"Ins Diabolische entstellt": Der lang kultivierte Antisemitismus und seine Folgen

Jüdinnen und Juden wurde oft etwas vorgeworfen, das sonst in westlichen Gesellschaften als positiv gilt: Das Streben nach Bildung und Erfolg, mit dem einige auch der Ausgrenzung entgehen wollten

Die meisten Juden waren auch zum Ende des 19. Jahrhunderts arm und nahmen nicht am politischen Geschehen teil. Die Verbesserung der rechtlichen Stellung durch Napoleons Gesetzgebung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte die Situation nur für wenige von ihnen. Die wahrgenommene Präsenz von Juden in gehobenen Schichten hatte also mehr mit der Fokussierung durch die Betrachter als mit einer objektiven Realität zu tun.

Die Schlagwortprägung "Neunzig Prozent der Gründer und Makler sind Juden" im Wirtschaftsdiskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts verschob die Tatsachen ebenso massiv wie die Ableitung der Gründe für die Präsenz prozentual gesehen relativ vieler Juden in gehobenen Bildungsberufen: Als Grund wurde der Wunsch nach der Weltmacht ausgemacht, nicht etwa die rechtlichen Begrenzungen im Hinblick auf die Berufswahlmöglichkeiten, denen jüdische Bürger lange Zeit unterlagen, oder der Wunsch, in der Gesellschaft einen positiven Beitrag zu leisten und erfolgreich zu sein.

Die Zeichen waren einfach auf die Vermutung gestellt, dass als plausible Erklärung für dieses Phänomen nur das Anstreben von Herrschaft, ja gar der Weltherrschaft, in Frage käme. Für diesen Verdacht schien es zudem weitere Beweise zu geben, die man gerne hervorhob.

Der vermeintliche Anspruch auf Weltherrschaft wurde so etwa auf den Auserwähltheitsgedanken des jüdischen Volkes zurückgeführt. Die Pseudowissenschaftlichkeit der Ursachenforschung für das angebliche jüdische Weltmachtstreben wird unter anderem am Beispiel Johann Baptist Grasers zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich, der hebräische Quellen zitierte, um das zu belegen, was alle erwarteten: Die Juden wollten sie unterwandern und beherrschen.

Hortzitz fasst die Problematik folgendermaßen zusammen:

Derart ins Diabolische entstellt, fungiert die jüdische Religion als Gegenpol des Christentums. Einem säkularen Zug des Zeitalters folgend, werden in zunehmendem Maße theologische und profane Gesichtspunkte verknüpft. So werden u. a. apolitische, eschatologische Begriffe der theologischen Sphäre wie die Endzeiterwartung und die Verheißung des ›gelobten Landes‹ säkularisiert und politisiert, indem sie zu wirtschaftlichen und politischen Herrschaftsbestrebungen […] in Beziehung gesetzt werden.

Vermeintliche Beweise gab es genug, wie einige Ereignisse des ausgehenden 19. Jahrhunderts zeigen: Hatten nicht mehrheitlich jüdische Attentäter 1881 Zar Alexander ermordet? War der Mörder des US-Präsidenten McKinley 1898 nicht ein jüdischer Anarchist? Steckten nicht vielleicht doch hinter weiteren Terrorakten, die die Welt in dieser Zeit in regelmäßigen Abständen erschütterten, jüdische Täter, wie etwa beim Mord an der österreichischen Kaiserin 1898 oder am italienischen König 1900?

Ritualmordlegenden und Rauschgiftgerüchte

Außerdem dominierten Ritualmordvorwürfe - ein konkreter Vorfall in Ungarn sorgte 1882 für Aufsehen - sowie die Dreyfus-Affäre in Frankreich. Obwohl sich diese Vorwürfe nach teilweise langwierigen Verfahren als haltlos erwiesen, hatten sie sich bereits in den Köpfen und Herzen der Ängstlichen festgesetzt. Der Rauschgifthandel war laut Hellmut Andics wesentlich in "jüdischer" Hand. Zudem waren etliche Ideengeber der Umbruchstimmung Juden, so etwa Marx, Lasalle und einige mehr.

"Bolschewistisch-jüdische" Aufrührer

Wer wollte, konnte sich also gerne immer einen jüdischen Vertreter für eine Entwicklung herauspicken, die als bedrohlich empfunden wurde. In der Kohärenz der Ablehnungshaltung fiel der Widerspruch nicht auf, dass man einerseits die Juden für den Kapitalismus und die wirtschaftliche Ausbeute der Massen verantwortlich machte, sie andererseits aber als "bolschewistisch-jüdische" Aufrührer ebendieser Massen ausmachte.

Die Berichterstattung über ungeklärte Morde unterlag einem starken Framing, das heißt einem (medialen) Einrahmen in eine feste Interpretationsschablone.  Dies ging wiederum auf die markierte Wahrnehmung der jüdischen Gruppe zurück. Und die Darstellungspraxis sowie die Folgen für die Wahrnehmung wurden von einigen Zeitgenossen durchaus kritisch beobachtet:

Ward irgendwo ein Leichnam, an dem sich Gewaltspuren zeigten, ein totes Kind gefunden, so mußte ein Jude der Mörder sein; meist nahm man dabei ein von mehreren gemeinschaftlich begangenes Verbrechen an, und die Folter wurde so lange fortgesetzt, bis sie Geständnisse lieferte.

Neben dieser vorschnellen Zuordnung von Ereignissen zum Judesein erschien der (teilweise erzwungene) Zusammenhalt von Juden über die beruflichen Beziehungen hinaus den Nichtjuden verdächtig, da diese eine solche Solidarität nicht kannten. Aus der Erfahrung heraus, dass im Laufe der Geschichte immer wieder Einzelereignisse der gesamten jüdischen Population schadeten, hatte es sich ergeben, dass innerjüdische Streitigkeiten auch innerhalb der jüdischen Community geregelt wurden - also außerhalb der offiziellen Gerichtsbarkeit -, sodass in der Wahrnehmung der Mehrheitsbevölkerung immer nur juristische Auseinandersetzungen zwischen Juden und Nichtjuden stattfanden, während in der nichtjüdischen Wahrnehmung die "Glaubensbrüder" eben zusammenhielten. 


Der Text stammt aus dem Buch von Sabine Schiffer und Constantin Wagner:

Antisemitismus und Islamophobie. Ein Vergleich

416 Seiten, Westend Verlag, 39,00 €, ISBN 978-3-86489-353-7


Auch das trug zur Begriffsbildung "Staat im Staate" bei, den Johann Heinrich Schulz erstmals 1784 auf die Juden anwendete und der etwas Fremdkörperhaftes der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland betont, da ihnen damit unterstellt wurde, dass sie im Zweifelsfalle "ihrer Sippe" treu blieben und sich nicht dem deutschen Staat verpflichtet fühlten. Auch die verzweifelt geführten Beweise gegen diese Behauptung, zum Beispiel durch den verrichteten Kriegsdienst, konnten diesen Mythos nicht zerstören. Nur so konnte den Juden als Gruppe -entsprechend dem kohärenzstiftenden System der negativen Sicht - die (Mit)schuld an der Niederlage im Ersten Weltkrieg gegeben werden.

Gestützt wurde der Generalverdacht noch durch das Erscheinen der Protokolle der Weisen von Zion um die Jahrhundertwende, die bereits ihre Wirkung als weltverschwörerisches "jüdisches" Pamphlet gegen die "Ungläubigen" erzielt hatten, bevor sie als Fälschung enttarnt wurden.

Ihre Revitalisierung begleitet uns noch heute. "Pars-pro-toto"-Wahrnehmung und ein als "bewiesen" geltendes "Wissen" über "die Weltverschwörung" der Juden stilisierten diese zum Feindbild Nummer eins in einer Welt, in der die bürgerliche Ordnung durch die sogenannte Aufklärung, die Industrialisierung und nationale Einigungsbestrebungen aus den Fugen geraten war. Die Juden konnten so als die Verursacher ganz unterschiedlicher als negativ wahrgenommener gesellschaftlicher Entwicklungen ausgemacht werden.

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