücken und verspätete Züge.
Dass der 17 Milliarden Dollar teure Raketenzug durch einen nahezu kostenlosen Kredit der japanischen Regierung finanziert wird, ist eine ganz normale Modi-Wahrheit: Allein im ersten Jahr haben sich die Kreditkosten durch den Verfall der indischen Rupie um 860 Millionen Dollar erhöht.
Auch in Sachen Energie singt Modi das Lied vom "Grünen" Strom des Westens, obwohl die Fakten ihn Lügen strafen: Geht alles nach Plan, wird Indien seinen Verbrauch von Kohle zur Stromgewinnung bis 2037 verdoppeln. Zwar würde Indien auch dann pro Kopf einen geringeren Ausstoß von CO2 haben als jeder Mensch der westlichen Welt, aber in seiner Gesamtheit mit 1,35 Milliarden Einwohnern, würde Indien der Erde einen Brocken zu schlucken geben, den sie wohl nicht verkraften würde.
Auch, was den Schmutz in Flüssen anbelangt, verwendet die Regierung alle Kräfte für den Schein: So wurde während der diesjährigen Ard Kumbha Mela 10 Mal mehr Wasser eingeleitet als üblich, damit zwei Millionen Besucher beim Bad im Ganges glaubten, Modi hätte sein Wahlversprechen gehalten.
Doch auch hier sprechen die Fakten eine andere Sprache: Die Verschmutzung des Ganges hat seit Modis Amtsantritt 2014 zugenommen. Nur 30 Prozent der Abwasser werden in irgendeiner Form behandelt, was auch heißen kann, dass nur der grobe Müll wie Plastiktüten herausgefiltert wird. Eigene Beobachtungen bestätigen dies.
Und nicht nur Modi arbeitet in Indien mit dem Schein. Im letzten Jahr hatte die Regierung des Bundesstaates Tamil Nadu die Herstellung von Plastik verboten. Geändert hat sich nichts, denn die Regierung hat bei ihrem Verbot die Ausnahme hinzugefügt, dass die Händler Plastik aus anderen Bundesländern einkaufen dürfen. Jeden Tag werden in Indien 26.000 Tonnen Plastik benutzt, von denen 40 Prozent von der Berufsgruppe der Plastiksammler nicht mehr "gefunden" werden.
Ähnliches versuchte die Modi-Regierung, als sie im Jahr 2016 großspurig die Einfuhr von Plastikmüll verbot. Doch Indiens Umweltverbände wiesen darauf hin, dass Firmen in Sonderwirtschaftszonen davon ausgenommen sind. Im März 2019, kurz vor den Parlamentswahlen, schloss die Regierung die Schlupflöcher - der Missbrauch war zu offensichtlich geworden.
Indische Realitäten, die daraus für die Masse der Bevölkerung resultieren
Während in Deutschland erste Politiker die Frage stellen, ob neben Wasser und Luft nicht auch das Wohnen ein Grundrecht sein sollte, gibt es in Indien nicht mal die beiden letztgenannten Dinge: Wer in Indiens Großstädten nicht über einen Luftfilter verfügt, kann davon ausgehen, dass seine Lebenserwartung bis zu zwölf Jahre sinkt.
Ähnliches gilt, wer sein Wasser nicht teuer kauft oder keinen Wasserfilter benutzt. Bei den Lebensmitteln sieht es genauso schlimm aus, wie jede neue der wenigen Studien über diesen Bereich aufzeigt: 46 Prozent aller Lebensmittel, die auf 22 Märkten im südindischen Chennai untersucht wurden, waren stark mit Antibiotika resistenten Bakterien befallen.
Dass bei einer der seltenen Kontrollen in Kolkata auch tonnenweise verwestes Hunde- und Katzenfleisch gefunden wurde, darüber wurde bei Telepolis schon berichtet wie auch über bleihaltiges Gemüse.
Wie die Regierung auf unbequeme Studien reagiert, zeigte vor kurzem Umwelt-Minister Harsh Vardhan: Er bezeichnete eine Studie als bedeutungslos, die aussagte, dass im Jahr 2017 1,2 Millionen Inder an den Folgen von Luftverschmutzung gestorben sind. Dann wiederholte Vardhan seine Meinung, dass es keinen Beweis gebe, dass Luftverschmutzung mit dem Tod in Verbindung gebracht werden kann.
Dass gerade die indische Mittelklasse in den Großstädten nicht unschuldig an den Zuständen ist, zeigte mir ein Bauer vor den Toren Delhis auf: "Weil das Wasser unseres sauberen Kanals für den steigenden Bedarf der Großstädter umgeleitet wurde, müssen wir unsere Felder nun mit Industrieabwässern sprengen", dann wurde die Stimme des drahtigen 50-Jährigen hart: "Mir soll es recht sein. Die Erträge sind gestiegen, seitdem wir das 'nährstoffreiche' Wasser benutzen. Mein eigenes Gemüse esse ich natürlich nicht."
Die herannahenden Hochhäuser des wachsenden Monsters Delhi und der schwarze Rauch zweier naher Ziegelsteinfabriken deuten an, warum der Bauer wenig Mitleid für seine Kunden hat: Weil sie kein Interesse für Menschen wie ihn aufbringen.
Das Leben eines Bauern mit seinen zwei Kindern, der seine Felder aufgeben musste und nun in einem Plastikverschlag am Ufer des stinkenden Yamuna Flusses in Delhi lebt, hielt ich für zu brutal, um es hier zu veröffentlichen.
Die indische Regierung verweist lieber auf winzige Vorzeigeprojekte, wie in Sikkim. Auch deutsche Medien verbreiten dann irreführende Meldungen über den schönen Schein eines Biotops, ohne sie zu hinterfragen, weiter. Doch auch im Bundesstaat Sikkim, an der Grenze zu China, reicht ein Blick abseits aus: Steuerfreier Alkohol und eine sprudelnde Geldquelle namens "umweltfreundlicher" Wasserkraft hat den größten Teil der Bevölkerung eingelullt.
Am Fluss Tista, der durch Sikkim fließt, hat die Regierung 36 zum Teil riesige Staudämme gebaut oder in Arbeit. Sikkim liegt in einem Erdbebengebiet: 2011 gab es ein Beben mit der Stärke 6,9 Mw. In den Jahren 2013 und 2015 bis 5 Mw. Im August 2016 verursachte ein durch den Monsunregen ausgelöster Erdrutsch einen künstlichen Staudamm oberhalb von Dikchu. Tausende Menschen am unteren Teil des Tista Flusses wurden evakuiert - vor allem Glück verhinderte die Katastrophe.
Auch die Mehrung der Gletscherseen im Norden Sikkims, die jederzeit ausbrechen und den Tista hinabschwemmen können, sind eine Gefahr für die Staudämme.Dass Flussstauungen langfristig Schaden an der Ökologie anrichten, ist eigentlich bekannt.
In Sachen Alkoholismus sind es auch in Indien in der Regel die Frauen, die verhindern, dass ihr Kindskopf sich zu Tode trinkt. In Sikkim fällt dieses Bollwerk weg, da die Frauen die größten Trinkerinnen Indiens sind.
So dürften Sikkims Männer wohl nur aus einem Grund nicht auch die offiziell größten Trinker des Landes sein: Illegal selbstgebrannter Alkohol ist hier noch Kulturgut und so zählten Wissenschaftler mehr als 10 verschiedene Arten von "Homemade".#
Zudem hat der schöne Schein Sikkims auch noch einen hohen Preis für das Nachbarland Bangladesch: Im Winter und Frühjahr, wenn die Bauern Bangladeschs das Wasser dringend brauchen, fließt kaum Wasser vom Tista aus Indien über die Grenze. Wenn der Monsun den östlichen Nachbar mit Wasser überschüttet, machen die Inder die Schleusen des Tistas auf. Wenn China aber einen Damm im oberen Teil des Ganges baut, beschwert sich die indische Regierung.
Auch die von Modi angepriesene weltweit größte Krankenversicherung ist mehr Schein, denn in den Bundesstaaten Kerala und Karnataka gibt es schon staatliche Gesundheitssysteme die nachweislich besser funktionieren, aber ohne einen von Modis Günstlingen reich zu machen.
Auch hinter den schönen Zahlen des indischen Wirtschaftswachstums, die nicht einmal Neoliberale glauben, verbergen sich krasse Realitäten: Die höchste Arbeitslosenzahl seit 45 Jahren und eine rasant ansteigende Einkommensungleichheit.
Mittlerweile kommen aus Indien die meisten Inhaber der Blauen Karte für hochqualifizierte Ausländer in Deutschland. Auch die Zahl der indischen Studenten in Deutschland hat sich seit 2013 verdoppelt. Auch dass die reichen Inder ihr Geld weiterhin lieber in der Schweiz lagern/, zeigt deutlich wohin sich die Blicke Indiens richten.
Auch Modi, mit seinem schönen Schein von schnellen Zügen, einer Krankenversicherung für alle, ökologischem Strom und sauberen Flüssen hat sich das in Europa abgeschaut. Noch kann er sich auf die Neoliberalen in der westlichen Welt stützen, die Wirtschaftswachstum brauchen, um den Schein daheim aufrechtzuerhalten, doch Modi hat ein Problem: Indien ist noch lange nicht so weit, dass es Dinge, die den schönen Schein trüben, einfach auslagern kann.
Deswegen werden fünf weitere Modijahre Indien weiter in Richtung Katastrophe führen, obwohl die eigentlich schon da ist, weil auch der Vorgänger Regierung des Indien Kongresses der Schein wichtiger war. Genau wie in den U.S.A mit Trump, ist in Indien mit Modi nicht das "Böse" über Nacht vom Himmel gefallen. Auch in Indien haben die etablierten Parteien den Boden geebnet, auf denen angebliche Heilsbringer wachsen konnten.
Die indische Politik hat nichts Eigenes zu bieten, selbst viele ihrer Gesetze stammen noch von den ehemaligen Kolonialherren. Auch Modis Ablenkungen von den Hauptproblemen, werden mit alten Hüten wie Nationalismus und Hass auf Minderheiten praktiziert.
Was immer in der westlichen Welt angestoßen wird, wird verspätet und verstärkt auch in Indien passieren - nur zum Auslagern der Folgen von Wohlstand um jeden Preis ist es zu spät. Doch weil die westliche Welt es noch konnte und es immer noch praktiziert, sollte auch der Westen den Anfang zum Systemwechsel machen - die Arbeitsplätze die Billigproduktion in Ländern wie Bangladesch schafft, stehen in keinem Verhältnis zu den Folgekosten.
In Indien leben etwa 270 Millionen Menschen von 30 Rupien am Tag, etwa 39 Cent. Der Vorschlag von Oppositionsführer Rahul Gandhi, ihnen ein monatliches Grundeinkommen zu zahlen, das umgerechnet etwa 60 Euro betragen soll, geht in die richtige Richtung. Doch was auch Indiens Kinder brauchen, wäre Chancengleichheit zu Beginn ihres Lebens.
In meiner Grundschulklasse im damaligen, ruppigen Arbeiterbezirk Berlin-Wedding hatten wir einen Migrantenteil von weit über 50 Prozent. Trotzdem haben viele von ihnen Abitur gemacht oder auch ohne Abitur ihren Weg - einer ist Bayern-Trainer mit Abitur geworden. Ihre Eltern waren einfache Arbeiter, Polizisten oder Unternehmer, aber ihre Kinder besuchten die gleiche Schule und hatten weitestgehend Chancengleichheit. Im letzten Jahr verbrachte ich einen Tag in einer Grundschule in Süd-Neukölln: Egal ob Deutsche oder Migranten: Die Schüler stammten aus einem einzigen Milieu - das sind "Indische- Kasten"-Zustände.