Indien: Modis zweiter großer Crash

Die Masse der Bevölkerung profitiert nicht von Reformen. Foto: Gilbert Kolonko

Dass die indischen Behörden anbieten, die Steuererklärung online auszufüllen, hilft nicht viel, da das System zum monatlichen Stichtag der Abgabe hin regelmäßig überlastet zusammenbricht

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Am ersten Juli diesen Jahres hat Indiens ambitionierter Premier Narendra Modi dem Land die größte Steuerreform seiner Geschichte verordnet (vgl. Indien: Super-Steuerreform mit Imperial March aus Star Wars). Schon jetzt ist klar: sie war gut gemeint, doch katastrophal geplant und umgesetzt. Aber auch dieser zweite große Lapsus von Modi wird Indiens Aufstieg zur wirtschaftlichen Großmacht nicht verhindern - allerdings ohne dass die Armen daran teilhaben.

Zur Erinnerung: Im November letzten Jahres hatte Narendra Modi über Nacht alle großen Geldscheine für ungültig erklärt. Doch Modis Hauptbegründung für den mies geplanten Rupien-Coup - dem Schwarzgeld Herr zu werden - wurde durch die Fakten lächerlich gemacht: 99 % der Geldscheine wurden umgetauscht. Damit wurden frühere Daten aus dem Finanzministerium bestätigt, die besagen, das Bargeld nur etwa 4 bis 7 Prozent des gesamten Schwarzgeldes ausmacht. Obwohl die Regierung massenweise Geld in die Märkte pumpte, ging das Wirtschaftswachstum von über 7 % vor der demonetization auf aktuell 5,7 Prozent zurück. Den Schaden hatten vorwiegend die Farmer und kleinen und mittelgroßen Unternehmer zu zahlen: mit Umsatzeinbußen bis zu 80 Prozent.

Und nun die Steuerreform: "Ich muss jetzt zehnmal mehr Zeit für die Steuererklärung aufwenden als vorher", sagte ein kleiner Textilhändler in Delhi zu mir - und ein Händler an der Howrah-Brücke in Kolkata klagte, dass er jetzt einen Steuerberater bezahlen muss. Noch größeres Kopfzerbrechen bereitet den kleinen und mittleren Händlern die lange Bearbeitungszeit der Steuerbehörden. Da die Unternehmer die Umsatzsteuer im Voraus entrichten müssen, warten sie teilweise Monate auf die Rückerstattung. Auch dass die indischen Behörden anbieten, die Steuererklärung online auszufüllen, hilft nicht viel, da das System zum monatlichen Stichtag der Abgabe hin regelmäßig überlastet zusammenbricht.

Wer das Neue nicht bezahlen kann, verschwindet mit dem Alten. Das ist in Indien nur offensichtlicher als anderswo. Foto: Gilbert Kolonko

Im Oktober 2013 hatte Narendra Modi als damaliger Ministerpräsident von Gujarat die von der Kongresspartei vorgelegte Einführung einer Umsatzsteuer abgelehnt. Sein damaliger Vorwurf: Dem Staat würden bei dieser Reform Milliarden von Rupien an Steuereinnahmen verloren gehen. Nun versucht er mit Hilfe ergebener Medien beim einfachen Teil der Bevölkerung den Eindruck zu erwecken, er hätte die Umsatzsteuer - GST (Goods and Service Tax) erfunden. Doch selbst sein Slogan "Ein Land, eine Steuer" ist irreführend. Es gibt nicht nur vier verschiedene Steuersätze (5%, 12%, 18% und 28%), sondern eine Reihe von Ausnahmen (Gold 3%) und Doppelbesteuerungen. Viele kleine Händler wissen bis heute nicht, welche Steuersätze für ihren Geschäftsbereich gelten.

So wundert es nicht, dass die Wachstumsraten im industriellen Sektor, in der Landwirtschaft und im privaten Verbrauch seit dem letzten Jahr eingebrochen sind. Dazu hat Modi auch das Versprechen, Jobs zu schaffen, nicht halten können.

Der Unmut gegenüber dem selbsternannten Heilsbringer wächst auch unter seinen Anhängern, doch dies fängt Modis gutorganisierte Bharatiya Janata Party (BJP) mit Hilfe ihres radikal-religiösen Arms, der Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS), auf. Diese hat zum 29. Oktober zu einer Demonstration gegen Modis Wirtschaftspolitik aufgerufen. Doch RSS ist BJP und umgekehrt - so bleiben Modi die Stimmen der unzufriedenen Anhänger erhalten. Auch dass Unternehmerverbände gegen Modi auf die Barrikaden gehen, steckt dieser locker weg, da ihm die großen Konzerne die Treue halten. Erst im August lobte ihn der Aufsichtsratsvorsitzende des amerikanischen Multis CISCO, John Chambers, mit den Worten: "Ich glaube, das Modi Indien zu einem der besten Orte der Erde machen wird, an dem man Geschäfte machen kann."

Dazu ist auf nationaler Ebene kein Konkurrent für Modi in Sicht. Die früher übermächtige Kongresspartei ist nur noch ein Schatten ihrer selbst - über ihren Vorsitzenden Rahul Gandhi schüttelt selbst das eigene Parteivolk den Kopf: Zu weich, zu intellektuell und keine Führungsqualitäten, lautet die weitverbreitete Meinung. Das politische Experiment der links-liberal-akademischen Aam Aadmi Party bleibt auf Delhi beschränkt, der Einfluss von Modis ernsthaftester politischer Kritikerin Mamata Banerjee auf West-Bengalen. Die Führer der kommunistischen Partei Indiens, CPU, ignorieren eisern alle anderen linken Strömungen in der Zivilgesellschaft. Sie leben in einer vergangenen Zeit, in der ein Fingerschnippen ausreichte, um in Kolkata eine Million Parteigänger auf die Straße zu bekommen.

So kommt die einzige ernsthafte Konkurrenz Modis aus dem eigenen Stall: Der extrem religiöse Hindu-Priester Yogi Adityanath, der nebenbei Ministerpräsident von Indiens bevölkerungsreichstem Staat Uttar Pradesh ist. Yogi kümmert sich wirklich - und medienwirksam - um die Bedürftigen. Der Haken: Der Priester verlangt für seine Hilfe bedingungslose religiöse Gefolgschaft. So wird er auf nationaler Ebene ein Mann der zehn Prozent bleiben - und Modi helfen, an der Macht zu bleiben.

Der politische Widerstand gegen Modi bleibt auf einzelne Regionen beschränkt. Foto: Gilbert Kolonko

Gegenwind für Modi gibt es dafür außerparlamentarisch. Zwar haben auch in Indien die Gewerkschaften stark an Einfluss verloren, doch dafür macht die Zivilgesellschaft Druck: so in Sachen Umwelt- und Luftverschmutzung, Lärmterror oder Landraub und Menschenrechte.

Ein Teil dieser Bewegung ist der Gewerkschaftler und Aktivist Sushovan Dhar, der mithalf, dass das Einkommen der Teepflücker in Darjeeling auf 132 Rupien (1,75 Euro) pro Tag stieg. Ich frage ihn, was er an Modi auszusetzen hat, wo dieser doch versprochen habe, sich für die Armen Indiens einzusetzen: "Wie soll die Einführung der Umsatzsteuer den Armen helfen, wenn eine weitere Steuer eingeführt wird, die die Armen mehr trifft als die Reichen und die nichts am Verhältnis von indirekten zu direkten Steuern verbessert? In Indien liegt dieses Verhältnis wie in Ländern der Dritten Welt bei 61.6% - 38.4%, während es in Ländern der OECD bei etwa 30% zu 70% liegt. Außerdem zahlen in Indien kleine Firmen mehr Steuern als große.

Dann kommt er auf Modis Anstrengungen zu sprechen, das Gesundheitssystems auf private Krankenversicherungen stützen zu wollen: "Wer genug Geld hat, kann sich schon jetzt privat krankenversichern. Wie dieses System den armen Bevölkerungsschichten zu Gute kommt, können wir doch in den USA sehen." Auf meine Frage, ob das bedeutet, dass Indiens Wirtschaftsboom vorbei ist, antwortet Dhar:

Natürlich nicht. Die Wirtschaftsreformen haben Modis Vorgänger eingeleitet. Manmohan Singh hatte das Pech, dass ihm die Weltwirtschaftskrise und der hohe Ölpreis in die Quere kamen. Modi sorgt vor allem dafür, dass unsere Elite zu Global Players wird, ohne in Indien Jobs zu schaffen, so dass die Armen weiterhin kaum am Wachstum teilhaben können.

Der IWF bestätigt Dhars Prognose und sagt für das nächste Jahr wieder ein Wirtschaftswachstum von 7% Prozent für Indien voraus. Auch die Weltwirtschaft kann sich freuen: Mit dem vom Ausland gelieferten bullet train nimmt sie an Indiens Aufschwung teil, während die morsche Infrastruktur auf den Bahnhöfen Indiens zusammenbricht - zuletzt forderte am 29. September in Bombay der Einsturz einer Fußgängerbrücke 22 Tote.

Statt eines funktionierenden Abwassersystems bekommt Indien nun einen Hochgeschwindigkeitszug. Foto: Gilbert Kolonko

Dhars Worte werden auch bei der diesjährigen U-17-Fussballweltmeisterschaft bestätigt, die in Indien stattfindet. Fußball ist in Kolkata ein Ereignis für die Unterklasse, Höhepunkte sind die Spiele zwischen East Bengal und Mohun Bagan - vor bis zu 132.000 begeisterten Zuschauern (1997). Doch beim Spiel Deutschland gegen Brasilien wartet ein gepflegtes, gut genährtes Publikum vorm Salt-Lake-Stadion in Kolkata, in der sterilen Atmosphäre einer indischen Shopping Mall. Alles, was den guten Eindruck zu stören drohte, ist vorher "weggekehrt" worden - und selbst ein falsch geparktes Auto wird abgeschleppt, was einige der anwesenden Polizisten mit Verwunderung beobachten.

Einzig ein paar Obstverkäuferinnen mit Sicheln in den Händen sind durch das vorgegebene FIFA-Raster geschlüpft. Kamerateams warten vergeblich auf enthusiastische Fans, deren Bilder eigentlich um die Welt gehen sollen. Die FIFA hatte die Zuschauerkapazität von 85.000 auf 66.000 herabgesetzt und verkaufte die Mehrheit der Tickets online.

Die Armen nehmen auch teil: Sie dürfen der oberen Mittelklasse bei ihrem Fußballtheaterbesuch brasilianische und indische Plastikstirnbänder verkaufen und etwas Farbe - für ein paar bunte Striche im Gesicht. Am nächsten Tag beim Zeitunglesen zeigt sich, dass die Inszenierung vollauf geklappt hat: Fotos von feiernden bunten Fans, die dem Zuhausegebliebenen vermitteln, dass er ein wahnsinnig atmosphärisches Ereignis verpasst hat. Damit hat Indien bewiesen, dass es jetzt dazu gehört, da es fähig ist, sichere Wohlstandsinseln (für FIFA-Ereignisse) zur Verfügung zu stellen.