Indien: Spalte und herrsche

Seite 2: Die politische Linke Indiens ist mausetot

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Dazu ein Blick auf die indischen Realitäten wie den informellen Arbeitssektor, in dem 90 Prozent der Inder beschäftigt sind.

"Es stimmt, dass ein Plastiksammler in Kolkata mit 12-Stunden-Tagen 10.000 Rupien im Monat verdienen kann, umgerechnet 4,10 Euro am Tag, sagt T. (voller Name der Redaktion bekannt), der seit sechs Jahren unentgeltlich Slumkinder in Kolkata unterrichtet. "Doch abgesehen von den Gesundheitsschäden bei seiner Arbeit an stark kontaminierten Orten, hat er keine Zeit mehr fürs Wäschewaschen und andere Dinge."

Bis auf ein paar verbrannte Reifen blieb es friedlich in Kolkata. Foto: Gilbert Kolonko

Dann beschreibt T. den Kreislauf der Ausbeutung untereinander: "So sucht sich der Plastiksammler jemanden im Slum, der ihn für 450 Rupien (6,33 US-Dollar) im Monat die Wäsche wäscht und seine Hütte in Ordnung hält." Doch den Plastiksammler und die Reinigungskraft treffen die steigenden Preise. "Seit 2013 haben sich die Preise für Lebensmittel in Kolkata verdoppelt bis verdreifacht."

Die Armutsgrenze liegt laut Weltbank bei 1,90 US-Dollar am Tag. Wie schwer ein Flaschensammler arbeiten muss, um einen Dollar am Tag zu verdienen, zeigt ein Blick in die Nachbarschaft: Hussain sammelt in den umliegenden Restaurants und Hotels die leeren Bierflaschen ein. Für 100 leere Flaschen zahlt er 25 Rupien (35 Cent). Er selbst bekommt beim Althändler 33 Rupien.

Hussain muss mit seinem Plastiksack neun Touren laufen, um auf einen Dollar zu kommen. Mit über 20 Kilogramm auf dem Rücken, in einer Stadt, in der sich tagsüber 50.000 Menschen auf einem Quadratkilometer tummeln. "Jeder kleine Müllhaufen und die abgelegenste Gasse sind abgesteckte Gebiete in Kolkata, für die die Müllsammler oft auch noch Dritte bezahlen müssen," sagt T. und setzt hinzu: "Natürlich gehören auch unsere schlecht bezahlten Polizisten dazu."

Dass der Name des kritischen Sozialarbeiters unveröffentlicht bleibt, hat einen Grund. Auch in Bengalen werden kritische Stimmen von Kadern der Regierungspartei TMC mundtot gemacht: Im letzten Jahr wurde die Umwelt-Aktivistin Sharmistha Choudhury sogar am hellen Tage aus einem Regierungsgebäude entführt und anschließend gefoltert.

Aktuell ging auch die Polizei in Delhi brutal gegen demonstrierende Studenten der Jamia Millia Universität vor: Es wurde sogar auf das Personal und die Sicherheitskräfte der Universität eingeprügelt. Studenten wurden zum Teil beide Arme gebrochen.

Kolkata - Wann ist jemand arm? Foto: Gilbert Kolonko

Dass die Studenten schon wieder an der Spitze gegen die Politik der Spaltung stehen, ist bemerkenswert. Vor zwei Jahren standen sie auf, um gegen die Privatisierungspläne im Bildungsbereich zu protestieren. Obwohl der AISHE-Report die Bedenken der Studenten bestätigte, ließ der Rest des Landes die jungen Menschen im Stich.

Aktuell sieht es anders aus. Teilweise erinnert die Stimmung in Kolkata an Nepal im Jahr 2006, als das ganze Land aufstand und König Gyanendra stürzte. Doch auf der nationalen politischen Bühne ist in Indien weit und breit niemand zu sehen, der Narendra Modi Paroli bieten könnte.

Bis auf Teile Süd-Indiens ist die politische Linke Indiens mausetot. Dass ausgerechnet die indische Kongress Partei der Modi-Regierung vorwirft, dass diese sogar mit Ausgangs- und Internetsperrungen gegen die Proteste vorgeht, lässt viele Inder den Kopf schütteln: Es war die "große" Dame der Kongress Partei, Indira Gandhi, die Indien von 1975-77 mit dem Notstandgesetz regierte.

Zudem kam Narendra Modi 2011 nur aus einem Grund an die Macht. Indien hatte genug von der Eliten-Politik und der Korruption der Kongress Partei. Dazu versteht es die Modi-Regierung Umweltaktivisten, engagierte Künstler, Menschenrechtler und sogar Mitglieder der Kongress Partei als Unterstützer der Maoisten oder Pakistans zu brandmarken. Die Mehrheit der indischen Gesellschaft ist noch immer konservativ und mag keine "maoistischen" oder "islamistischen" Troublemaker.

Politisch ist die Linke auch in Kolkata erledigt. Die Anhänger sind enttäuscht von den korrupten Führern. Genug Anhänger für eine linke Politik wie in Kerala wären jedoch da. Foto: Gilbert Kolonko

So wird Modi weiter die Muslim-Karte spielen und das Land spalten, damit er weiter regieren kann. Nur so bleiben Wasserkrise, verdreckte Flüsse, Arbeitslosigkeit und die wachsende Ungleichheit außerhalb des Fokus'.

Doch in Kolkata haben Modi und Shah den Bogen überspannt: Neben täglichen Großdemonstrationen sind jeden Abend kleine Umzüge von Frauengruppen, Gewerkschaftlern und Aktivisten zu sehen - andere Bewohner schließen sich spontan an: Der eine Unterschied zwischen Mamata Banerjee und Narendra Modi - die Religionsgemeinschaften nicht gegeneinander aufzuhetzen - ist den Menschen Kolkatas so wichtig, dass sie trotz schwerer Lebensumstände auf die Straße gehen.

Insgeheim wird Mamata ihrem Erzfeind Modi wohl dankbar sein: Ihr Stern in West-Bengalen war auch am Sinken gewesen, wie der von Modi im Februar 2019…