Indien: Gift und Religion
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In Indien sind Wasser, Luft und Nahrung vergiftet. Genug Lohnarbeit gibt es auch nicht. Dafür Nationalismus und Religion
Samstag, 9. November: "Der Ram Tempel wird gebaut", ruft jemand voller Freude in ein Tee-Kabuff in New Delhi hinein. Alle schalten sie ihre chinesischen Smartphones ein. Eigentlich sollte das Oberste Gericht erst nächste Woche über den knapp 130 Jahre alten Tempel-Streit zwischen Muslimen und Hindus im Ort Ayodhya entscheiden. Doch auf Druck der Regierung tat es das Gericht überraschend schon am vergangenen Samstag (Hindus dürfen alten Tempel auf dem Gelände der Ayodhya-Moschee wiedererrichten).
Der Wirt strahlt mich glückselig an und fragt, was ich dazu sage: "Tempel interessieren mich nicht so. Ich würde mir lieber anständig bezahlte Arbeit für die meisten Inder wünschen." Sofort ist der Wirt beschämt. Erst am Tag zuvor hatte er sich wieder beschwert, dass der Teepreis das letzte Mal vor zwei Jahren von 8 auf 10 Rupien erhöht wurde: "Aber Gas, Milch und Zucker sind teurer geworden. Und kein Wirt in der Umgebung traut sich den Preis zu erhöhen."
Vor meinem Hotel in einer Seitengasse von New-Delhi gab es vor fünf Jahren nur einen Teestand, heute sind es drei, obwohl die Kundschaft kaum merklich angestiegen ist. Ein Hauptgrund ist ein Wirtschaftswachstum, das keine Arbeit schafft und dessen Früchte zu 73 Prozent an das reiche Ein-Prozent des Landes fällt.
Knapp 60 Prozent der Inder sind unter 25 Jahre alt. So wird Indiens Bevölkerung noch bis 2060 wachsen. Von jetzt 1,3 Milliarden Einwohner auf 1,7 Milliarden, obwohl die Geburtenrate pro Leben einer indischen Frau auf 2,33 Kinder gesunken ist.
Zwei Stunden später stehe ich an einer Einfahrt zur G.T Road, nahe der Stadt Ghaziabad, die langsam mit Delhi zusammenwächst - genau wie die rasant ansteigende Zahl von hastig gebauten Satellitenstädten. Der 18-jährige Sunil sitzt auf seinem Rolltisch inmitten der Abgase. Im Sekundentakt rauschen Fahrzeuge vorbei. Im Minutentakt halten einige der über 3 Millionen Neuwagen Delhis und einige der 6,6 Millionen Motorräder/roller, deren Besitzer Sunil Päckchen mit Kautabak verkauft oder einzelne Zigaretten.
Auf den nächsten 500 Meter entlang des Highways stehen etwa ein Dutzend weitere Rolltische, auf denen Obst und Gemüse angeboten werden, dann ist der Hindon River zu riechen, bevor er zu sehen ist. Direkt am Ufer sind Hunderte Laken und Stoffe ausgebreitet. Daneben kleine Gruben, in die ein etwa 50-Jähriger einen Packen billiger Matten wirft. Auf die Frage, ob er die Wäsche mit dem schwarzen Wasser reinigt, antwortet der Alte tapfer lächelnd: "Wasser? Chemie!"
Der Fluss: "Kein Wasser, sondern ein Gemisch aus verschiedenen Chemikalien"
Natürlich weiß auch er Bescheid: Der Hindon River hat auf seiner 400 Kilometer langen Reise von Norden so viel Industrie und Stadtabwässer aufgenommen, dass sein Sauerstoffgehalt nahezu bei null ist. Schon im Jahr 2014 sagte der Wissenschaftler Chandar Vingh Singh, dass im Hindon kein Wasser fließe, sondern ein Gemisch aus verschiedenen Chemikalien.
Hinter der Freiluftwäscherei stehen Unterstände aus Wellblech und Plastikfolien. Davor sitzen Frauen auf Betten bei den verschiedensten häuslichen Tätigkeiten. Im letzten Jahr stellte das National Green Tribunal in einer Studie über das Dorf Gangnauli fest, das 70 Kilometer flussaufwärts von Delhi liegt, dass 71 Bewohner des Dorfes in den letzten Jahren an Krebs gestorben sind, dazu 47 Dorfbewohner aktuell so krank, dass sie im Bett liegen müssen - 1.000 weitere Bewohner der Umgebung litten an Krankheiten, die mit dem verschmutzten Wasser in Verbindung gebracht werden.
Einen Kilometer flussaufwärts beginnen die ersten Felder. Dort stehen Kohl, Raps, Rettich und Salat. Alle 100 Meter eine Pumpanlage am Ufer für die Bewässerung. Mittlerweile zeigen Studien aus dem ganzen Land, dass die Nahrung mit Schwermetallen und Pestiziden belastet ist. Im Bundesstaat Punjab sind es überwiegend Chrom und Kupfer im Reis. In Kolkata wurden Bleiwerte im Gemüse gemessen, die den Grenzwert um das 2000-Fache übersteigen.
So überrascht es nicht, dass Produkte aus Indien zu denen gehören, die mit am öftesten von der amerikanischen Zollbehörde abgelehnt werden. Darunter bis zu 41 Prozent aller Gewürze. Im letzten Jahr verbot die US-Zollbehörde dazu die Einfuhr von indischen Krabben, da diese zu sehr mit Antibiotika belastet waren.
Ein Stück weiter am Ufer entlang kauert ein Alter im Wasser und schneidet Wasserpflanzen. Auf der anderen Flussseite grast eine Büffelherde. Fünf Minuten später komme ich mit einem Angler ins Gespräch, der seine selbstgemachte Bambusrute geduldig über der stinkenden Brühe hält. Der wohl einzige Fisch, der hier an den Haken gehen kann, ist der Magur, eine in Asien beheimatete Art des Froschwelses. Dank eines zusätzlichen Atmungsorgans kann er eine Zeit lang sogar an Land überleben.
"Kein schlechtes Bild von Indien!"
Im Hintergrund beackern zwei junge Bauern ihr "frisch" bewässertes Feld. Als ich mit Erlaubnis des Anglers meine Kamera raushole, schreien die beiden Bauern los und einer kommt mit der Hacke in der Hand drohend auf mich zu gestampft. Auch wenn es bedrohlich aussehen mag: Indien ist kein Land, in dem schnell zugeschlagen wird.
Aus seinem ärgerlichen Geschrei geht hervor, dass er nicht möchte, dass Indien auf einem Foto schlecht dargestellt wird. Selbst wenn wir beide besser die Sprachen des anderen sprechen würden, könnte er wohl kaum verstehen, dass ich nur das Resultat einer Politik aufzeigen möchte, die es zulässt, dass er sich und andere vergiftet.
Als drei andere Ufergänger sich einmischen, rennt auch der andere junge Bauer wutschnaubend die Hacke schwingend dazu. Ich gehe mit den dreien zurück und einer von ihnen sagt, heimlich auf die schimpfenden Bauern zeigend: "Muslime".
Muslime
Es ist nicht herauszuhören, ob er es verständnisvoll meint, in Anbetracht des heutigen Urteils des Obersten Gerichts, schließlich wohnen auch in der nahen Siedlung Muslime und Hindus friedlich miteinander. Die beiden großen Unruhen der letzten Jahrzehnte wurden von hinduistischen Fanatikern ausgelöst. 1992 brannten Zehntausende Hindufanatiker die Babri-Moschee in Ayodhya nieder.
Bei den anschließenden Gewalttaten verloren 2.000 Menschen ihr Leben, überwiegend Muslime. 10 Jahre später kamen im Bundesstaat Gujarat bei Unruhen zwischen den beiden größten indischen Religionsgruppen 1.000 Menschen ums Leben, die meisten Opfer waren wieder Muslime.
Narendra Modi, damals Chiefminister von Gujarat wird bis heute vorgeworfen, die Gewalt mindestens toleriert zu haben. Die USA und die meisten Staaten der EU hoben ihr Einreiseverbot gegen Modi erst auf, als sich abzeichnete, dass er die Parlamentswahlen 2014 gewinnen könnte.
Dass mein Begleiter am Uferrand meint, die Muslime seien an den Umweltproblemen schuld, ist eigentlich auszuschließen. Schon auf der Hauptstraße angekommen, zeigen die Firmennamen des Loni Industrie-Komplexes, dass hier auch Hindus am Werk sind. Ich betrete den Hof einer Fabrik, die Drähte aus Kohlenstoff herstellt - in der Mitte ein großer Teich, in dem eine schwarze Brühe blubbert. Gleich dahinter beginnt ohne Abzäunung ein Salatfeld.
Sofort kommen zwei Männer ungestüm auf mich zu und machen deutlich, ich solle verschwinden. Vor der Fabrik setzte ich mich an einen Teestand, unter dem die gleiche schwarze Brühe in einem offenen Abwasserkanal verläuft. Neben mir die Mutter und die Kinder des Teeverkäufers, die mir mit liebenswürdigem Lächeln einen Rettich anbieten.
Hier regiert der Hindu-Priester Yogi Adityanath
Auch wenn es in der Hauptstadt Delhi in den letzten Jahren einige Fortschritte in Sachen Bekämpfung von Umweltverschmutzung gab, Ghaziabad ist Teil des Bundesstaates Uttar Pradesh. Hier regiert der Hindu-Priester Yogi Adityanath als Chiefminister und gibt vor, ein Mann von Recht und Ordnung zu sein. Doch der Indian Justice Report 2019 sagt etwas anderes: Ob Polizei, Gerichte oder Gefängnisse - Uttar Pradesh nimmt den letzten Platz ein.
So verwundert es nicht, dass das National Green Tribunal (NGT), das die Umsetzung der Umweltgesetze durchsetzen soll, die Regierung von Uttar Phradesh schon mehrmals vergeblich aufgefordert hat, den Hindon River zu reinigen. Dafür geht die Regierung von Yogi gegen die Ledergerbereien in Kanpur vor, die den Ganges verunreinigen. Sie gehören vorwiegend Muslimen.
Die Fabriken des Industriegebietes Dada Nager, die überwiegend von Hindus geführt werden und die ebenfalls ihre Abwässer ungefiltert in den Fluss leiten, lässt die Yogi-Regierung gewähren.
Doch es wird auch klar, dass nicht nur die Industrie den Hindon-Fluss vergiftet. Dutzende Abwasserkanäle von Ghaziabad entlassen ihre stinkende Brühe in die Auslaufzonen des Hindon, die mit Plastikabfällen bedeckt sind.