Industrial Disease

Jonathan Franzens über einen Chemie-GAU in den USA

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Es braucht weder "Katrina" noch Rita" um Teile der USA zu verwüsten. Denn die amerikanische Chemieindustrie kann das noch viel besser. Zu diesem Ergebnis kommt man nach der Lektüre von Jonathan Franzens neuem Buch "Schweres Beben", das jüngst auf Deutsch erschienen ist. Es ist sein zweiter Roman, in den USA wurde er bereits 1992 unter dem Titel "Strong Motion" veröffentlicht, neun Jahre vor seinem Bestseller "The Corrections" (dt.: "Die Korrekturen). "Schweres Beben" behandelt einen durch industrielle Fahrlässigkeit verursachten chemischen Umwelt-GAU und erzählt gleichzeitig die Geschichte der and der Ostküste lebenden Familie Holland.

Auf den ersten Blick ist "Schweres Beben" der bisher radikalste Roman Franzens. Die Chemiefirma Sweeting-Aldren will sich die Kosten für die Abwasserentsorgung sparen und pumpt über Jahrzehnte immer wieder mal Giftstoffe in ein Bohrloch, das hunderte Kilometer tief ist. Die unterirdischen Gesteinsschichten geben mit der Zeit nach. Es kommt erst zu einem Schwarm leichten Erdbeben in der Region nahe der Metropole Boston, später sogar zu einer riesigen Erschütterung, die auch das Firmengelände von Sweeting-Aldren trifft und ganze Landstriche kontaminiert. Amerika hat sein chemisches Tschernobyl.

Franzen selbst bezeichnete diesen Roman einmal als seinen deutschesten, was von ihm, der in Deutschland studiert hat und als ausgewiesener Kenner der deutschen Literatur gilt, keinesfalls abwertend gemeint ist und wohl u.a. auf die Bedeutung von Ökologie in Deutschland abzielt. So ganz Recht hat er damit aber nicht: eine derart heftige Kritik an den Folgen industriellen Wirtschaftens hat man von vielen deutschen Umweltschützern schon lange nicht mehr gehört. Denn bei Franzen geht es nicht um den "Einzelfall" Sweeting-Aldren, im Gegenteil steht der Konzern stellvertretend für den modernen Kapitalismus und seine Gnadenlosigkeit, was die Profitmaximierung auf Kosten von Mensch und Natur betrifft.

Das muss auch die Gegenspielerin des Unternehmens, die junge Seismologin Renée Seitschek, erfahren. Sie ist die erste, die einen nicht natürlichen Ursprung der leichten Erdstöße vermutet und eine "Theorie induzierter Beben", sprich: industrielle Erdbebennachhilfe, aufgreift. Bei ihren Recherchen stößt sie rasch auf den Widerstand von Sweeting-Aldren. Der Sicherheitsdienst des Konzerns versucht sie mit allen Mitteln einzuschüchtern, da ihre Theorie dem Aktienwert des börsennotierten Unternehmens drastisch schaden könnte. Auch die Umweltbehörde schenkt ihr keinen Glauben, denn die Arbeitsplätze bei Sweeting-Aldren haben Vorrang vor eventuell entsorgten Abwassergiften und außerdem sind Staat und Wirtschaft so verknüpft, dass die Behörde schon lange nicht mehr machen darf, was eigentlich ihr Zweck ist.

Dass es Franzen nicht um einzelne "negative Auswüchse" des Kapitalismus geht, sondern um eine Generalabrechnung, beweist auch eine andere Passage im Roman:

Das System glaubt, dass die vergangenen zwanzig Jahre jeden nennenswerten Unterschied zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz in Amerika beseitigt haben. Das System glaubt, alle Lebensfunktionen eines Amerikaners von durchschnittlicher Intelligenz mit einem Programm simulieren zu können, das elftausend Zeilen umfasst, von sechs Phrasenbibliotheken und einer Meinungsbibliothek gespeist wird und alles in allem weniger als acht Megabytes beansprucht. (…) Im Werktagsprogramm eines Mannes könnte der Zeitabschnitt von 17 Uhr bis 18 Uhr 30 so aussehen: 3080 Wunsch = Wunsch + Wunschplus 3090 EndeArbeit 3100 LAUFZU Auto 3110 Wunsch = Wunsch + Wunschplus 3115 wenn Wunsch(1)<.67 dann 3120 FAHREZUMPARKEN Single(s) Gosub Drinkauswahl Falls Mieze 3200 3120 wenn Geld>6i wenn Zeit>1 wenn Wunsch(6)>.5 gosub Shopping 3130 wenn Sprit>.5 wenn Zeit>.05 gosub Tanken 3140 FAHREZUMPARKEN Heim" usw.

Neben aller Systemkritik aber ist "Schweres Beben" vor allem ein Familienroman. Im Zentrum der umwälzenden Beben steht die Familie Holland. Sohn Louis arbeitet bei einer kleinen Radiostation nahe Boston, wo auch seine ältere Schwester Eileen eifrig ihre Karriere als Bankerin voranzutreiben sucht. Die Mutter kümmert sich indes um ihr jüngst erworbenes Erbe, das neben einem Haus in der Region Millionen Dollar umfasst. Nur: Große Teile dieses Geld bestehen aus Aktien, und zwar jenen von Sweeting-Aldren. Schon bald ist Renée Seitschek zur Stelle, die sich in Louis verliebt hat und Mutter Melanie gegen Bares ihr Insiderwissen verkauft.

Das Glück kommt mit dem Traualtar

Nicht einmal vor der gegen die Industrie kämpfenden, heldenhaften Figur Seitschek macht also die Korruption halt, scheint Franzen andeuten zu wollen, doch nach der vollständigen Zerstörung des Chemiekonzerns kommt alles anders. Das große Beben hat alles erst durcheinander geschüttelt und dabei gleichzeitig neu geordnet - vor allem das Leben von Louis und Renée. Sie verlieren sich aus den Augen, als radikale christliche Lebensschützer Renée nachsetzen, und finden erst durch ein Attentat wieder zueinander. Geläutert denkt sich Renée gegen Ende:

Hier über den Haufen geschossen zu werden und Erdbeben zu überstehen und einen Monat im Krankenhaus zu liegen hatte eine Verbundenheit mit diesem Ort entstehen lassen, ein Gefühl des Hierhergehörens, das sie in den sechs Jahren ihres normalen Lebens in Boston nicht gehabt hatte.

Alles ist mit allem versöhnt, das Glück kommt mit dem Traualtar, den Kindern und einem vermutlich mit Biodiesel betriebenen Passat-Kombi.

Deswegen ist "Schweres Beben" eben nur auf den ersten Blick der radikalste Roman Franzens. In seinem Meisterwerk "Die Korrekturen" geht der Autor viel weiter, da dort die Familie in ihre Einzelteile zerlegt und nicht wieder zusammengesetzt wird. Übrig bleiben viele gebrochene Männer und wenige starke Frauen. "Schweres Beben" leistet anschaulich Systemkritik. "Die Korrekturen" aber liefern eine tief greifende und zersetzende Gesellschaftskritik. Sie sind für die Familie, was Sweeting-Aldren für die Natur ist.

Jonathan Franzen. Schweres Beben. Aus dem Amerikanischen von Thomas Piltz. Rowohlt, Reinbek 2005. 688 S., 24,90 Euro