Individuelle Machtspiele und der Gefallen am Gefälle
Seite 2: Das Persönlichkeitsideal
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Eine andere Ursache für Machtspiele liegt im Persönlichkeitsideal. Verständlicherweise möchte das Individuum nicht nur ein Rädchen im Getriebe sein. Es bemerkt die negativen Effekte der Unterordnung, der Spezialisierung sowie der vielfachen gegensätzlichen Handlungsanforderungen, denen es ausgesetzt ist. Die vielbeschworene persönliche "Identität" wird in dem Maße problematisch, wie das Individuum mit "Selbstsorge" dafür zu sorgen hat, dass gegensätzliche Anforderungen es nicht zerreißen.
Die faktisch stattfindende individuelle Existenz soll es als "eigenes" Leben auffassen, wenn nicht sogar zum eigenen "Entwurf" umdeuten. Das erfordert, wenigstens subjektiv Ordnung zu bewerkstelligen – bei objektiv-gesellschaftlicher Unordnung und untereinander nur schwer oder nicht zu vereinbarenden Handlungsanforderungen sowie undurchsichtigen Voraussetzungen und unabsehbaren Konsequenzen des individuellen Handelns. Von der "Identität" geht das Individuum über zur "Persönlichkeit".
"Menschen ohne Welt" waren und sind diejenigen, die gezwungen sind, innerhalb einer Welt zu leben, die nicht die ihrige ist; einer Welt, die, obwohl von ihnen in täglicher Arbeit erzeugt und in Gang gehalten, "nicht für sie gebaut" (Morgenstern), nicht für sie da ist (Anders 1993, XI). In problematischer Verarbeitung seiner Heimatlosigkeit in der Gesellschaft möchte das Individuum als vereinzelter Einzelner nicht nur selbstwirksam (Subjekt) sein. Als Persönlichkeit will es selbstständig, abgeschlossen, ganz und eine Welt für sich sein.
Als Persönlichkeit will das Individuum "etwas ganz für sich Bestehendes, auf sich selbst Beruhendes, aus sich selbst Erwachsenes, in sich selbst Vollendetes" darstellen (Kranold 1923, 40). Die Sozialbeziehungen und das individuelle Sein-in-der-Gesellschaft erscheinen der Persönlichkeit als sekundär und als Terrain von peripheren "Außenhandelsbeziehungen". Die Persönlichkeit pflegt von sich selbst den Schein, sie könne sich auf die Realität vorrangig nach Maßgabe ihrer persönlichen Souveränität einlassen.
Die real beschädigte und zerrissene Existenz des Individuums in der Gesellschaft interpretiert die Persönlichkeit selbstwertdienlich als bloß äußere Schranke der inneren "eigentlichen" Vollkommenheit. Dass die Selbstabrundung und Selbstaneignung dem Individuum oft nicht gelingt, daran leidet es. Das hält es aber keinesfalls davon ab, am Persönlichkeitsideal festzuhalten.
Der Lügner reagiert auf die Entlarvung seiner Lügen mit neuen Lügen, der Illusionist auf die Ernüchterung mit neuen Illusionen. Desillusionierung ist nicht nur Enttäuschung, sondern auch Beseitigung des Bedürfnisses nach Illusionen, sie ist die ermutigende Erkenntnis, dass man ohne diese auskommen [...] kann.
Manès Sperber: Individuum und Gemeinschaft
Die Gegensätze zwischen dem Persönlichkeitsideal des Individuums und seiner realen Existenz in der Gesellschaft kann es auf verschiedene Weise verarbeiten. Die einen kultivieren eine von der Außenwelt abgehobene Innerlichkeit. Sie inszenieren sich als distanzierte Person und pflegen ihren Abstand zur "Masse".
Die anderen widmen ihre Energie der Aufgabe, überall gegen wirkliche oder vermeintliche Verletzungen ihrer vorgestellten reichen Subjektivität zu protestieren. Wieder andere versuchen, per Machtspielchen sich als souveräne Persönlichkeit erleben zu können, denen es gelingt, im Kampf gegen Mitmenschen diese als misslungene Persönlichkeiten aussehen zu lassen oder hinzustellen.
Selbstschädigendes Verhalten
Persönliches Machtverhalten ist für die es aktiv betreibende Person umso attraktiver, je weniger sie Bewusstsein für die mit diesen Praktiken verbundenen Selbstschädigungen hat. Wer auf herablassendes Dominanzgrinsen (à la Jack Nicholson) trainiert, dem sieht man bald an, dass er Verbundenheitslächeln nicht kann.
Weil sie nichts mehr für vertrauenswürdig halten, was von außen kommt, können sie keinem anderen zugestehen, über sie zu bestimmen. Beziehungen zu Mitmenschen sind ihnen nur dann erträglich, wenn sie darin eine herrschende Rolle einnehmen. [...] Ihr ganzes Leben geht also dahin, ihre Umwelt so zu manipulieren, dass sie sich zumindest beständig einbilden können, ihr Leben vollständig aus dem eigenen Willen zu bestimmen.
Horst-Eberhard Richter: Der Gotteskomplex
Wem es auf die Selbsterhöhung durch Macht gegenüber anderen ankommt, der kann nur schwer zu Beziehungen gelangen, in denen es darum geht, die andere Person selbstständig sein und eine freie Entwicklung nehmen zu lassen. Denjenigen Personen, die sich an Machtspielen orientieren, fallen vertrauensvolle Beziehungen zu "gleichrangigen" Personen schwer.
Kleine Machthaber bzw. diejenigen, die so etwas gern sein wollen, ähneln einem "Ritter, der nur mit geschlossenem Visier und geschwungenem Schwert einherzugehen wagt, und der nicht den Mut hat, seinen Panzer abzulegen. Im Grunde traut er niemandem außer denen, die er sich restlos unterworfen hat. Wirkliche Freundschaft, Bundesgenossenschaft oder Liebe hält er für Einbildungen, die es nur in Büchern gebe" (Künkel 1954, 18).
Vertrauensvoller Gedanken- und Gefühlsaustausch verträgt sich weder mit Überlegenheitsstreben noch mit dem Willen zum Schein (scheinhafte Stärke und Persönlichkeit). Das sich an persönlicher Macht orientierende Individuum folgt der Illusion, für die Friedrich Schiller in "Wilhelm Tell" die Formel "Der Starke ist am mächtigsten allein" geprägt hat.
Sich an persönlichen Machtgefällen orientierende Personen verfügen zwar über Kenntnisse und Spürsinn, wie sie andere Personen instrumentalisieren können. Wem es aber massiv an Empathie und Wohlwollen fehlt, der verarmt existenziell. Und wem das "oben bleiben" oder "nach oben kommen" wichtiger ist als die Inhalte, um die es dabei geht, dessen Substanz verarmt und wird zusehends hohl.
Macht durch Schwäche
Ausgeklammert bleibt hier bislang diejenige Macht von Personen, die andere mit ihrer wirklichen oder vermeintlichen Schwäche, schlechten Gesundheit und anderen als ungerecht empfundenen "Defiziten" oder "Schicksalsschlägen" unter Druck setzen. Die Adressaten der wirklich oder vermeintlich Hilfebedürftigen leisten häufig Versorgungsdienste, um sich nicht schuldig fühlen zu müssen.
Schon das verwöhnte und verzärtelte Kind lernt, sich selbst Schwierigkeiten und Anstrengungen zu ersparen, indem es andere Personen in seinen Dienst stellt und sie zu seinen Beschützern macht. Der "Krankheitsgewinn", der sich mit Krankheitssymptomen erzielen lässt, trägt zu ihrem Fortbestand bei.
Bei vielen Menschen bedeutet die Angst nichts anderes, als dass jemand da sein muss, der sich mit ihnen beschäftigt. Wenn nur gar jemand das Zimmer nicht mehr verlassen kann, muss sich alles seiner Angst unterordnen. Durch das den anderen auferlegte Gesetz, dass alle anderen zu ihm kommen müssen, während er zu niemandem zu kommen braucht, wird er zu einem König, der die anderen beherrscht
Alfred Adler: Menschenkenntnis
Und die "zierliche Schelmerei und rührende Ohnmacht (des "Kindweib", Anm. d. A) versetzen den, der sie wahrnimmt und erlebt, in jenen leichten Rausch von Selbstgefälligkeit und Edelmut, in dem er zu den sogenannten größten Dummheiten bereit wird" (Rühle-Gerstel 1932, 97f.). Überdies existieren noch andere Möglichkeiten, Macht auszuüben:
Er liebt den Hausfrieden und unterwirft sich gern ihrem Regiment, um sich nur in seinen Geschäften nicht behindert zu sehen. Sie scheut den Hauskrieg nicht, den sie mit der Zunge führt und zu welchem Behuf die Natur ihr Redseligkeit und affectvolle Beredtheit gab, die den Mann entwaffnet.
Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht
Selbstverständlich können auch Männer ihren Willen durch Demonstration ihrer Schwäche gegenüber Frauen durchsetzen oder dies zumindest immer wieder versuchen.
Schluss
Bereits 1925 heißt es: "Die neue Seelenkunde [...] zeigt, wie das gereizte Streben nach Geltung und Überlegenheit die Menschen seelisch distanziert und isoliert. [...] In einer Unmenge privater Konflikte und Kämpfe wird ein Riesenmaß seelischer Energie vergeudet" (Rühle 1975, S. 163).
Sebastian Herkommer hat auf dem Soziologentag 1991 in Leipzig zu Recht bemerkt, Bourdieu verallgemeinere das Bedürfnis nach Distinktion und setze es als von allen Gesellschaftsformen unabhängiges Bedürfnis ihnen voraus und behandele es insofern als eine quasi anthropologische Konstante.
Wir haben demgegenüber in diesem Artikel einige für die bürgerliche Gesellschaft mit kapitalistischer Ökonomie spezifische Voraussetzungen und Ursachen skizziert, die das Auftreten von individuellen Machtspielen allererst (objektiv) möglich und (subjektiv) nötig machen. Michel Foucault hat großes Aufheben von der unzutreffenden These gemacht, vor ihm sei Mikromacht noch nie analysiert worden.
An Foucaults Darlegungen zur Mikromacht fällt auf, dass in ihnen die skizzierten negativen Momente von Macht keinen Raum bekommen. Dabei sorgen die Machtspiele und die für sie trainierten Destruktivqualifikationen für massiv abträgliche Effekte. Diese betreffen sowohl die Person, die individuelle Macht aktiv ausübt, als auch die Person, die sie erleidet. Die beschriebenen vielen kleinen Machtpraktiken haben verheerende Wirkungen auf die Lebensqualität und das Psychosozialprodukt. Sie verschmutzen die Innenwelt und vergiften die Sozialität.